Читать книгу Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen - Страница 6

April – Mai 1961

Оглавление

Das zerbeulte Auto von Yanns Mutter klappert fürchterlich auf der holprigen Landstraße. Das schöne Frühlingswetter aus Paris ist irgendwo unterwegs verschwunden, im Westen türmen sich Wolken übereinander. Die Luft draußen auf dem Bahnhof war beißend kalt, sie mußten zu dem Auto auf dem Parkplatz laufen, um den nächsten Regenschauer zu vermeiden.

Die Mutter fährt ihr altes Auto mit routinierten Bewegungen, sie hat eine Zigarette im Mund, kneift die Augen gegen den Rauch zusammen. Seit sie Nanna auf dem Bahnsteig die Hand gegeben hat, hat sie ununterbrochen geredet, und zwar nur mit Yann, der auf dem Beifahrersitz neben ihr sitzt. Ihre Stimme hat einen wohltönenden Klang, die Worte trippeln in klaren, ordentlichen Reihen von ihren Lippen.

Nannas schmaler Körper zittert leicht, sie ist müde von der Bahnfahrt, in Abwehrposition. Der Redeschwall der Mutter und Yanns Kommentare sind so schnell, so einvernehmlich, daß sie es aufgegeben hat, ihnen zu folgen. Statt dessen versucht sie sich auf die Landschaft zu konzentrieren, die vor den klappernden Autofenstern vorbeisaust, weißgekalkte Häuser mit eigenartigen Schornsteingiebeln, Bäume mit runden grünen Gewächsen daran, zerfranste Riesenbälle.

Yanns Mutter zieht an der Revolverschaltung, die einer primitiven Handwaffe ähnelt, und der Motor heult unheilschwanger auf. Es klingt, als könnten die losen Teile des Wagens jeden Moment aus ihren Verankerungen aus Schrauben und Muttern herausfliegen. Die Fahrt, verbunden mit dem überwältigenden Gefühl, an einer Prüfung teilzunehmen, deren Inhalt sie nicht kennt, bereitet Nanna Bauchschmerzen.

»Nicht wahr, Nanna?«

Yann dreht sich halb zu ihr um, sieht sie auffordernd an.

»Doch«, sagt sie auf gut Glück, »ich denke schon.«

Yann runzelt die Stirn.

»Hörst du nicht zu?« fragt er. Sie spürt, daß auch er angespannt ist, will, daß sie richtig antwortet, ihm zuliebe. »Mutter fragt, ob du bei einer Familie arbeitest.«

Die leichte Spur von Schärfe in seiner Stimme bringt Nanna dazu, sich aufzurichten.

»Entschuldigung«, sagt sie und rutscht auf die Vorderkante des ausgesessenen Rücksitzes, eifrig bemüht, ihr Bestes zu geben.

»Doch, ja, das tue ich.«

Der Blick der Augen, graublau wie Yanns, der ihr im Rückspiegel begegnet, ist weder freundlich noch feindlich. Ein diskret gemalter Strich markiert den Rand der Augenlider, die Brauen sind gebogen, sie sehen gezupft aus. Ein ebenso diskreter Strich verlängert sie um eine Spur, hin zu den hellen Haaren der Schläfen, die in einer strengen Frisur nach hinten gekämmt sind. Die Stirn zeigt Yanns Sorgenfalte, aber das Gesicht ist schmaler als seins, die Nase lang und fein.

Nanna beugt sich vor, bereit für neue Fragen. Aber die Mutter hat sie bereits aus dem Blick entlassen und nimmt das unterbrochene Gespräch mit ihrem Sohn wieder auf, Nanna existiert nicht mehr.

Nanna hat sich vor dem Besuch bei dieser Frau lange Zeit gefürchtet. Jetzt ist sie mittendrin.

Sie lehnt sich wieder auf dem unbequemen Sitz zurück, zupft an ihrem hellgrauen Flanellrock, der ihr über die Knie hochgerutscht ist. Ihre Kleidung ist unauffällig, die meerblaue Cardiganjacke und die kleinen Perlenohrringe, ein Geschenk ihres Vaters, sind so klassisch, daß sie überall dazupassen. So sehr sie auch die Tricks und raffinierten modischen Details der Pariser Mädchen studiert hat, kehrt sie doch immer wieder zu dem sicheren, klassischen Look zurück, den sie von zu Hause mitgebracht hat. Chic ist sie nicht.

Sie hat Yann mit Fragen über Kleidung und Gewohnheiten gelöchert, jedes seiner Worte auf der Goldwaage ihrer Ängste abgewogen. Alles an ihr wird begutachtet werden, darüber war sie sich nur zu klar, begutachtet, bewertet und kommentiert von allen, die sie in den kommenden Tagen kennenlernen wird. Der Gedanke verschlägt ihr den Atem.

Die Landschaft vor den Autofenstern verändert sich. Die Bäume werden immer spärlicher und kleiner, biegen sich leicht Richtung Osten. Die hellgrünen Felder werden abgelöst von ebenen Wiesen mit kurzem, trockenem Gras, blaßgrau wie Zementstaub in dem scharfen Licht. Der Wolkenberg vor ihnen ist aufgerissen, er läßt schräge Sonnenstrahlen hindurch, wie ein starker Projektor. Ein Vogelschwarm flattert davon, zerschnittene Silhouetten in dem starken Wind.

Durch die Windschutzscheibe entdeckt Nanna etwas, das zunächst aussieht wie eine Schneewehe im Frühling, Weiß unter Grau. Die Wehe wird zu einer kleinen Stadt, deren weiße Häuser unter den dunklen Schieferdächern strahlend frisch gekalkt sind.

Ein Aufblitzen von Quecksilber zwischen zwei Reihen niedriger Häuser, und Nanna kann ein Gefühl von Wasser und Licht erhaschen, das in einem blendenden Brennpunkt irgendwo hinten am Horizont zusammentrifft.

Yann hat seine Hand auf die seiner Mutter auf dem runden Knauf der Schaltung gelegt.

»Es kommt rein.«

Sein Ton ist sonderbar feierlich, seine Augen glänzen, als er Nanna sein Gesicht zuwendet.

»Willkommen am Meer«, sagt er.

Das Auto hat vor einem massiven, weißgekalkten Gebäude mit drei Stockwerken angehalten, dem einzigen höheren Haus hier, das Nanna in der Reihe der niedrigen, aneinandergebauten Häuser sehen kann.

Auf der Mauer über dem Eingangsbereich ist der Name mit schwarzen Buchstaben aufgemalt. Hôtel du Port, Hafenhotel. Und ganz richtig liegt der Hafen auch nur wenige Meter entfernt hinter einem mit Steinplatten belegten Fußweg und einer niedrigen Mauer.

»Hol mal tief Luft.«

Yann steht bereits hinter dem Auto mit Nannas kleinem, weißem Koffer und seiner eigenen Tasche in den Händen und dreht das Gesicht dem feuchten Wind entgegen.

Gehorsam atmet sie die salzige Luft tief ein, gerät für einen Moment außer Atem. Es ist etwas von Yanns Duft in der Luft, am liebsten würde sie jetzt einfach nur seine Hand nehmen und ihr Gesicht an seinem Hals verstecken, traut sich das aber unter den Blicken der Mutter nicht. Später, wenn sie allein sein werden, will sie ihm erzählen, daß er es ist, den sie in diesem Duft liebt. Daß sie das Meer durch ihn lieben will. Jetzt begnügt sie sich damit, eifrig zu nicken und höflich der Mutter zuzulächeln, die bereits mit der Hand auf der Türklinke wartend vor dem Haus steht.

»Salut, les gars!«

Die Taschen landen hart auf den Steinen. Ein paar junge Männer sind hinter einem weißgekalkten Geräteschuppen an einer Seite der Mole aufgetaucht. Yann läuft in vollem Galopp auf sie zu, umarmt sie, läßt sich unter Jubelgeschrei in den Rücken boxen, mit einemmal übermütig, ein kleiner Junge.

Nanna dreht sich ratlos um.

»Laß uns reingehen.« Die Mutter zuckt mit den Schultern. »Das kann eine Weile dauern.«

Nanna schaut die Gruppe an, die vor Wiedersehensfreude überschäumt.

»Wer sind sie?« fragt sie vorsichtig.

»Die Ritter.« Mutters Nase verzieht sich ein wenig, das könnte ein Lächeln sein.

»Die Ritter?«

Hinten am Schuppen tanzen Yann und die beiden anderen wie Hundewelpen umeinander. Der eine ist eine dunkelhaarige Ausgabe von Yann, groß und kantig, der andere ist nicht einmal so groß wie sie selbst, aber viel breiter, sein Haar ist unter einer blauen Mütze versteckt, eine Nickelbrille blinkt im Licht.

»Yanns Freunde.«

Die Mutter ergreift das Gepäck, ignoriert Nannas Versuch, den eigenen Koffer zu nehmen, schiebt die Tür mit dem Ellbogen auf.

Nanna folgt ihr zögernd. Das blaugrüne Wollkostüm sitzt perfekt auf dem jugendlichen Körper, sie ist kleiner als Nanna und ebenso zart. Die Beine in den schwarzen Pumps sind schlank, die Strümpfe golden. Die gutsitzende Hemdbluse ist in gelben Schattierungen gestreift, die Zusammenstellung ist frecher als alles, was Nanna sich jemals trauen würde, paßt aber perfekt zu dem blonden Haar der Mutter.

Im Schein der Leuchtstoffröhre des kleinen Empfangs hat das Gesicht der Mutter etwas Durchscheinendes, die Schatten unter den Augen sind blau, verwelkte Veilchen. Die Müdigkeit, die Nanna unter der unerschütterlichen Tatkraft der älteren Frau erahnt, macht sie weniger angsteinflößend, dafür aber um so unnahbarer.

Nanna fummelt mit tolpatschigen Fingern an dem Verschluß ihrer blauen Tasche. In der Tasche liegt eine kleine Schachtel mit teurer Schokolade, eigentlich viel zu exklusiv für ihr Portemonnaie. Aber sie wollte nicht mit leeren Händen kommen, hat Yann um Rat gefragt und ist danach von einem Spezialgeschäft in der Rue de Rivoli zum anderen gelaufen, um das Richtige zu finden. Aber jetzt ist sie sich nicht sicher, wann und wie sie die Schachtel überreichen soll, sie fühlt sich ohne Yann am falschen Ort und verlassen.

Die Mutter hat bereits einen Schlüssel mit einem Metallschild von einem Schlüsselbrett hinter einem kleinen Tresen geholt.

»Hier entlang«, sagt sie, ohne sich umzudrehen.

Der rote Teppich auf der Treppe ist von vielen Füßen abgetreten, die schwarze Farbe an den Metallstreben des Geländers ist abgeblättert, das Holz fühlt sich unter Nannas Hand fettig an, sie läßt den Handlauf los, möchte sich am liebsten die Hände waschen.

»Wie alt ist das Hotel?« fragt sie höflich.

»Yanns Urgroßvater hat es gebaut, seitdem ist es ein paarmal erweitert worden.«

Die Mutter hat eine weißgestrichene Tür geöffnet.

»Ihr Zimmer.« Sie nickt zum Ende des dunklen Korridors. »Bad und WC sind unten am Ende des Flurs.«

Mit einer professionellen, schwungvollen Bewegung hebt sie den weißen Koffer auf einen kleinen Hocker hinter der Tür, wirft noch einen Kontrollblick ins Zimmer, das hinter den halb geöffneten Fensterläden im Dunkeln liegt. Streift mit der Hand im Vorbeigehen eine Schranktür, die mit einem leisen Seufzer ins Schloß fällt.

»Das Essen gibt es in zwanzig Minuten.« In der Türöffnung stehend beschreibt sie den Weg, ohne Nanna anzusehen: »Durchs Restaurant, dann links.«

Einen Moment später ist sie den engen Flur entlang verschwunden. Nanna hört ihre schnellen Schritte auf der Treppe. Kurz danach dringt ihre Stimme durch den Boden unter Nannas Füßen hindurch, wird von einer Männerstimme irgendwo anders im Gebäude beantwortet. Der Duft ihres Parfüms, überraschend vanillesanft, schwebt noch im Zimmer.

Meine Schwiegermutter. Nanna begutachtet das Wort. Bellemère. Auch wenn sie müde schien, sie ist schön.

Nanna ist mitten in dem geräumigen Zimmer stehengeblieben. Sie hat sich für diesen Besuch auch für die kleinste ihrer Entscheidungen von Yanns Urteil abhängig gemacht, und dieses Gefühl lähmt sie jetzt. Sie ist darauf angewiesen, auf ihn zu warten, eine Marionette, die auf ihren Spieler wartet.

Das Klappern von Metall gegen Metall, weit entfernt, etwas, das wie eine Bratpfanne klingt, die über einer Gasflamme gerüttelt wird, dringt an ihre Ohren, ein lautes Zischen wie von kochendem Öl, Klirren wie von vielen Flaschen, die in eine Kiste gepackt werden. Ihr Magen zieht sich bei dem Gedanken an Essen zusammen. Die Anspannung hat sie den Appetit verlieren lassen, auch wenn ihr Magen wie ein Vulkan unter dem Stoff des Rocks grummelt. Wie sie jemals Messer und Gabel halten, etwas unter dem Blick von Yanns Mutter essen können soll, das weiß sie nicht.

Es pocht in der Blasenregion, sie hat die übelriechende Toilette im Zug vermieden, hat sich seit vielen Stunden zurückgehalten, aber jetzt traut sie sich nicht auf den Flur hinaus, wirft dem Bidet in der Ecke einen sehnsüchtigen Blick zu.

Laufende Schritte auf der Treppe.

»Warum stehst du denn hier im Dunkeln?«

Fenster und Vorhänge werden mit einem Schwung aufgerissen. Eine wahre Lichtwoge erfüllt das Zimmer, überwältigend weiß.

Sie sieht seinen Rücken als Silhouette vor dem Fenster, verzeiht ihm, daß er ihr davongelaufen ist, daß er sie seiner reservierten Mutter überlassen hat, sie allein in einem unbekannten Zimmer hat stehenlassen, allein in dieser Welt, die die seine ist.

»Yann.«

Er dreht sich um, kommt zu ihr.

»Ich möchte, daß sie mich mag.«

Seine Hände auf ihren Schultern sind brüderlich, der Körper erscheint steif unter der Jacke.

»Das wird sie schon.«

Der aufmunternde Ton klingt nicht überzeugend. Nanna versucht seinen Blick einzufangen, aber er hat sich bereits zur Tür gedreht.

»Zeit zum Essen. Kommst du?«

»Warte.«

Sie erinnert sich an all die Male, als sie um die Aufmerksamkeit ihres Vaters gebettelt hat, so war es mit Yann bisher nie, und sie will nicht, daß es so wird. Trotzdem faßt sie ihn beim Ärmel, hält ihn fest.

»Wäre es dir lieber, wenn ich nicht mitgekommen wäre?«

Eine erstarrte Sekunde, ein Film, der gerissen ist. »Ja?«

»So ist meine Mutter nun einmal.« Sein Gesicht mit der Falte zwischen den Augenbrauen ist ihrem ganz nah, die Augen flehen, um was, weiß sie nicht. »Sie hat immer nur mich gehabt.«

Und dabei war sie sich ihrer Sache so sicher gewesen – jetzt weiß sie gar nichts mehr.

Ihre Hand hat den Stoff seiner Jacke gepackt, eine unbekannte Hartnäckigkeit hat sich ihrer bemächtigt. Vielleicht ist er ja schon auf dem Weg von ihr fort, unerreichbar, vielleicht schubst sie ihn mit ihrem Beharren weg, aber sie muß es fragen, jetzt.

»Gibt es einen Platz für mich?« Ihre Stimme trägt, sie ist stark, ohne jede Spur von Betteln oder Weinen. »Yann?«

»Einen Platz für dich?«

Er räuspert sich, wie immer, wenn er unsicher wird. Jetzt verschwindet er, kann sie noch denken. Dann fühlt sie seine Hand an ihrer Wange.

»Ohne dich will ich gar nichts.«

Bläulicher Tabakrauch wie tiefhängende Wolken, das Lokal ist dunkel, voller Stimmen und der Wärme vieler Körper, dem bitteren Geruch nach Zigaretten und abgestandenem Bier.

Yann hat sich entspannt, das erste Mal, seit sie angekommen sind, den ganzen Weg bis zur Schulstadt am späten Nachmittag hat er in dem klappernden Wagen gesungen, alte Lieder in einer unmöglichen Sprache, die Nanna neugierig macht.

Sie hat die erste Etappe überstanden, ist mit sich selbst ganz zufrieden. Die formvollendete Konversation, das höfliche Interesse fürs Hotel – ihre Erziehung, die ihr seit ihrer Kindheit ins Blut übergegangen ist, ist ihr wieder einmal zu Hilfe gekommen. Die Schokoladenschachtel ist überreicht worden, und während der langen Mahlzeit ist die Mutter etwas aufgetaut, hat zumindest ein paarmal gelächelt.

Von den voll besetzten Tischen strecken sich Yann Hände entgegen, Nanna gibt sich alle Mühe, Worte und Namen zu verstehen, aber die Rufe, die ihnen von allen Seiten entgegenschallen, ertrinken im Lärm der Flipperautomaten und der zischenden Bierzapfanlage. Die Bar ist das Stammcafé aus der Gymnasiastenzeit, und Yann ist ein Heimgekehrter, dessen Anwesenheit einen Glanz auf die alten Freunde wirft, die immer noch in der Provinz festsitzen, in der Fischerei, im Betrieb des Vaters, in den wenigen Ausbildungsstätten, die die Gegend zu bieten hat.

Ein magerer Mann in einem zerknitterten grauen Anzug sitzt allein an einem Tisch. Seine ganze Person ist abgenutzt wie ein alter Mantel, die freundlichen Augen gucken verschleiert durch die fettigen Gläser seiner Brille.

»Mein Musiklehrer«, Yann ist stehengeblieben, nickt dem Mann zu.

»Nanna.«

Der Mann murmelt seinen Namen, seine Hand ist schmal und kühl in ihrer.

»Meine Verlobte. Ma fiancée

Einen Moment lang glaubt Nanna, nicht richtig gehört zu haben.

Der Mann hat sich halb erhoben, er hebt das Glas mit dem giftig grünen Pastis in Nannas Richtung, schwankt ein wenig.

»Herzlichen Glückwunsch.«

Meine Verlobte. Die Worte sausen in Nannas Kopf herum. Vielleicht ist das ja nur etwas, mit dem er spielt, eine Formulierung, die ihm zufällig eingefallen ist. Am liebsten würde sie ihn zur Seite ziehen, ihn fragen, was er damit gemeint hat, aber Yann zieht sie weiter zu einem runden Tisch in der hintersten Ecke der Bar.

Ein elektrischer Ventilator über dem Tisch zerteilt mit einem leise summenden Geräusch den Zigarettenrauch von zwei Männern. Sie hat sie schon einmal gesehen, früher am Nachmittag, in dem scharfen Licht vor dem Geräteschuppen. Der größere von den beiden hat Bartstoppeln auf seiner massiven Kieferpartie, er ähnelt einem bei zu großer Hitze gebackenen Brot, die kräftigen Oberarme wölben sich unter der dünnen Jacke.

»Yves.«

Sein Handgriff ist unerwartet schlaff, er läßt ihre Hand fallen, vermeidet es, ihr in die Augen zu sehen.

Unsicher wendet sie sich ab, trifft auf einen neugierigen, hellblauen Blick aus einem Paar leicht auseinanderstehender Augen.

Der kurze Körper ist weich, formlos, die verblichenen Sommersprossen auf der hellen Haut des Mannes haben etwas Verwaschenes an sich. Die Mütze von vorhin ist verschwunden, und sein Haar, das rotbraun wie altes Mahagoni ist, ist das einzige, was verhindert, daß er ganz und gar häßlich aussieht.

»Das hier ist Benoît.« Yann hat sich auf einen der freien Stühle gesetzt, streckt den Arm aus. »Der bombarde-Virtuose, du kannst dich schon drauf freuen, ihn zu hören.«

Sie läßt die kleine feste Hand los, läßt sich von Yann auf einen Stuhl ziehen.

Yann ist es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen, sie hat es bereits geahnt, jetzt wird es offensichtlich. Er gibt eine drastische Schilderung seines Alltags im Restaurant des Onkels zum besten, unterbricht sie nur, um etwas zu trinken zu bestellen, und seine Freunde geben ihm den Raum, amüsieren sich über seine Pointen.

Die verschämte Neugier der anderen beiden liegt wie eine Spannung in der Luft, sie behandeln Nanna mit scheuem Respekt, ausgesucht höflich. Sie genießt es, einen Platz in dieser Freundschaft, deren tiefe Verwurzelung sie spürt, zugewiesen bekommen zu haben, sie fühlt die wohltuende Wärme des Arms auf ihrem Stuhlrücken, trinkt ihren Weißwein mit Grenadine in süßen, kühlenden kleinen Schlucken. Sie läßt sich in das verbale Menuett am Tisch hineinziehen, in die elegante Choreographie der französischen Sprache, in der jeder Schritt sicher und vorausschaubar erscheint.

Plötzlich stolpert jemand, zerstört das tanzende Muster.

Der Krieg.

Jemand, sie hat nicht mitbekommen, wer, hat das Wort ausgesprochen. Das Gespräch schwankt einen Moment und hört dann abrupt auf, wie eine unterbrochene Schallplatte.

»Die wollten mich wieder losschicken, aber ich bin noch mal davongekommen.« Schließlich unterbricht Yves das Schweigen. »Der Alte hat Probleme mit dem Herzen, und jemand muß sich ja ums Geschäft kümmern.«

Sein kräftiger Körper beugt sich über den Tisch, er zieht eine Zigarette aus Yanns Packung, zündet sie an, stößt den Rauch aus.

»Ich hätte es nicht machen können«, sagt er, und sein großes Gesicht verschließt sich, »nicht noch einmal.«

Nanna schielt zu Yann, sie sieht, wie er einen Schluck trinkt, dann noch einen.

»Ich kriege keinen Aufschub mehr«, sagt er, und sein Ton ist gezwungen leicht, fast fröhlich. »Man muß es wohl als ein Abenteuer ansehen.« Yves läßt den Bierschaum auf dem Grund seines Glases kreisen, immer wieder und wieder.

»Mach nur«, sagt er, und es ist ein Hauch von Verachtung in seinem Ton. »Mach nur.«

Der Krieg bestand für Nanna bisher nur aus Zeitungsüberschriften, Schlagwörtern, die an die Häuserwände gemalt waren, Fnl, Oas, Algérie Française. Sie hat auf Flugblättern vom Putschversuch der Generäle gelesen, vom Alarmzustand im Land, hat aber den Hintergrund nicht verstanden, und niemand hat versucht, ihn ihr zu erklären. Politik interessiert sie nicht. Daß der Krieg ihr Yann wegnehmen kann, ihn zu einem Soldaten in einem fernen Land machen kann, ihn Risiken aussetzt, das kann sie nicht fassen. Die Fragen bleiben ihr im Hals stecken, sie will alles wissen und gleichzeitig möglichst gar nichts.

Yves ist aufgestanden, hat sich seinen Weg zwischen den braun gebeizten Tischen gebahnt, sein Rücken ist breit und schwer, abweisend wie eine Geldschranktür.

Benoît rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum.

»Es muß ja nicht so schlimm kommen.«

Seine sanfte Stimme ist beruhigend, warme Milch, sie schaut ihn gierig an, will, daß er weiterredet, ihr die Unruhe nimmt, aber die wasserblauen Augen weichen ihr aus, suchen sich einen Punkt in der Nähe des Ausgangs.

»Das ist es nicht«, sagt er, und sie kann an seinem Ton hören, daß das Gespräch beendet ist.

Yann hat ihre Hand genommen, er hat jeden einzelnen Finger fest gedrückt, als wollte er die Haut von den Knochen reiben. Sie zieht sie vorsichtig zu sich und spürt gleichzeitig Yves’ mächtigen Körper hinter ihrem Stuhl. Sieht seine Hand auf Yanns Schulter, daß er ihn drückt. Dann setzt er sich, kippt die Hälfte des Inhalts seines neuen, beschlagenen Bierglases in einem Schluck hinunter.

»Pélinore ist hier«, sagt er mit einem schiefen Grinsen, hebt den Daumen an den Mund und nickt nach hinten, in Richtung des abgewetzt aussehenden Mannes. »Er hat schon reichlich was gekippt.«

Die drückende Stimmung ist weg. Die Spannung in Nannas Zwerchfell löst sich, sie atmet erleichtert auf. Sie haben eine Auszeit, so lange sie hier um den runden Tisch in dieser überfüllten Kneipe sitzen, der Lärm der Jukebox und das Sausen des Ventilators über ihren Köpfen beschützt sie gegen alles Böse.

»Pélinore«, sagt sie. »Ist das nicht ein merkwürdiger Name?«

Drei Gesichter wenden sich ihr zu.

»Galaad«, Benoît zeigt mit dem Zeigefinger auf Yves.

»Lancelot«, grinst Yves, seine schwere Faust hämmert dem jammernden Benoît auf den Oberarm.

»Und wer bist du?«

Nanna wendet sich Yann zu, sieht, daß er rot wird.

»Natürlich Arthur.«

Die anderen beiden johlen im Chor, eifrige Kinder, die hinter einem Ball herlaufen.

»Werdet ihr deshalb die Ritter genannt?«

»Bien sûr

Drei Jungen, übermütig, schäumend vor Energie, sie kann sie vor sich sehen, zwölf Jahre alt, alle ihre Abenteuer haben sie von Pélinore erfahren, wie sie den geliebten Musiklehrer getauft haben, der ihnen beigebracht hat, die alten Instrumente zu spielen, sie gelehrt hat, die Tradition zu respektieren. Sie sind mit den Legenden aufgewachsen, sind in ihre Rollen hineingewachsen, am runden Tisch in Yanns Zimmer und später an diesem Tisch hier, sie haben sich Ritterlichkeit und gute Sitten beigebracht, haben kolossale Schlachten gegen fiktive Feinde geschlagen, gegen bösen Zauber und eindringende Mächte.

»Gab es denn keine Mädchen dabei?« fragt sie, plötzlich neugierig geworden.

Zwei Paar Augen richten sich auf Yann. Eine Sekunde lang ist es still am Tisch.

»Von denen haben wir geträumt«, sagt er und legt seinen Arm um ihre Schultern.

Der Himmel ist immer noch hell, als sie die Straße hinunter zum Parkplatz schlendern. Yann und Yves reißen sich von der Gruppe los, laufen um die Wette, als wollten sie ihre Zusammengehörigkeit bekräftigen und den letzten Rest der schlechten Stimmung wegrennen. Ihre Rufe hallen zwischen den Häusern wider, werden übertönt von dem Lärm eines Mopeds, das an ihnen vorbei den Hang hinunterknattert.

Auf dem Rasen vor der massigen grauen Kirche führt eine junge Frau ein wuscheliges Hundebaby aus. Ihr Schwangerenbauch läßt den Mantel weit abstehen, das schwarze Haar bildet einen Flügel über ihrer Stirn. Ein Elsternpaar fliegt mit heiserem Schrei im Sturzflug auf den Hund. Nanna kann die sperrigen Zweige eines Nestes in einer der hohen Kastanien sehen.

Yann ist vor dem Mädchen stehengeblieben, abrupt, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen. Zwei Kombattanten, die überlegen, ob sie Schläge oder Küsse tauschen sollen. Keiner von beiden reagiert, als der Hund sich losreißt und bellend über den Rasen zum Fluß läuft, in dessen trägen Wirbeln sich das schwindende Licht spiegelt.

Yves ist einen Schritt hinter Yann stehengeblieben, jetzt setzt er sich wieder in Bewegung. Das Mädchen ist aus ihrer Starre erwacht, sie dreht sich nach ihm um, ruft den Hund beim Namen. Yann aber ist stehengeblieben, wie festgefroren, ängstlich, einem Vakuum zu begegnen, wo er sich auch hinwenden mag.

»Wer ist das?«

Nanna fragt Benoît. Seine hellen Augen hinter der Brille vermeiden ihren Blick.

»Morgane«, sagt er verlegen. »Die Fee Morgane.«

»Ich kenne die Geschichten nicht.«

Die Unsicherheit läßt sie kurz angebunden sein, aber sie bereut es sofort. Benoît ist kein starker Gegner, und sie möchte ihn auch lieber als Verbündeten gewinnen.

»Die böse Kraft.«

Ein Schacht hat sich in den Fußwegplatten vor ihren Füßen geöffnet, eisige Luft schlägt ihr ins Gesicht.

»Ist es Yanns Kind?« hört sie sich selbst flüstern.

»Nein, nein.« Benoîts Stimme klingt atemlos. »Sie hat einen Geschäftsmann geheiratet.«

»Aber es war Yann, ihn wollte sie haben?«

»Er wollte sie nicht haben.«

Benoît hat die Hände in die Taschen seiner Lederjacke geschoben, zieht die Schultern bis zu den Ohren hoch, um sich gegen den Abendwind zu schützen, und ist offensichtlich eifrig bemüht, das Thema zu beenden.

Yves hat den Hund eingefangen, trägt das zappelnde, bellende Tier über das Gras, legt dessen Leine in die Hand des dunkelhaarigen Mädchens, sie streichelt das Tier, schimpft mit ihm, ihre Stimme ist schneidend, die Worte fallen wie Peitschenhiebe.

»Wen wollte er dann haben?«

Sie sollte es nicht tun, sie sollte Benoîts Loyalität nicht auf eine so harte Probe stellen, aber sie kann es einfach nicht lassen.

»Er hat von Yseut geträumt«, sagt er, und sein sommersprossiges Gesicht erstrahlt in einem Lächeln. »La femme soleil

»Komm.«

Am Fuße des Abhangs hat sich das Elsternpaar in den Baum zurückgezogen, ihre heiseren Schreie zerteilen die Luft über den Blumenständen, die sich gegen den gräulichen Himmel recken.

Das Mädchen und Benoît tauschen Wangenküsse aus. Nanna bleibt ein paar Schritte entfernt stehen, sie kann den Blick des Mädchens spüren, den diese ihr unter ihren dunklen Augenwimpern hervor zuwirft, er ist prüfend.

»Bonjour, Mademoiselle.«

Eine vorgestreckte Hand in einem weißen Handschuh, sie nimmt sie, murmelt ihren Namen.

»Enchantée.«

Yann hat sich in die Hocke gesetzt, reibt die zotteligen Ohren des wild mit dem Schwanz wedelnden Hundes mit beiden Händen.

»Dein Hund hat Flöhe, Martine«, sagt er und versucht, die gedrückte Stimmung wegzuscherzen.

Das dunkelhaarige Mädchen sieht ihn mit stummer Verachtung an.

»Du siehst aus, als solltest du bald die Taufmandeln bestellen.«

Benoît mischt sich ein, atemlos vor Eifer.

»Seit wann bist du denn ein Experte für Schwangerschaften geworden?« Das Mädchen schlägt scherzhaft mit der Hundeleine nach ihm, jetzt besänftigt. »Aber es stimmt, das Kind sollte schon vor einer Woche kommen, morgen fahren wir nach Quintin, zum Gürtel der heiligen Jungfrau. Kennen Sie den, Mademoiselle?« Sie wendet sich Nanna zu mit Augen, die boshaft unter dem dunklen Haarflügel funkeln. »Yann kann Ihnen davon erzählen, wenn es aktuell sein sollte.«

Nanna kann ihren Blick nicht von ihr wenden, von dem toten, metallischen Licht um sie herum, einem mondhaften Schimmer, der alle anzieht, unwiderstehlich. Yves hat sich seitlich abgewandt, wie um sich zu schützen, Benoît scharrt unruhig mit dem Fuß im Kies des Wegs.

Yann hat sich gefangen, aber seine Augen flackern, auf frischer Tat ertappt.

Nanna holt tief Luft, sucht nach einer Antwort. Da fühlt sie Yanns Arm auf ihrer Schulter.

»Mémé wartet auf uns.«

Er streckt dem Mädchen die Hand entgegen. Einen Augenblick lang zögert sie, dann ergreift sie die ihr hingestreckte Hand, streift die Fingerspitzen mit ihren Lippen.

»Bonne chance, mon petit.«

Die Stimme schlägt zu wie eine Peitsche.

Der Schrei der Elstern folgt ihr und dem tänzelnden Welpen, bis beide hinter der Kirchenmauer verschwunden sind.

Schmale, perlmuttfarbene Wolkenfahnen gleiten langsam über den weißgrauen Himmel, als sie nach Westen fahren. Die Sonne ist inzwischen untergegangen, und die Kieferngruppen stehen wie tintenfarbene Schatten in der bleichen Dämmerung, krumm gebeugt wie ein geschlagenes Heer.

Nanna richtet ihren Blick auf das helle Band des Wegs, bohrt ihr Kinn in ihr Halstuch. Weder Yann noch sie haben sich getraut, das dumpfe Schweigen zu brechen, in das sie das Treffen mit dem dunkelhaarigen Mädchen hat fallen lassen, während der ganzen Autofahrt nicht.

Noch ein Kilometer. Die Umrisse der ersten Häuser der Stadt tauchen bereits in der Ferne auf.

»Merde!«

Das wütende Bellen eines Hundes. Yann reißt den Wagen zur Seite, kann nur mit Mühe und Not einen Zusammenstoß verhindern. Der Wagen schlingert, hüpft ein paar Meter über den unebenen Seitenstreifen, bevor sie wieder den Asphalt unter den Rädern spüren.

»Kannst du meine Zigaretten finden?«

Im Licht der kleinen Flamme des Streichholzes sieht sein Gesicht verletzlich aus. Sie legt die Zigarettenpackung zurück auf die Konsole, unterdrückt ihren Impuls, ihm über die Wange zu streichen.

Yann holt tief Luft.

»Ich habe keine Lust, dir das zu erklären.«

»Ich brauche keine Erklärungen.«

Sie weiß bereits alles, was sie wissen muß, weicht zurück vor den Details, die ihre Unsicherheit nur steigern würden.

»Martine kriegt immer alles, was sie haben will. Mich auch. Einmal. Aber nicht öfter.«

»Ich habe gesagt, ich brauche keine Erklärungen.«

»Aber ich muß dir das sagen.« Er ist mit der Geschwindigkeit heruntergegangen, fährt mit beiden Händen auf dem Lenkrad, der Zigarettenrauch zwingt ihn, die Augen zusammenzukneifen. »Martine macht den Leuten angst.«

Er denkt eine Weile nach, dann sagt er:

»Hier draußen glauben wir an alles mögliche.«

»Was meinst du mit alles mögliche?«

»Wenn ich sagen würde, daß Martine die Fee Morgane ist, würdest du das nicht verstehen.«

»Muß ich das verstehen?«

»Ich weiß nicht.«

Der Wagen hält vor einem weißgestrichenen Gartenzaun. Gelbes Licht aus kleinen Fensterscheiben trifft auf das kurze Gras um das Haus, die Kieselsteine knirschen unter ihren Füßen.

»Mémé!«

Yann umarmt die alte Dame so stürmisch, daß die weiße Spitzentracht auf ihrem Kopf bedrohlich schwankt, die Wangenküsse schnalzen. Sie ist noch kleiner als auf dem Foto, und der grotesk dimensionierte Kopfschmuck aus gestärkter Spitze verleiht ihr ein sonderbar puppenhaftes Aussehen. Das feine Faltennetz ihrer Haut erinnert an die Schale einer Melone.

Nanna bleibt in der Küchentür stehen. Sie atmet die Atmosphäre in dem Raum ein, die Wärme von dem heißen Herd, die Kupfertöpfe, die matt auf dem Regal glänzen, die abgenutzten irdenen Schüsseln, das dunkle Holz des Tisches.

Eine dicke, weiße Katze springt vom Fensterbrett hinunter, bleibt vor ihr stehen. Ihre Augen sind rund, eins braun, eins blau, das Fell ist auf dem Rücken schon dünn geworden, wie von allzu vielen Händen. Nanna beugt sich hinunter, um sie zu streicheln, aber die Katze schreitet nur erhaben an ihr vorbei, auf lautlosen Pfoten, eine ältere Herzogin.

Eine vorgestreckte Hand, in den halb geschlossenen Augen unter dem weißen Haar funkelt es neugierig.

»Und wie heißt die junge Dame?«

»Das ist Nanna, Mémé.« Yann mischt sich ein, bevor sie antworten kann. »Ich möchte, daß du sie kennenlernst.«

»Das ist also die Nanna, die dich an deinem Geburtstag in Paris festgehalten hat?«

Ein kleiner kühler Seitenhieb, trotz des freundlichen Lächelns.

Martine bildet nur das kleinste der Hindernisse, die sie von Yann trennen. Diese Erkenntnis läßt ihre Wangen glühen. Wenn sie nicht bereit ist, den Kampf mit dieser Dornenhecke aus starken Frauen aufzunehmen, die ihn umgeben, dann kann sie lieber gleich umkehren und vergessen, daß sie ihn jemals kennengelernt hat.

Sie gibt der kleinen, breiten Hand einen festen Druck, schaut der alten Frau offen in die Augen.

»Ja«, sagt sie dann, »das bin ich.«

Das Geräusch knarrender Scharniere weckt Nanna aus einem tiefen Traum.

Yanns großer Körper steht in der Tür, ein vollbepacktes Tablett in den Händen. Der warme Duft von Kaffee und frischem Brot füllt das Zimmer aus, sie setzt sich im Bett auf, schnuppert begierig.

»Bonne fête.« Yann nickt zu einer kleinen Vase mit Veilchen auf dem Tablett. »Einen schönen ersten Mai.«

Sie schiebt ihr Haar etwas hoch, das sich nach dem Schlaf feucht anfühlt, reibt sich die Augen. Sie und Yann haben noch nie eine ganze Nacht zusammen verbracht. Ab und zu sind sie Arm in Arm eingeschlafen, wenn sie sich in dem kleinen Hotel geliebt haben, das ihre Zufluchtsstätte geworden ist, und sind dann mit zerzausten Haaren und Streifen auf den Wangen aufgewacht. Aber jetzt beugt sich ein frisch gekämmter Yann über ihr schlaftrunkenes Gesicht, gibt ihr einen leichten Kuß auf die warme Stirn, lacht über ihre Bemühungen, ebenfalls wach und gut gekämmt auszusehen.

Sie spürt ihre volle Blase, bleibt aber trotzdem artig sitzen, nimmt das klappernde Tablett entgegen, das Yann ihr auf die Knie gestellt hat.

»Ich habe mir dein Tablett geschnappt, als Mutter mir den Rücken zugedreht hatte. Denn eigentlich wollte sie es selbst hochbringen. Der Anständigkeit halber.«

Die Fensterläden fliegen auf. Das Licht hinter ihnen ist trotz der tiefen Wolkendecke milchig weiß. Yann bleibt am Fenster stehen und atmet tief die weiche Luft ein, bevor er wieder an die Bettkante zurückkommt.

»Das wird noch aufklaren. Nun iß dein Frühstück.«

Nanna verbrennt sich die Zunge am Kaffee und der heißen Milch, bekommt einen Kuß auf die krausgezogene Nase. Gehorsam mümmelt sie ihr Brot, das Yann mit gesalzener Butter und Pflaumenmarmelade bestreicht, beißt in ein krümelndes Croissant.

»Sobald du dich angezogen hast, hauen wir ab. Mutter findet sonst nur Arbeit für mich, wenn sie mich sieht.« Yann tupft mit einer Papierserviette Marmelade von ihren Mundwinkeln. Ein Brotknust knackt zwischen seinen Zähnen, er spült ihn mit einem Schluck Kaffee aus ihrer Tasse hinunter. »Wenn du ein schlechtes Gewissen kriegst, sage ich ihr, daß du gern beim Servieren helfen würdest.«

»Denkt sie denn nicht, daß ich schuld dran bin, wenn du ihr nicht hilfst?«

Yann läßt sich nach hinten aufs Bett fallen, sein Kopf landet auf Nannas Füßen. Das Porzellan klappert gefährlich.

»Paß auf.« Nanna hebt im letzten Moment das Tablett hoch.

Mit einem Satz ist Yann auf den Beinen, nimmt ihr das Tablett aus den Händen.

»Zieh dir ordentliche Schuhe an. In einer Viertelstunde treffen wir uns unten«, kommandiert er. »Allez!«

Er ist schon aus der Tür, bevor sie etwas erwidern kann.

Yanns Mutter steht über den kleinen Empfangstresen gebeugt, als Nanna die Treppe hinunterläuft. Nanna bekämpft ihren spontanen Wunsch, einfach umzudrehen, sich wieder die Treppe hochzuschleichen und hinter der Tür des Zimmers Schutz zu suchen.

»Bonjour, Madame.«

Das Gesicht, das sich ihr zuwendet, ist verzerrt, wie vom Weinen.

Ohne weiter nachzudenken, geht Nanna einen Schritt auf die andere Frau zu, streckt ihr die Hand entgegen.

»Madame.«

Ein schnelles Kopfschütteln. Die resignierte Haltung verwandelt sich innerhalb einer Sekunde in professionelle Höflichkeit.

»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.«

Die Stimme klingt kühl und klar, widerspricht den Tränenspuren auf den blassen Wangen.

Nanna nickt. Die Risse in der Fassade ihrer Schwiegermutter machen sie genauso unsicher wie deren glasharte Ablehnung. Sie schwankt zwischen Bleiben und Gehen. Sorgfältig knöpft sie alle Knöpfe ihrer Wildlederjacke zu. Öffnet sie dann wieder.

»Ich glaube, Yann wartet auf Sie.« Die Schwiegermutter nickt zur Tür hin, tupft ihre Nase mit einem Taschentuch ab, das sie in der Hand versteckt hat.

»Wenn ich etwas tun kann ...«, murmelt Nanna und weiß selbst nicht, was sie damit meinen könnte. Der Gedanke an ihre Person in der Rolle einer Kellnerin oder der an ein vertrauliches, tröstendes Gespräch mit dieser reservierten Frau hinter dem Tresen kommen ihr beide gleich absurd vor.

Die Glaswand ist wieder intakt, das harte Gesicht trocken.

»Was sollte das denn sein?«

Ein ironisches Lächeln. Nanna rafft sich auf, murmelt dem abweisenden Kopf, der sich bereits wieder über die Papiere auf dem Tresen gebeugt hat, einen Abschiedsgruß zu.

Yanns Silhouette zeichnet sich gegen den weißen Himmel ab, er steht von der niedrigen Mauer auf der anderen Seite des kleinen Platzes auf, kommt ihr entgegen.

»Du siehst betrübt aus.«

»Deine Mutter. Ich glaube, sie hat geweint.«

»Kümmere dich nicht darum.«

»Aber solltest du sie nicht lieber trösten? Wenn sie wegen irgend etwas traurig ist?«

»Meine Mutter kann man nicht trösten. Und außerdem würde sie wütend werden, wenn man es versuchen wollte. Nun komm, laß uns gehen.«

Die kleine Stadt liegt sonntagsstill im harten Frühlingslicht. Ein kräftiger Mann in einem weißen Kittel ist dabei, die Markise vor seinem Metzgerladen mit einem quietschenden Geräusch herabzulassen. Yann läßt Nannas Hand los, als der Mann ihn grüßt, die Ladentür steht offen, und Nanna sieht hinter dem Tresen eine Frau mit rundem Kopf stehen, sie reckt den Hals, als die beiden vorbeigehen, kommt anschließend an die Tür. Das Geräusch murmelnder Stimmen verfolgt sie bis um die nächste Ecke.

Sie weiß es bereits. In dieser Stadt wird jeder Schritt, den sie in Yanns Gesellschaft macht, sichtbar sein, als würde sie auf einer Bühne stehen. Sie bekommt unter den neugierigen Blicken eine Gänsehaut. Sie zieht ihren flachen Bauch noch weiter ein, wischt die Feuchtigkeit der Handflächen an ihrem Rock ab, bevor sie wieder Yanns Hand faßt.

Der Strand nördlich der Stadt ist menschenleer, der Sand ist fest unter ihren Füßen. Die Flut hat gewellte Silberstreifen auf dem dunkleren Grund hinterlassen, die Seidenfetzen der grünen Algen glitzern noch feucht in der Sonne. Ein Duft nach Salz und Tang in den ersten Stadien der Verwesung kitzelt Nannas Nase.

Yann legt ihr einen Arm um die Schulter.

»Die Leute glauben, ich wäre verrückt, weil ich das Meer liebe«, sagt er. »Unsere Familie besteht seit mehreren Generationen aus Wirtsleuten, alle anderen hier haben Fischer und Seeleute in der Familie, alle haben einmal jemanden auf dem Meer verloren.« Yann sammelt eine Handvoll kleiner goldener Schneckenhäuser und wirft sie in die Luft, wo der Wind sie mit sich nimmt. »Kurz nachdem wir mit der Realschule angefangen hatten, standen Benoît und seine Mutter eine ganze Nacht lang unten am Hafen und warteten auf das Boot seines Vaters. Ich konnte sie von meinem Fenster aus sehen. Mutter hat mich ins Bett geschickt, sie wollte nicht, daß ich hinunterging. Ich habe die ganze Nacht wach gelegen und dem Sturm gelauscht. Am nächsten Morgen standen sie immer noch da. Der ganze Kai war schwarz vor Menschen, keiner von ihnen sagte ein Wort. All-right hieß das Boot, das war ziemlich pathetisch.«

»Was ist passiert?«

»Benoîts Vater und sein Onkel waren über Bord gespült worden. Sie wurden nie gefunden. Benoîts Mutter hat ihm danach verboten, jemals einen Fuß auf ein Schiffsdeck zu setzen. Jetzt hat er einen Sklavenvertrag, der Staat finanziert ihm eine Lehrerausbildung, dafür muß er vier Jahre hier im Departement arbeiten. Was anderes kann er sich nicht leisten. Aber zumindest kann er in der Hochschule wohnen, so entkommt er seiner Mutter.«

»Ist seine Mutter denn so schrecklich?«

Yann zuckt mit den Schultern.

»Eigentlich nicht«, sagt er. »Aber man kann ja nicht sein ganzes Leben zusammen mit seiner Mutter leben.«

»Und was ist mit dir selbst?«

Die Worte sind ihr einfach aus dem Mund gerutscht, bevor sie noch nachdenken konnte. Yann tritt nach einer leeren Krebsschale, daß sie über den Sand fegt.

»Das ist nicht so einfach.«

Sein Blick sucht nach einem Punkt weit hinten am Horizont, wo ein Leuchtturm seinen dicken Zeigefinger durch einen Riß in der Wolkendecke bohrt.

»Vielleicht sollte ich lieber nicht fragen, aber das steht doch die ganze Zeit zwischen uns.«

Sie bleiben nebeneinander stehen und schauen zum Leuchtturm, wo vereinzelte Möwen ihre Flügel auf dem aufsteigenden Luftstrom ausruhen. Irgendwo hinter ihnen, über der Wiese hinter den flachen Klippen, zwitschern die Frühlingsschwalben.

Yann schüttelt den Kopf.

»Laß uns weitergehen.«

Die Füße sinken in den gröberen Kies ein, und sie gehen lieber zu den flachen braunen Klippen, an denen Girlanden von kleinen Muscheln, kryptische Mitteilungen in blauen Schalen, unter ihren Sohlen zerbrechen.

Zwischen den Dünen führt sie ein schmaler Pfad zu einer Gruppe von Kiefern. Ein Gürtel von schütterem trockenem Gras umgibt einen Kreis aus groben Granitblöcken, ein von Menschenhand geschaffener Kontrast zum Sand der Dünen und dem Strandhafer.

Der Wind vom Meer erreicht sie hier nicht mehr, dennoch hat Nanna das Gefühl, als wäre die Temperatur um ein paar Grade gesunken. Die blaugrünen Nadeln der Bäume neutralisieren das weiße Licht, das Geräusch der leichten Brandung wird von der dumpfen Stille geschluckt, die über den großen Felsen und den windzerzausten Bäumen hängt.

Yann hat sich aufs Gras gesetzt, die Arme um seine angezogenen Beine geschlungen, die Stirn auf die Knie gelegt, ist plötzlich stumm.

Nanna kniet sich neben ihn auf das rauhe Gras, legt ihm eine Hand auf den Arm.

Die Worte purzeln aus ihm heraus.

»Hier war es, hier haben die Deutschen meinen Vater erschossen«, sagt er, und seine Stimme klingt atemlos. »Ich war vier Jahre alt, ich weiß nicht einmal, ob ich mich wirklich noch an ihn erinnern kann oder ob das nur die Bilder in Mémés Album sind.«

Die Graswurzeln und die kurzen Disteln drücken sich in die Haut auf Nannas Knien, aber trotzdem beugt sie sich vor, will ihre Arme um Yann schlingen.

»Laß es mich versuchen zu erzählen«, er hebt abwehrend eine Hand. »Das braucht dir nicht leid zu tun.« Er lehnt sich mit dem Rücken gegen einen der großen Steine, kaut auf der Unterlippe. »Meine Mutter hat nie öffentlich getrauert. Sie hat die Trauer in Wut verwandelt. Und das hat sich all die Jahre über nicht verändert.« Yann schluckt ein paarmal, dann fährt er fort.

»Sie hat geweint, wenn wir allein waren, in ihrem Zimmer, ich habe es durch die Wand gehört. Der einzige Trost, den ich ihr geben konnte, war der, perfekt zu sein. Der perfekte Sohn.« Eine Träne rinnt aus seinem Augenwinkel, er dreht sein Gesicht dem Wind zu, läßt es in der leichten Brise trocknen. »Mémé hat mich hierher mitgenommen, als ich sieben, acht Jahre alt war. Mutter ist nie hier gewesen. Sie hat diesem Platz wie allem anderen den Rücken zugewandt. Ich bin oft hierhergegangen, ohne daß sie es gewußt hat. Allein.«

Die Kälte vom Boden dringt in Nannas Unterleib, ihr gesamter Körper zittert leicht vor Anspannung.

»Kinder sollen klein und hilflos sein, bevor sie stark werden.« Yann wischt sich die Augen mit dem Ärmel seines Pullovers ab. »Ich mußte von Anfang an stark sein.«

»Man kann zu lange klein und hilflos sein. Ich würde lieber stark sein.«

Nanna sucht in ihrem Gedächtnis nach einem vergessenen Schmerz, der in ihr voller Erregung zuckt. Plötzlich ist das Bild da.

»Ich habe einmal mit meinem Vater und meiner Stiefmutter am Mittagstisch gesessen«, erzählt sie. »Ich war ungefähr sechs Jahre alt. Es gab Suppe, Blumenkohlsuppe. In meinem Teller war eine Kohlraupe. Ich habe meine Suppe gegessen. Ich habe alle kleinen Blumenkohlröschen gegessen, eine nach der anderen. Mein Vater und meine Stiefmutter haben sich unterhalten, ich traute mich nicht, sie zu stören, ich habe nur dagesessen und die Raupe angeguckt. Schließlich habe ich sie auf meinen Löffel genommen. Sie rührte sich nicht, lag nur ganz grün da, sie hatte kleine Warzen unter dem Bauch. Ich wußte nicht, was ich mit ihr anstellen sollte. Zum Schluß habe ich sie mir in den Mund gesteckt, ich habe sie geschluckt, ohne zu kauen. Danach habe ich Fleisch und Kartoffeln gegessen. Ich habe auch noch Erdbeeren mit Sahne gegessen. Und dann bin ich rausgegangen und habe mich übergeben.«

Plötzlich muß sie lachen, als sie Yanns erschrockenes Gesicht sieht, ein kurzes Lachen, überrascht über die eigene Erzählung.

»Meine Mutter ist nach meiner Geburt geisteskrank geworden, sie hat sich das Leben genommen. Mein Vater hat sie als die perfekte Frau verehrt, auch wenn er sich schnell wieder verheiratet hat. Es war meine Schuld, daß sie gestorben ist, das habe ich immer gewußt. Wenn ich wirklich hätte perfekt sein sollen, hätte ich am besten gar nicht erst existiert.«

»Eine Raupe.«

Yanns Gesicht verzieht sich zu einer ungläubigen Fratze.

Nanna nickt.

»Eine Raupe«, sagt sie. »Eine grüne Raupe mit kleinen Warzen unter dem Bauch.« Sie legt sich auf das rauhe Gras, auf den Sand, den das Blut der Hingerichteten einst rot färbte, streckt die Arme hoch über den Kopf. »Ich habe das noch nie jemandem erzählt. Nicht einmal meiner besten Freundin. Ich hatte wohl Angst, ausgelacht zu werden.«

»Immer, wenn man Angst hat, etwas zu tun, sagt Mémé: ›Laß die Sau zu Haus und nimm den kastrierten Eber mit.‹« Yann lächelt schief. »Am liebsten würde ich jetzt weinen, aber ich traue mich nicht.«

Er hat sich neben sie auf den Rücken gelegt, blinzelt in den Himmel, an dem die Wolkendecke aufreißt und einen funkelnden hellblauen Himmel freigibt.

»Ich verspreche dir, nie wieder eine Raupe zu essen, wenn du versprichst zu weinen, wenn du es willst.«

»Nanna.« Yann stützt sich auf die Ellbogen, lehnt sich an sie. Sein Gesicht schiebt sich vor den Himmel, die Augen sind voller Zärtlichkeit, glänzen von Tränen. »Da, sieh«, sagt er.

Als sie zurückkommen, ist Yanns Mutter, tadellos in Graublau gekleidet, dabei, kleine Pappschilder mit der Aufschrift »Réservé« auf den Tischen des Restaurants zu verteilen. Eine Frau in schwarzem Kleid mit weißer Schürze räumt das Geschirr von einem Ecktisch nach der Mahlzeit des Personals ab, am Buffet füllt ein dunkelhaariges junges Mädchen, dessen Pagenfrisur und rote Wangen an eine frisch bemalte Holzpuppe erinnern, eine Batterie glänzender Brotkörbe mit großen Scheiben braunkrustigen Brots.

Yann winkt dem Mädchen zu. Er küßt der schwarzgekleideten Kellnerin die Wange, schiebt Nanna vor.

»Lucienne ist hier, solange ich denken kann, du bist ein Teil des Inventars, nicht wahr, Lucienne? Sag Nanna guten Tag.«

Eine kleine feste Hand, Augen, die hinter dicken Brillengläsern blitzen. Ein paar Worte in dieser sonderbaren Sprache, die Nanna nicht versteht, lassen Yann laut auflachen.

Nanna schaut sich um, unsicher, ob sie selbst Grund für das Lachen ist.

»Sie fragt, ob du immer nein sagst.« Yann stibitzt eine Brotscheibe von einem Tablett, das vorbeigetragen wird, das Mädchen droht ihm lächelnd, »nein heißt auf bretonisch nann

Gierig beißt er ins Brot, sagt ein paar Worte mit vollem Mund, die eine Lachsalve bei der Frau auslösen. Mit beiden Händen umfaßt sie Nannas Oberarme, küßt laut in die Luft dicht an ihren Wangen.

»Was hast du gesagt?«

»Das verrate ich nicht.«

Nanna kann nicht anders, sie muß mitlachen. Zum erstenmal, seit sie das Hotel betreten hat, fühlt sie sich sicher. Sie schaut der fröhlichen Frau direkt in die Augen.

»Ganz im Gegenteil«, sagt sie.

Hinter der lachenden Frau taucht das magere Gesicht eines Mannes in der Glastür zum Empfang auf. Neben ihm bläht sich eine blonde Frau auf, deren Gesicht rot über der weißen Bluse glüht, eine etwas zu reife Frucht.

Ein leerer graumelierter Ärmel, wo der linke Arm des Mannes hätte sein sollen, ist nach innen geklappt und mit einer Sicherheitsnadel befestigt; das schmale Gesicht ein Axtblatt auf dem gebeugten Schaft des Körpers.

»Bitte schön. Ist es wohl möglich, etwas zu essen zu bekommen?«

Die deutschen Worte des Mannes schneiden die Zeit in Stücke, lose Enden flattern im Raum.

Die Kellnerin beugt sich herab, hebt eine heruntergefallene Serviette vom Boden auf, eilt am Buffet entlang davon, ohne auch nur zur Seite zu schauen, durch die Schwingtüren hinaus in die Küche.

Yanns Mutter hat sich ihrem Sohn zugewandt, der in einer Bewegung erstarrt ist, die Reste der Brotscheibe noch in der Hand. Die bleiche Haut auf ihrem Hals ist rot gefleckt, auf ihre Oberlippe sind Schweißperlen getreten, feuerrote Streifen leuchten auf ihren straffen Wangen.

»Sag ihm, daß sie gehen sollen.«

Ihre Stimme ist nur ein Flüstern.

Yanns viereckiger Körper ist zusammengesunken. Seine große Hand krampft sich um das Brot, er öffnet den Mund, aber kein Laut kommt hervor.

Bevor Nanna nachdenken kann, ist sie einen Schritt zur Tür gegangen. Sie schiebt ihren schmalen Körper beschützend zwischen das Axtgesicht und Yann und seine Mutter.

»Es ist alles besetzt«, sagt sie in ihrem besten Schuldeutsch.

»Besetzt. Reserviert.«

Ehrliche Enttäuschung läßt das scharfe Gesicht weicher erscheinen.

»Schade«, sagt er, »ich wollte meiner Frau zeigen, wie eine perfekte französische Mahlzeit schmeckt, ich habe hier vor vielen Jahren schon einmal ein köstliches Mittagessen gegessen.« Er verbeugt sich ritterlich vor Nanna. In der Tür dreht er sich um, sein Blick ist suchend, dann zeigt er auf einen der Tische, die dicht am Buffet stehen. Danach geht er, leicht hinkend, gefolgt von seiner blonden Frau.

Nanna hört, wie die Tür hinter ihnen ins Schloß fällt.

Das Geräusch von Glas, das zersplittert, läßt sie herumfahren. Auf dem Boden vor dem Buffet liegen grüne Scherben in einer Weinpfütze. Die Schwingtür zur Küche schlägt heftig hinter dem Rücken von Yanns Mutter hin und her, Nanna hört das Geräusch ihrer rufenden Stimme, eine andere Frauenstimme antwortet entfernt.

Nannas Beine zittern, die Zunge klebt ihr am Gaumen.

Yann steht wie versteinert immer noch in der gleichen Haltung, die Reste der Brotscheibe in der Hand, die Schultern hängend.

»Entschuldige«, murmelt er.

Er dreht leicht den Kopf, ein fast taubes Opfer einer Explosion.

Die klappernden Schwingtüren öffnen sich für Lucienne, die mit Handfeger und Wischeimer kommt. Ohne Nanna und Yann anzusehen, geht sie in die Knie und wischt auf. Das Geräusch von Glasscherben, die gegen das Metall des Eimers klirren, zerreißt die Stille.

Yanns Mutter kommt hinter Luciennes gebeugtem Rücken zum Vorschein, sie stellt mit abgemessenen Bewegungen eine neue Weinflasche auf das Buffet. Ihr Gesicht hat seine übliche Blässe wiedergewonnen.

»Für euch ist da hinten gedeckt«, sagt sie, ihre Stimme ist kühl und neutral.

Yann richtet sich mit einem Ruck auf.

»Du könntest dich zumindest bedanken.«

»Merci, Mademoiselle.«

Eine hochgezogene Augenbraue, eine ironische Miene, dann schließen sich die Schwingtüren wieder hinter ihrem Rücken.

Nanna - Eine kluge Jungfrau

Подняться наверх