Читать книгу Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen - Страница 4
Oktober 1960
ОглавлениеDie Vorhalle des Museums ist dunkel. Nanna kneift ihre Augen vor der Informationstafel zusammen, einen Katalog kann sie sich nicht leisten. Die ersten Monate in der Stadt haben sie gelehrt, daß Sonderausgaben auf ein Minimum reduziert werden müssen. Ein Windbeutel mit einem witzigen Namen in der Konditorei am Sonntag, wenn sie sich mit einer Freundin aus dem Sprachkurs trifft, ein Café crème in einem Bistro – das ist gerade noch drin. Wenn sie spart, kann sie sich vielleicht die blauen Schuhe kaufen, die sie in einem Schaufenster gesehen hat. Es ist für sie eine Ehrensache, mit dem wenigen Taschengeld zurechtzukommen, das ihr der Au-pair-Job einbringt.
Heute will sie sich nur auf einzelne Kunstwerke konzentrieren. Auf Dinge, die zu ihrem Gymnasiumwissen gehören und die sie gern im Original sehen möchte. Ein paar Postkarten will sie auch kaufen. Ihre beste Freundin Mette teilt mit ihr das Interesse für Kunst und soll ihren wöchentlichen Gruß bekommen, ein Ritual, das Nannas Gefühl der Verlassenheit in der fremden Stadt etwas dämpft. Daß Mettes Teil der Korrespondenz eher sporadisch ist, damit hat sie sich abgefunden.
Bei dem Gedanken an Mette muß sie vor sich hin lächeln. Mette, deren ungezügelter Kopf unter dem schwarzen Haar immer neue Anschläge auf Recht und Gesetz ausheckt, mit der alle Stile brechenden Sicherheit der finanziellen Oberklasse über alle Konventionen erhaben, eine permanente Herausforderung für Nannas eigene Tugendhaftigkeit. Sie und Nanna waren seit der ersten Klasse unzertrennlich, mit der Anziehungskraft der Gegensätze aneinander gebunden.
Mette verbringt das Jahr nach dem Abitur, indem sie sowenig wie möglich in der Konfektionsfirma ihres Vaters macht. Nannas Entschluß, für ein Jahr nach Paris zu gehen, hat eher einer Flucht geähnelt, weg von der Herzkrankheit ihres Vaters und den Jammertiraden ihrer Stiefmutter, einer Pause vor dem Jurastudium. Weg von dem vorgezeichneten Pfad, den Plänen ihres Vaters für sie.
Nanna hat ihre teuer erkaufte Freiheit in feste, nützliche Bahnen gelenkt. Sie absolviert ihren Französischkurs mit der Energie eines Bibers, legt an ihren freien Nachmittagen lange Wege zu den Sehenswürdigkeiten zurück. Auf dem Heimweg spendiert sie sich selbst ein Metrobillett, damit sie ausgeruht zurückkommt, sich ihre karierte Schürze umbinden kann und das Kind baden, Gemüse putzen und den Tisch decken, während Madame und Monsieur in dem eleganten Wohnzimmer sitzen und ihren Apéritif in kleinen, wohlerzogenen Schlückchen genießen.
Nanna verläßt die Informationstafel. Sie schaut sich nach jemandem um, den sie um Rat fragen kann, übt stumm eine Höflichkeitsfloskel. Da sieht sie die Statue. Die hohe Frauenfigur steht auf dem Treppenabsatz am anderen Ende der Halle, sie sammelt das gesamte Licht des Raumes in sich, das Licht strömt von ihrem Körper, von den Flügeln, erhebt sich von ihrem Rücken. Sie ist auf dem Weg nach oben, hinaus, hat sich an den Rand des Abgrunds gestellt, jetzt geht es ums Ganze, die hohe Brust ist siegessicher, die Flügel erheben sich brausend nach hinten.
Sie gehört in Nannas Schulbuchwelt, steht auf der Liste der Marmorfiguren, die Nanna sehen, vielleicht auch berühren will, wenn die Wärter sich lange genug abwenden.
Jetzt steht sie da, unerwartet, und Nanna muß aufschauen, geblendet. Es zuckt in ihrer Brust, und kurz darauf kann sie durch die Tränen, die ihre Augen füllen und ihr die Wangen hinunterlaufen, nichts mehr sehen. Sie wischt sie mit einem Finger weg, und plötzlich sieht sie ein Gesicht über dem gebrochenen Hals, dort, wo der Kopf des Sieges eigentlich sitzen sollte. Nannas eigenes Gesicht, strahlend in unbändigem Triumph.
Nanna beißt die Zähne zusammen. Die Einsamkeit macht sie hautlos, schon der Anblick eines Bettlers auf der Straße kann sie für einen ganzen Tag aus dem Gleichgewicht bringen, aber sie hat sich von Anfang an vorgenommen, in dieser Stadt nicht zu weinen. Sich zusammenzureißen, statt beim ersten freundlichen Wort den Gefühlen ihren Lauf zu lassen, wie sie es sonst tut. Wenn sie das übt, wird es schon gehen. Aber gerade jetzt kämpft sie vergeblich damit, die rinnenden Tränen aufzuhalten.
Sie weiß nicht, wie lange sie da schon steht, in ihrer Bewegung erstarrt, mit nassen Wangen, als ein stämmiger Mann in der Uniform des Museums sie am Arm berührt.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Mademoiselle?« Seine kleinen Knopfaugen gucken freundlich hinter einer Nickelbrille, sein Schnurrbart ist braun und struppig. »Wollen Sie sich einen Moment hinsetzen?«
»Nein, nein.« Nanna versucht den Mann anzulächeln, der mit seinem Daumen auf eine Bank zeigt. »Ich will jetzt lieber gehen.« Bis jetzt hat sie jeden direkten Kontakt mit Männern vermieden, sogar an öffentlichen Orten. So verwundbar, wie sie sich im Augenblick fühlt, möchte sie sich lieber nicht einer Freundlichkeit aussetzen, die noch mehr Tränen hervorrufen könnte.
Der Museumswärter zuckt mit den Schultern. »Wie Sie möchten«, sagt er und geht mit knirschenden Sohlen davon.
Nanna eilt zur Wand, holt den kleinen Spiegel aus ihrer Schultertasche. Ihre Nase glänzt rot unter den blassen Resten ihrer Sommersprossen, in den langen Wimpern um die Augen hängen noch Tropfen, die Augen selbst glänzen grün durch einen Feuchtigkeitsschleier. Sie holt ihr Taschentuch aus dem Reißverschlußfach der Handtasche heraus, tupft sich damit vorsichtig ab, um das Ganze nicht noch zu verschlimmern. Dann stopft sie den Spiegel wieder in die Tasche und geht zu den großen Schwingtüren.
Der Hauptverkehr hat bereits eingesetzt, als sie auf die Straße tritt. Sie eilt in dem verlöschenden Nachmittagslicht zum Metroeingang, wird mit der ganzen Schar eiliger Menschen, die auf dem Weg von der Arbeit oder ihren Einkäufen nach Hause sind, auf dem Weg zu den Bars der Vororte, zum Abendessen im Familienkreis, in den Treppenschacht hinuntergezogen.
Sie klammert sich mit beiden Händen an ihre kleine Schultertasche, die späten Nachmittagsstunden sind das Paradies der Taschendiebe. Das Sausen der grünen Wagenreihen schlägt ihr aus den gekachelten Bogengängen entgegen. Hier und da öffnet sich ein weiterer Gang, die Menschenmassen verteilen sich, rutschen, stolpern und drängen auf die Bahnsteige, schieben sich durch die automatischen Türen hinein in die Waggons, überall sind Ellbogen, Regenschirme, knisternde Regenmäntel, der Oktober dieses Jahr ist naß.
Nanna kneift die Nasenflügel zusammen, um sich gegen die Ausdünstungen der sich schiebenden Masse um sie herum zu schützen. Verdauter Knoblauch und ungewaschene Achseln, Pisse und Schweißfüße vermischen sich mit dem speziellen Aroma der Metro aus Ruß und verbrannter Schokolade. Sie kämpft darum, die Geräusche nicht an sich herankommen zu lassen, will mit dem Bild der Marmorfrau auf dem Treppenabsatz allein bleiben.
Ein quietschendes, stampfendes, Übelkeit erzeugendes Geräusch der Bahnbremsen unterbricht ihre Gedanken. Der Menschenstrom erstarrt plötzlich hinter ihr, und sie wird gegen ihren Willen nach vorn geschoben, auf den grünen Zug zu, der unter dem Bremsvorgang wie in Krämpfen zuckt. Direkt an der Bahnsteigkante bleibt sie mit schwindelndem Kopf stehen.
Unten auf den Gleisen liegt der Körper einer jungen Frau, ein Torso mit einem aufgedunsenen Bauch, Reste eines Mantels hängen an dem einen Arm, ein gebrochener Flügel, schwarze Wollfetzen bedecken die zerrissenen Brüste. Aus dem Hals der Frau wird das Blut in langen Zügen herausgepumpt, es spritzt auf die Gleise, tropft auf den schwarzbraunen Steinuntergrund, sammelt sich unter dem kopflosen Körper zu einer Pfütze.
Ein gemeinsamer Schrei schlägt gegen die Kacheln der Wände. Die Menschen wenden sich ab, drehen sich voller Panik um sich selbst, stoßen die neben ihnen Stehenden in ihrer wilden Flucht zum Ausgang hin um, weg von diesem Bild, von dem Geräusch des Zugs, der mühsam am Bahnsteig zum Halten kommt.
Nanna steht wie gelähmt mitten in dem aufgebrachten Menschenstrom, die Geräusche um sie herum erreichen sie nur durch einen wogenden Filter, sie beachtet die schubsenden, drängelnden Körper gar nicht, sie ist blind für alles außer der Frau auf den Gleisen vor ihren Füßen.
Der kuppelförmige, weiße Bauch. Der Nabel, der vorsteht, eine Blumenknospe auf einem hellbraunen Stiel. Die schwarzen Fetzen auf der Brust, Reste eines Trauerflors. Der aus dem Hals herauspumpende Blutstrahl.
Das Geräusch von Hunderten von Füßen verhallt unter dem Kachelgewölbe, wird in die Tunnel hineingesogen. Der Chor aufgeregter Stimmen klingt aus und verwandelt sich zu einem entfernten Echo.
Nanna zwinkert ein paarmal, versucht den Anblick des Körpers auf den Schienen wegzuzwinkern, ihn in einen Traum zu verwandeln. Aber das, was vor nur wenigen Augenblicken eine lebendige Frau war, ist jetzt zu einem Bild auf Nannas Netzhaut erstarrt, das nicht mehr entfernt werden kann.
Irgendwo über ihrem Kopf fährt ein Zug an einen Bahnsteig heran, das Geräusch erreicht sie, ein Donnern in weiter Ferne.
Sie will sich von dem Anblick des zerfetzten Körpers abwenden, kann es aber nicht, das Bild hält sie fest, dort, wo sie steht. Sie spürt, wie ihre Knie nachgeben, sie schwankt an der Bahnsteigkante, ist kurz davor, vornüber zu fallen.
Ein harter Griff um ihren Oberarm. Eine Stimme an ihrem Ohr.
»Attention!«
Jemand zieht sie mit einem festen Ruck von dem Rand weg. Sie folgt stolpernd, ihre Knie schlagen gegeneinander. Die Tasche rutscht ihr von der Schulter, fällt auf den Bahnsteig, der Verschluß öffnet sich, und ihr kleiner runder Spiegel rollt heraus, dreht sich ein paarmal und bleibt dann flach liegen.
Ganz. Heil.
»Setz dich hier hin.«
Es ist die Stimme eines Mannes, sie ist hell, eifrig. Nanna spürt einen Arm um ihre Schultern, eine Hand stützt ihren Rücken. Widerstandslos gleitet sie auf die schmutzigen Fliesen des Bahnsteigs, die Hand greift um ihren Nacken und beugt ihren Kopf nach vorn.
»Damit du nicht ohnmächtig wirst.«
Eine Hand sammelt ihre Tasche auf, schiebt den Spiegel hinein, gibt sie ihr.
Nanna hebt den Kopf. Ein Gesicht über ihr, breit und blond. Besorgte graublaue Augen, eine Falte zwischen den hellen Augenbrauen.
»Ça va?«
Nanna will nicken, aber das Signalsystem ihres Körpers funktioniert nicht, auch die Zunge gehorcht nicht. Sie schaut in die freundlichen Augen, hält den Blick fest. Spürt, wie der Mann neben ihr kniet, ein Paar Arme um ihren Oberkörper. Sie lehnt sich gegen eine rauhe Jacke, registriert einen leichten Geruch nach feuchter Wolle.
Dann fängt sie an zu zittern. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist und wohin sie wollte.
Die Zeit steht zwischen den Kachelwänden still.
Einige uniformierte Männer mit einer Bahre zwischen sich bleiben neben Nanna und ihrem Retter stehen.
»Der Bereich hier ist abgesperrt.«
Eine Hand erfaßt ihr Gesicht, beugt vorsichtig ihren Kopf nach hinten.
»Kannst du aufstehen?«
Unsicher geht sie am Arm des Mannes zum Ausgang. Die Tasche schaukelt an ihrem Ellbogen, der Verschluß ist offen.
»Könnten Sie meine Tasche zumachen«, flüstert sie. »Die Tasche.«
Ohne ihren Arm loszulassen, tut er, worum sie ihn gebeten hat. Hängt ihr die Tasche über die Schulter, sorgfältig. Sie spürt, daß er sie ansieht, aber sie muß sich darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen, die Treppenstufen vor sich zu meistern, ohne zu stolpern.
Die Straßenlaternen spiegeln sich in den Wasserpfützen, als sie endlich auf der Straße sind.
»Komm.«
Sie sind unter dem roten Schild eines bar-tabac stehengeblieben. Hinter der beschlagenen Scheibe leuchten freundlich die Lichter, durch den Regentropfenschleier kann Nanna die Umrisse von Menschen erkennen, die mit ihren Gläsern am Tresen sitzen oder stehen, an den kleinen Tischen, sie haben Zigaretten in den Mundwinkeln, sie sieht, wie ihre Lippen sich bewegen, die Hände gestikulieren, nichts ist passiert.
Zögernd folgt sie dem Mann. Sie hat keine Ahnung, wie spät es wohl ist, wahrscheinlich ist sie bereits über die Zeit. Sie weiß nicht, wo sie ist. Wie sie nach Hause kommen soll, weiß sie auch nicht.
Ein Taxi würde vermutlich ihr gesamtes Erspartes aufzehren, denkt sie und wird von einem Schuldgefühl wegen ihrer Kleinlichkeit erfaßt. Schließlich lebt sie noch, ihr Körper ist heil und warm, liegt nicht geköpft auf den Metrogleisen.
Der Mann hat von einem der runden Tische nahe am Fenster einen Stuhl herangezogen, fordert Nanna auf, sich zu setzen.
»Ich hole etwas zu trinken«, sagt er und verschwindet in der Menge.
Nanna sieht, wie er an der Bar steht. Er ist jünger, als sie zuerst gedacht hatte, nicht viel älter als sie selbst. Eine lange, blonde Gestalt, mit breitem Rücken in der dunkelblauen, wollenen Seemannsjacke, er sieht aus wie ein Seemann, mit dem sie einmal auf der Fähre nach Norwegen getanzt hat, sieht gar nicht französisch aus. Aber er hat mit ihr französisch gesprochen, ohne Akzent, soweit ihre ungeübten Ohren das beurteilen können.
Sie sieht, wie er am Tresen lehnt, mit dem Barkeeper redet, gestikuliert. Sie kann nicht hören, was er sagt, hat aber das Gefühl, daß er über sie spricht. Die gesamte Situation macht sie unsicher, aber ihre Beine sind so schwer und geleeartig, würden sie gar nicht tragen können, wenn sie fliehen wollte. Ihre Tasche hängt immer noch über ihrer Schulter, sie nimmt sie herunter und legt sie sich auf den Schoß, unter die Tischplatte.
Da spürt sie ihn neben sich, er stellt zwei Gläser auf den Tisch vor ihr, ein kleines mit einer braunen Flüssigkeit, ein großes, das anscheinend Wasser enthält.
»Trink das hier«, sagt er und zeigt auf das kleine Glas. »Das brauchst du.«
Der spiritusartige Geschmack billigen Cognacs erzeugt in ihrem ganzen Körper einen langgezogenen Schauder, plötzlich fühlt sie sich fieberheiß.
»Hier.«
Das Wasserglas, sie leert es in zwei Schlucken, dankbar, wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab. Ihr ganzes Gesicht fühlt sich feucht an, eine Mischung aus Regen, Schweiß und salzigen Tränen ist ihr in die Mundwinkel gelaufen, sie öffnet ihre Tasche und sucht das Taschentuch, wischt sich Wangen und Stirn ab. Das Taschentuch bekommt dunkelgraue Flecken, verlegen versteckt sie es in der Hand, blinzelt zu dem Mann hinüber, der eine Zigarette aus einer blauen Pappschachtel angezündet hat und sie durch eine Rauchwolke anlächelt.
»Ça va?«
Der Barkeeper in seinem weißen Hemd steht plötzlich an ihrem Tisch. Er betrachtet Nanna neugierig.
»Kein Wunder, daß Sie blaß sind, Mademoiselle«, sagt er mit einem freundlichen Grinsen. »Ihr Freund hat mir erzählt, was passiert ist, schrecklich.«
Die kleinen braunen Kaffeetassen landen auf der Marmorplatte. Der Wirt schiebt die Schale mit den eingepackten Zuckerstückchen näher heran, läßt sein Tuch über die Tischplatte huschen.
Vielleicht wartet er ja auf eine Antwort.
Das Bild des verletzten Körpers auf den Zuggleisen lauert die ganze Zeit am Rande von Nannas Blickfeld, sie muß kämpfen, daß es nicht näher kommt, damit sie nicht wieder zu zittern anfängt. Sie wirft dem Mann auf der anderen Seite des Tischs einen flehentlichen Blick zu.
Eine Hand streift ihre.
»Am besten, wir reden jetzt nicht mehr drüber«, seine Stimme klingt entschlossen. Eine Handvoll Münzen klirren auf den Tisch. »Wieviel?«
»Geht auf Rechnung des Hauses.« Der Wirt breitet großzügig seine Arme aus.
»Schließlich muß man nicht jeden Tag so etwas mit ansehen.«
Er wirft Nanna einen letzten Blick zu, sucht ihre Gesichtszüge nach unaussprechlichen Ängsten ab, zieht sich dann hinter seinen Tresen zurück. Er erzählt den Männern etwas, die ihre Aufmerksamkeit zwischen »L’Équipe« und ihrem Glas auf der Bar teilen, nickt in Nannas Richtung. Augen richten sich auf sie, und sie spürt die Hitze in den Wangen, guckt in ihre Kaffeetasse, in der der Schaum einen spiralförmigen Wirbel bildet.
Der Kaffeeduft läßt ihren Magen zucken. Vielleicht kann der kräftige Geschmack ihre Sinne sammeln, die immer noch um sie herumflattern, unberechenbar wie Fledermäuse. Sie verbrennt sich die Zunge an der heißen Flüssigkeit, die Tasse klappert in ihrer zitternden Hand, als sie sie wieder abstellt.
»Geht’s jetzt besser?«
Nanna schaut in die hellen Augen, nickt.
»Ich denke schon.«
»Du bist keine Französin. Da war irgendwas an dir, an deiner Kleidung. Und jetzt kann ich es hören.«
Das Gesicht über ihr erstrahlt, in den Augen ist etwas unverstellt Kindliches, gegen das sie sich nicht verteidigen muß.
»Dänin«, murmelt Nanna. »Ich bin Dänin.«
»Eine Wikingerin.« Die Augen des Mannes lächeln. »Wie ich.« Er lehnt sich auf seinem Holzstuhl zurück, sieht plötzlich stolz aus. »Ich komme aus der Bretagne«, fügt er hinzu, als würde das alles erklären.
Nanna weiß nicht, was sie zu dieser Information sagen soll. Die Bretagne sagt ihr nichts, nur ein Klumpen auf der Landkarte, im äußersten Westen, das ist alles.
»Finistère«, erklärt er weiter. »Das Ende der Welt. Warst du schon einmal da?«
Nanna schüttelt den Kopf.
»Ich bin das erste Mal in Frankreich.«
»Au pair?« Der Mann leert seine Kaffeetasse, greift mit der Hand nach dem Cognacglas. »Willst du den Rest?«
Als sie verneint, nimmt er das Glas, kippt den Inhalt in einem Schluck hinunter. Der Alkoholschauder läßt ihn den Kopf schütteln.
Die elektrische Uhr über dem Bartresen zeigt auf halb sieben, sie hätte schon vor einer halben Stunde zu Hause sein sollen. Der Gedanke an die Familie, die auf sie wartet, Madames hochgezogene Augenbrauen, Monsieurs gereiztes Brummen, das kleine, ernste Kindergesicht, das sich nur durch den Anblick von Nanna zu einem Lächeln auflöst, ihre Pflichten. All das, was sie nach Punkt und Komma erfüllen will, meldet sich mit nicht abweisbarer Kraft. Sie kann keinen Moment länger hier sitzen bleiben.
Sie schiebt den Stuhl nach hinten.
»Ich muß jetzt gehen«, sagt sie. »Vielen Dank.«
Sie zwängt sich zwischen den Tischen zum Ausgang hin, preßt die Tasche mit beiden Händen gegen den Bauch. Die Leute rücken ihren Stuhl zur Seite, ohne ihre Gespräche zu unterbrechen, lassen sie vorbei. Unsicher auf gummiweichen Beinen bahnt sie sich durch den Lärm der Stimmen und das elektrische Scheppern der Spielautomaten ihren Weg zur Tür, der Zigarettenrauch beißt ihr in der Nase.
Draußen auf der Straße ist der Regen stärker geworden, das Wasser platscht auf den Fußweg und fließt im Rinnstein, die Reifen der Autos durchpflügen die Wasserpfützen wie Schnellboote, ziehen Spritzfontänen hinter sich her.
Nanna sieht sich um. Der Metroeingang liegt nur wenige Meter entfernt, aber es ist nicht anzunehmen, daß bereits wieder eine Bahn in ihre Richtung fährt. Ein Taxi setzt ein Stück entfernt einen Mann und eine Frau ab, sie macht auf unsicheren Beinen ein paar Laufschritte, winkt mit den Armen, aber der Taxichauffeur hat bereits sein Schild eingeschaltet und fährt unter strömendem Regen vom Bürgersteig weg.
Eine Hand auf ihrer Schulter.
»Wo bist du denn geblieben?«
Nanna dreht sich um. Die hohe Gestalt zeichnet sich gegen das aquariumhafte Licht der Barfenster als Silhouette ab, das blonde Haar klebt ölig an der Stirn, auf der sich wieder die Sorgenfalte zeigt.
»Ich muß nach Hause.« Nanna sucht nach den Worten. »Ich werde erwartet, ich muß mich um ein kleines Mädchen kümmern.«
»Wo wohnst du denn?«
»In Marais.«
Nanna ist kurz vorm Weinen. Es wird sie mindestens eine halbe Stunde kosten, nach Hause zu gehen.
»Kannst du nicht anrufen?«
Bis jetzt hat sie sich noch nicht getraut, ein öffentliches Telefon zu benutzen, das komplizierte System mit den Jetons hat sie abgeschreckt. Außerdem fällt es ihr schwerer, die Sprache zu verstehen, wenn die Worte für sich stehen, ohne Mimik und Gestik. Und jetzt hat sie auch noch die Telefonnummer vergessen. Sie schüttelt den Kopf, seine Stirnfalte erzeugt bei ihr ein schlechtes Gewissen wegen ihrer eigenen Hilflosigkeit.
Eine Träne sucht sich ihren Weg aus ihrem Augenwinkel heraus, vermischt sich mit dem Regen auf ihren Wangen.
»Ich muß gehen«, sagt sie und schaut sich um, versucht sich zwischen den brausenden Autos und den funkelnden Lichtern zu orientieren.
»Ich bringe dich.« Er ergreift ihren Arm und dirigiert sie zur Straßenecke, plötzlich erkennt sie den Platz wieder, weiß, wohin sie gehen muß. »Wir können ja versuchen, unterwegs ein Taxi zu erwischen.«
Ihre Zunge spielt nicht mit, als sie protestieren will. Ohne Widerstand läßt sie sich durch die Menschen führen, die unter ihren aufgespannten Schirmen dahineilen.
Der Regen läuft ihr in Bächen unter den Kragen ihres Mantels, das helle Leder ihrer norwegischen Slipper ist gefleckt von der Feuchtigkeit. Sie fühlt sich wie ein Bauerntrampel, einen halben Kopf größer als die zarten Frauen in dünnen Schuhen und hellen Strümpfen, die um die Wasserpfützen auf dem Fußweg herumtrippeln, elegant und wundersamerweise trocken in ihren prinzeßförmigen Mänteln.
Der Mann an ihrer Seite passt in der Größe zu ihr. Der Gedanke kommt ihr, ohne daß sie es will. Seine Ausstrahlung ist trotz seiner Größe unschuldig wie aus einem Bilderbuch, Hänschen im Blaubeerwald. Sie beschließt, daß sie vor ihm keine Angst haben muß. Außerdem ist sie sowieso viel zu erschöpft, um ihn jetzt abzuweisen.
Auf eine sonderbare Weise verleihen ihr die Erlebnisse des Tages ein Gefühl der Unverwundbarkeit. Sie hat das Schönste und das Schlimmste heute erlebt, mehr kann ihr nicht geschehen. Sie ist behütet wie ein Mensch, der Gott gesehen hat, denkt sie und weiß nicht, woher dieser Gedanke kommt.
Schweigend trotten sie durch den Regen. Nanna versucht die Luft tief in ihre Lunge hineinzuziehen, sie sehnt sich nach frischem Sauerstoff, aber die Luft ist gesättigt von dem Geruch nach verrotteten Blättern, nach den beißenden Auspuffgasen der Autos, dem warmen Dunst aus den Entlüftungskanälen der Metro.
Der Mann hat sich den Kragen hochgeschlagen, er beugt sich unter den schweren Tropfen nach vorn, wischt sich ab und zu mit dem Ärmel über die Stirn und lächelt Nanna zu. Sie bemerkt, wie er seine Schritte den ihren anpaßt. Eine Hand umfaßt ihren Ellbogen, wenn sie eine Straße überqueren, der lange Körper beschützt sie gegen die Spritzer der vorbeifahrenden Autos. Ihre Schulliebschaften, die kaum jünger als der Mann an ihrer Seite waren, sprangen immer um sie herum, tolpatschige Hundewelpen, sie hatte ihre schmale Hand in ihre feuchten Pfoten gelegt, mußte ihre eigenen und deren Schritte lenken, um ein Stolpern oder einen Zusammenstoß zu vermeiden. Diese blonde Gestalt an ihrer Seite bewegt sich mit ihr, sicher, wie ein guter Tänzer.
Der Strom der Autos ist endlos, die wenigen Taxis, die sie entdecken, haben Passagiere auf den Rücksitzen, schließlich geben sie es beide auf, sich umzuschauen und nach einem Taxi zu suchen, sie wandern einfach in dem strömenden Regen voran.
Endlich erkennt sie die Bar an ihrer Straßenecke, bleibt einen Moment unschlüssig stehen.
»Hier wohne ich«, sagt sie, streckt die Hand zum Abschied aus, zögert.
Die Einsamkeit öffnet sich vor ihr, ein sie herabziehender Abgrund. Das, was auf dem fernen Metrobahnsteig geschehen ist, das, was sie nur mit dem Mann geteilt hat, der vor ihr steht, wird sonst niemand verstehen können.
Ihre Blicke treffen sich.
»Ich heiße Yann.« Er behält ihre Hand für einen Augenblick in seiner. »Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.«
»Ja, ja«, am liebsten würde sie vor lauter Dankbarkeit laut schreien, »aber ich muß jetzt gehen.«
»In einer Woche, zur gleichen Zeit? Hier?«
»Um zwei Uhr.«
Sie entzieht ihm ihre Hand, läuft die letzten Schritte zum Tor, drückt auf den Knopf.
Als sie sich umdreht, um ihm noch einmal zuzuwinken, ist er bereits im Regen verschwunden.
»Also! Kommen Sie jetzt zum Empfang mit?« Monsieur hat einen Apfel geschält, die gelbe Schale liegt, in einem Stück und spiralförmig, auf seinem Teller. »Antworten Sie doch!« fährt er in ungeduldigem Ton fort, bevor seine Frau auch nur den Mund öffnen kann.
Nanna guckt heimlich auf ihre Uhr. Den ganzen Vormittag über hat ihr Körper leicht gezittert, wie vor einer Prüfung. Jetzt sitzt sie mit am Mittagstisch der Familie, der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit ist auf Monsieur gerichtet, dessen umständliche Essensrituale ihren zähen Gang nehmen. Ihr ganzes Streben ist darauf ausgerichtet, daß er doch endlich aufessen und wieder in seinem Büro verschwinden soll, damit sie den Abwasch hinter sich bringen und kurz vor zwei Uhr auf ihrem Posten unten auf der Straße sein kann.
In der Zwischenzeit füttert sie Mariclô mit Backpflaumenkompott. Das kleine Mädchen ist eigentlich alt genug, um allein zu essen, aber verschüttetes Essen und umgekippte Gläser würden unweigerlich eine Verspätung bedeuten und die schlechte Laune am Tisch noch steigern, und Nanna hat gelernt, es nicht darauf ankommen zu lassen. Der förmliche Ton zwischen den Eheleuten überdeckt nur eine lauernde Wut, die jeden Augenblick in einen scharfen Disput umschlagen kann.
Der Löffel in Nannas Hand zittert. Ein brauner Tropfen fällt auf die weiße Tischdecke, sie verdeckt ihn mit der Serviette. Unruhig späht sie zu Madame, die mit einem beleidigten Ausdruck in dem sorgfältig geschminkten Gesicht eine reife Birne in kleine Häppchen schneidet.
Madame wollte schon nach ihrem freien Nachmittag schnappen. Normalerweise ist Nanna bereit, sich anzupassen, aber heute hat sie nein gesagt, mit roten Wangen, ohne eine weitere Erklärung zu geben.
Sie weiß nicht, ob sie die kritischen Bemerkungen von Monsieur ertragen wird.
»Wenn Sie daran interessiert sind, daß ich Marie-Clothilde mitschleppe, ja, gern. Ist es das, was ich antworten soll?«
Madame balanciert mit der Gabel ein Stück Birne in den Mund, kaut mit verkniffenen, blaßrosa Lippen.
Der Teller mit dem Käse steht vor Nanna, sie starrt auf den dreieckigen Brie, dessen cremegelber Inhalt eine dickflüssige Zunge auf dem blaugemusterten Porzellan bildet.
»Wir bezahlen für eine Putzfrau, wir bezahlen ein Kindermädchen, und meine Frau kann mich nicht zu einem Empfang begleiten. Entschuldigen Sie bitte, aber da stimmt doch etwas nicht.«
Der kleine, bürstenförmige Schnurrbart zittert vor Ungeduld, die Glatze glänzt ölig. Er ist zwanzig Jahre älter als seine Frau, und die späte Ankunft eines kleinen Kindes in seinem Leben hat in keiner Weise seine Gewohnheiten verändern können, hat ihn nur noch fordernder, noch ungeduldiger werden lassen.
Nanna fürchtet seine Sarkasmen, die zu der Sorte gehören, die sie von ihrem Vater kennt. Sie beugt den Kopf vor dem, was kommen muß.
»Habe ich das richtig verstanden?« Er hat sich Nanna zugewandt, »daß Mademoiselle nicht gewillt ist, ein paar Stunden ihrer Freizeit zu opfern, um uns einen Gefallen zu tun?«
Mariclô, deren seismographische Sensibilität hinsichtlich Stimmungsumschwüngen im Umkreis ihrer kleinen Person oft zu heftigen Ausschlägen führt, rutscht auf ihrem Stuhl hin und her.
»Sitz still.«
Das Geräusch der harten Landung einer Gabel auf dem Dessertteller. Madames schmale Finger mit den tadellos lackierten Nägeln umklammern den dünnen Arm ihrer Tochter.
Das Erbrechen kommt wie eine Explosion. Der kleine Mund des Kindes ist ganz viereckig vor erschrockenem Weinen, es streckt die Arme von sich, der bestickte Pullover ist von einer schleimigen braunen Flüssigkeit getränkt.
»Marie-Clothilde, quand-même!«
Ekel verwandelt Madames konventionell hübsches Gesicht zu einer zitternden Fratze.
Nanna weiß, das Spiel ist verloren. In so einer Situation Mariclô ihrer Mutter zu überlassen, das bringt sie nicht übers Herz.
»Ich nehme sie.«
»Den ganzen Nachmittag?«
Nanna wischt ihre Handflächen in ihrer Serviette ab, hebt das weinende Mädchen aus dem Stuhl.
»Den ganzen Nachmittag«, sagt sie kurz.
Es ist genau zwei Uhr, als Nanna die Karre aus dem schweren Tor schiebt.
Er hat die Hände in die Taschen seiner blauen Seemannsjacke gestopft, sieht nicht so breitschultrig aus, wie sie es in Erinnerung hat. Aber trotzdem erkennt sie ihn sofort wieder.
Sein Anblick läßt sie kurz innehalten. Das Bild der verunglückten Frau, das in der letzten Woche jede Nacht ihre Träume verdorben hat, taucht vor ihrem inneren Blick auf.
Vielleicht war es keine gute Idee, ihn wiederzutreffen, vielleicht wird all das dadurch wieder aufgerissen, was sie am liebsten vergessen würde. Aber jetzt ist es zu spät zu bereuen, er hat sie bereits gesehen und hebt die Hand zum Gruß.
Der Wind weht ihm das Haar aus der Stirn, als er die Straße überquert.
»Bonjour.«
Seine Hand ist warm und groß, die Handfläche fühlt sich unerwartet weich an.
»Ich mußte sie mitnehmen.« Nanna nickt zu Mariclô, die ihr kleines Gesichtchen dem fremden Mann zudreht und die Augen zukneift. »Vielleicht können wir zur Place des Vosges gehen, da spielt sie immer.«
»Pourqoui pas?« Er nickt dem Kind zu, hockt sich neben sie. »Ich heiße Yann«, sagt er.
Das kleine Mädchen nickt mit ernster Miene.
»Yann«, sagt sie, und der Schatten eines Lächelns huscht über ihre Augen.
»Darf ich raten, wie du heißt? Martine, Marie, Michèle, Monique, Denise, Danielle, Nicole, Claire, Colette, Jeannine, Aurore, Alberte, Adèle?«
Er leiert die Namen herunter, ein geschäftiger Auktionator, und Mariclôs Stirn runzelt sich vor Anstrengung, ihm zu folgen. Yann macht eine Pause, um nach Luft zu schnappen.
»Jetzt weiß ich es. Du heißt natürlich Anaïs«, sagt er und piekst sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe.
»Neihein.« Das kleine Gesicht strahlt plötzlich vor Freude, wie Nanna es nur selten gesehen hat. »Mariclô heiße ich.«
»Und wie heißt diese junge Dame?« Yann nickt zu Nanna. »Könnte sie wohl Beatrice heißen?«
»Das ist doch Nanna.«
»Ach, natürlich. Bonjour, Nanna.« Er lächelt Nanna zu. »Wollen wir gehen?«
Die Anlage ist fast menschenleer. Eine alte Dame, deren birnenförmigem Gesicht Nanna meistens zunickt, schaut mißtrauisch von ihrer Bank auf, als der kleine Zug an ihr vorbeidefiliert. Ein Junge braust auf einem Fahrrad mit Stützrädern an ihnen vorbei, ruft Mariclô zu sich, als Nanna sie aus dem Wagen hebt. Der klassisch elegante Platz verfügt nicht über etwas so Profanes wie eine Sandkiste, und die Kleinkinder des Viertels behelfen sich so gut sie können mit Rollern und Rädern, kratzen mit ihren kleinen Schaufeln im Kies der Wege, stellen sich auf die Zehenspitzen und planschen mit einem Stock in den immerwährend plätschernden Fontänen.
»Soll ich fragen, ob du Bernards Rad ausleihen darfst?« Nanna winkt dem Kindermädchen des Jungen zu, einer rothaarigen Holländerin, die mit ihrem Strickzeug ein paar Meter entfernt sitzt.
Mariclô trippelt artig an Nannas Hand davon, setzt sich höflich abwartend neben das andere Kindermädchen.
»Du bist nicht allein?« Das Kindermädchen zwinkert Nanna zu. »Laß nur, ich werde schon auf sie aufpassen.«
Nannas Wangen werden heiß. Sie weiß nicht, wie sie erklären soll, daß das Treffen mit Yann kein Stelldichein ist, ohne sich in komplizierte Erklärungen zu verwickeln.
»Danke«, sagt sie nur kurz.
Die goldene Oktobersonne steht hoch zwischen den roten Häusern, Yann hat sich auf einer der Doppelbänke niedergelassen, er hat sich eine Zigarette angezündet, beschattet seine Augen mit der Hand, als sie zurückkommt.
Nanna setzt sich, in sicherem Abstand zu seinem kräftigen Körper, steckt die Hände in die Taschen ihrer Wildlederjacke, macht sich so schmal wie möglich.
Sie sitzen eine Weile schweigend da. Nannas Fuß zeichnet ein Muster in den Kies, einen Kreis, einen Strich, etwas, das aussieht wie ein Schmetterling.
»Was machst du in Paris?« fragt sie schließlich, um überhaupt etwas zu sagen. »So weit weg vom Ende der Welt.«
Sein Lachen ist hell und fröhlich, das Lachen eines Jungen.
»Du erinnerst dich daran? Auf dem Weg hierher habe ich befürchtet, daß du viel zu schockiert gewesen bist, um dich überhaupt noch an mich zu erinnern.«
Nanna schüttelt den Kopf.
»Ich erinnere mich gut an dich«, murmelt sie.
»Ich arbeite im Restaurant meines Onkels.« Yann nimmt einen letzten Zug aus seiner Zigarette, zertritt die Kippe mit seiner Ferse. »Wir haben zu Hause ein Hotel, es ist geplant, daß ich das einmal übernehmen soll.«
Sein Gesichtsausdruck läßt sie stutzen.
»Hast du keine Lust dazu?«
»Das ist gar nicht die Frage.«
Er holt seine Brieftasche aus der Innentasche hervor, öffnet sie.
Auf dem Foto steht er vor einem weißen Gebäude, seine Arme ruhen auf den Schultern zweier Frauen.
»Die Frauen in meinem Leben.«
Nanna betrachtet neugierig die Frauen auf dem Foto. Das Lächeln auf dem Gesicht der einen unter dem zurückgekämmten Haar ist eine aufgesetzte Maske, die Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen, die der von Yann ähnelt, hat sich für immer eingegraben. Die kleine alte Frau auf seiner anderen Seite sieht mit ihrem sonderbaren Kopfschmuck aus weißen Spitzen aus, als wäre sie einem Gemälde entsprungen.
»Meine Mutter und mémé, meine Großmutter«, Yann zeigt auf letztere. »Sie braucht jeden Morgen zwanzig Minuten, um ihr coiffe aufzusetzen. Aber du brauchst gar nicht erst zu versuchen, sie zu überreden, es doch wegzulassen.«
»Sie sieht hübsch aus.«
»Sie ist der störrischste Mensch auf der Welt. Mein Großvater ist im Ersten Weltkrieg verschollen, und als sie seinen Namen auf das Denkmal für die Gefallenen schreiben wollten, hat Mémé gesagt: ›Wer behauptet, daß er gefallen ist? Verschollen für Frankreich, schreibt das hin!‹ Sie wartet heute noch auf ihn.«
»Und was ist mit deinem Vater?«
»Er ist gestorben, als ich klein war.«
Ein Schatten huscht über sein Gesicht, er schiebt ihn mit einem Lächeln weg. »Ich bin mit starrsinnigen Frauen aufgewachsen!«
»Nanna! Guck mal!«
Der Junge hat Mariclô sein Rad überlassen, jetzt braust sie jubelnd davon, den Kopf zwischen den Schultern, ihr kleines Gesicht ist rosarot vor Anstrengung.
Nanna klatscht in die Hände, ruft dem Kind zu:
»Bravo, Mariclô!«
»Du magst Kinder gern«, stellt Yann fest. »Ich auch.«
»Ich freue mich so, wenn sie sich mal etwas zutraut.« Nanna hat diesen Gedanken vorher nie bewußt gehabt, aber plötzlich weiß sie, daß es stimmt.
»Sie erinnert mich an mich selbst früher.«
»Wieso?«
»Keine Geschwister und schrecklich ängstlich.«
Sie begreift nicht, wieso sie diesem Mann, den sie doch kaum kennt, ihre geheimsten Gedanken anvertraut, merkt nur, daß es ihr ganz natürlich erscheint.
Ein Schrei zerreißt die Luft unter den gelben Fingern der Kastanien, Mariclô liegt kopfüber vor dem umgekippten Rad, der Junge steht ein paar Schritte entfernt und schaut betreten drein.
Yann ist mit drei Schritten bei ihr, schiebt das fremde Kindermädchen zur Seite.
»Ça va, ma petite?«
Er hebt vorsichtig das weinende Kind hoch und wiegt es in seinen Armen, bis es aufhört zu weinen.
Nanna sieht ihn an. Sie hört das plätschernde Geräusch von den Fontänen, das Brausen der Autos in weiter Ferne, den spröden Klang einer Kirchenglocke irgendwo in der Nähe und weiß, daß etwas Tiefes in ihr, ein Gefühl, das ihr ganzes Leben lang heimatlos war, endlich seinen Platz gefunden hat.