Читать книгу Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen - Страница 7
Juni 1961
ОглавлениеStrib (!), den 15.6.1961
Liebe Nanna!
Vielen Dank für Deinen langen Brief. Mutter hat ihn mir nachgeschickt, ich habe ihn vor ein paar Tagen bekommen. Alle haben auf den Umschlag gestarrt, sie haben wohl gedacht, er wäre von einem heimlichen Liebhaber. Mein Ruf an dieser Schule ist so, daß all die Zimperliesen hier die ganze Zeit nur das Schlimmste denken. (Und es kommt vor, daß sie recht haben.)
Du glaubst wohl, ich lüge! Aber das ist die nackte, leibhaftige Wahrheit. Ich bin an einer Hauswirtschaftsschule. Ächz, stöhn, einmal tief Luft holen, so, das ist überstanden, bitte schön, und jetzt nachspülen.
Außerdem habe ich mich verlobt. Mit meinem exotischen Cousin Gustav, ich habe Dir von ihm erzählt, aber das hast Du bestimmt vergessen, er ist der, dessen Mutter (meine Tante) einen schwedischen Diplomaten heiratete. Die haben jahrelang an den merkwürdigsten Orten gewohnt, er hat sein Abitur in Schweden gemacht, aber jetzt studiert er Medizin in Kopenhagen, kommst Du noch mit? Nun ja, jedenfalls habe ich ihn am fünfundsiebzigsten Geburtstag meiner Oma getroffen, und da hat es, peng, geknallt. Er sieht aus wie ein blonder James Dean, und damit übertreibe ich nicht. Da hieß es einfach, schnell zu handeln!
Mutter meinte, wir würden uns ein bißchen zu lange in meinem Zimmer aufhalten, und in seinem Kollegium darf man nach zehn Uhr abends keinen Damenbesuch mehr haben, deshalb wurde das Ganze etwas kompliziert. Und da habe ich meiner Mutter gesagt: Aber wir sind doch verlobt, und damit mußten sich alle (inklusive Gustav!) abfinden. Mutter ist ganz wild geworden, meine Tante und der Diplomat wurden in Spankuk oder wo sie nun gerade wohnen unterrichtet, und jetzt sitzt Mutters unermüdliches Fräulein Petersen vermutlich da und stickt Monogramme auf Bettbezüge, und ich habe einen schlichten Goldring, den ich abnehmen soll, wenn ich Fisch saubermache, und das muß ich dauernd.
Verlob Dich nie. Dann riskierst Du, in eine Hauswirtschaftsschule geschickt zu werden. Wenn Du glaubst, Latein war langweilig, dann versuche das hier einmal.
Dein Yann klingt, als wäre er der Richtige für Dich. Könnt ihr nicht einfach abhauen und heiraten? Auch wenn Mémé (bedeutet das Oma?) mit ihrem Melonengesicht reizend zu sein scheint, muß das mit diesem Aufbau auf dem Kopf ja zum Schreien aussehen – was macht sie denn, wenn es regnet? Es ist komisch, sich vorzustellen, daß jemand, den man kennt, jemanden kennt, der jeden Tag in Tracht herumläuft, ich verbinde Frankreich eigentlich immer mit der neuen Welle.
Habt ihr – Du weißt schon? Mochtest Du das? Ich wurde richtiggehend süchtig, bevor ich des Landes verwiesen wurde. Hier teile ich mein Zimmer mit einer dicken Eisenwarenhändlerstochter aus Skive, da lasse ich lieber die Hände über der Decke. Gustav muß den Sommer mit seinen Eltern verbringen, sie haben ein Haus in den schwedischen Schären. Mutter hat mir für zwei Monate einen Job als Ferienkindermädchen in Oxford besorgt, dem Herrn sei’s geklagt. Sie denkt wohl, ich würde mir einen Haufen Kinder anschaffen, na, ich werde sie eines Besseren belehren. Hast Du ein Pessar, oder ist das in Frankreich verboten? Das ist zwar klebrig, aber beruhigend, das kann ich Dir sagen.
Ich habe Vater überreden können, mir eine einjährige kaufmännische Ausbildung zu bezahlen, auch wenn er mit dem Kopf geschüttelt hat. Schließlich müssen wir ja überlegen, ob ich einmal seine Firma übernehmen will, habe ich ihm erklärt. Er sah aus, als hätte ihn der Blitz getroffen! Ich fange damit im Herbst an. Dann bist Du zurück, nehme ich an, oder? Das mit dem Militärdienst klang erschreckend. Muß er wirklich in den Krieg? Gibt es nicht die Hoffnung, daß der bald aufhört?
Viel Glück mit ihm, wie dem auch sei. Hast Du nicht ein Bild, daß ich die Giraffe mal sehen kann? Beiliegend mein Gustav, Du mußt doch zugeben, daß er Stil hat! Jetzt hat es gegongt, das heißt, ich muß runter und lernen, wie man einen Wischlappen auswringt. Zum Glück hat das hier bald ein Ende.
Love from
Dreck-Mett’
Nanna legt den Brief auf ihren kleinen Schreibtisch, lächelt bei dem Gedanken an ihre Freundin.
Die Tür öffnet sich vorsichtig. Mariclô steht im Türspalt. Das dünne Haar, das Nanna jeden Morgen sorgfältig in einer Schleife sammelt, jeden Tag in einer anderen Farbe, steht wie verwelkte Grashalme ab, die schmalen Wangen sind feucht.
»Was ist denn?« Nanna hockt sich hin, legt die Arme um den aufgeschossenen Körper. Das Kind drückt sich fest an sie, will unter ihre Haut kriechen und ganz von dieser Welt verschwinden, die wieder einmal ihre Augen hat überlaufen lassen.
Ihr Weinen ist lautlos, so wie die ganze Mariclô. Unbemerkt wie eine Maus kann sie stundenlang in Nannas Zimmer sitzen, wenn Nanna frei hat und Mariclô eigentlich in ihrem eigenen Zimmer mit dem rosa Teppichbelag und den Gardinen mit Teddys und Elefanten Mittagsschlaf halten soll.
Nanna erzählt ihr von den Briefen von daheim, von ihrem Vater und seinem neuen Haus, von dem Haus auf dem Land mit dem Pferdestall, in dem ihre Stiefmutter ein Pferd haben soll. Die Unruhe, die die Briefe der Stiefmutter sonst immer in Nanna hervorruft, verdampft, als sie den Inhalt in kindliche Formeln faßt.
Den Brief von Mette will sie für sich behalten. Aber jetzt bereitet ihr das Unglück des kleinen Mädchens ein schlechtes Gewissen.
»Hast du was geträumt?«
Das Kind nickt an ihrer Schulter, Nanna spürt die feuchte Wärme des kleinen Körpers an ihrem eigenen. Mariclôs Alpträume sind namenlos, und Nanna hat gelernt, nicht nachzufragen, sie wiegt sie nur in den Armen, bis die Tränen versiegen.
Das ferne Geräusch der Türklingel. Madames harte Absätze auf dem Flur bleiben vor ihrer Tür stehen.
»Kommen Sie.«
Nanna steht schnell auf, schuldbewußt, ohne zu wissen, warum. Mettes Brief landet auf dem Boden, das dünne Luftpostpapier flattert im Durchzug, und Madames Blick erfaßt sofort sowohl den Brief als auch Nanna selbst und das Kind, das seinen Kopf gegen Nannas Hals drückt.
»Es ist für Sie. Le Braz, glaube ich, hat er gesagt.« Der immer beleidigt aussehende Mund würgt den Namen hervor wie Reste eines ungenießbaren Happens.
Yann war noch nie zuvor an der Wohnungstür. Wenn er sowohl das Mißtrauen der Concierge als auch den Unwillen von Madame gegenüber unerwarteten Ereignissen auf sich genommen hat, muß etwas Entscheidendes passiert sein, etwas, das nicht warten kann, bis sie sich morgen wiedersehen. Nannas Gehirn explodiert in einer Serie von Schreckensvisionen, ihr Körper fühlt sich halb gelähmt an, wie nach einem Schlaganfall.
»Ich habe ihn in den kleinen Salon geführt.« Madame hebt die sich wehrende Mariclô vom Boden auf, streicht ihr Kleid mit schnellen Handbewegungen glatt. »Sie sollten mit ihm reden.«
Das piepsende Weinen des kleinen Mädchens folgt ihr auf den Flur. Irgendwo in der Wohnung klingelt ein Telefon, sie hört Madame den Flur entlangklappern, ihre wütende Stimme, die das Kind zum Stillsein ermahnt.
Yann steht mit dem Blick zur Tür auf dem dunkelroten Teppich, der wie eine Insel auf dem Parkettboden des Salons liegt, ein Schiffbrüchiger, zwischen den zerbrechlichen Möbeln des Zimmers an Land gespült.
»Was ist passiert?«
»Ma feuille de route. Mein Einberufungsbescheid.« Seine Hand legt sich um ihren Nacken, streichelt ihn mechanisch. »Ich fahre morgen ganz früh nach Hause.«
»Wann?« Sie klammert sich mit beiden Händen an seine Jacke, er ist bereits dabei, sich aus ihrer Reichweite zu entfernen, unbeschützt, ausgesetzt. »Wann kommst du zurück?«
»Ich will Mutter um Erlaubnis bitten, daß wir heiraten dürfen, bevor ich fort muß.«
Er hat sich aus ihrem Griff befreit, ergreift ihre Hände, er hat um meine Hand angehalten, denkt sie, aber sie fühlt keine Freude, statt dessen schickt die Panik Funken durch ihr Gehirn, sie starrt Yann an, hilflos, findet keine Worte.
Ihre Briefe an den Vater haben von Ausflügen mit Freundinnen erzählt, von Abenden im Café, aber sie hat nie Yanns Namen erwähnt, instinktiv hat sie ihn gegen Vaters kühle Beurteilung beschützt, dagegen, entblößt zu werden, gewogen und als zu leicht befunden zu werden.
Jetzt will, jetzt muß sie alles beichten.
»Willst du?«
Das leise Knarren der Tür hinter ihnen, Mariclôs Gesicht in der Türöffnung, die Tränen sind jetzt verschwunden, ihr klarer Blick ist auf Yann gerichtet, ohne ein Zeichen von Wiedererkennen zu zeigen.
»Maman will mit Nanna reden«, sagt sie.
»Ich muß jetzt gehen.«
Sie nimmt das Kind bei der Hand. Eine Welle hat sie erfaßt und zieht sie vom Land fort, sie greift nach einem Halt, will den Boden unter den Füßen nicht verlieren.
»Willst du nicht?«
Seine Augen sind unsicher unter der Sorgenfalte auf der Stirn.
»Doch, doch.«
Sie will um etwas Zeit bitten, aber es gibt keine Zeit. Sie nickt mit geschlossenen Augen, fühlt seine Wange, so heiß, seine Arme, die ihren Körper so fest halten, daß sie kaum noch Atem holen kann.
Mit der Hand des Kindes in ihrer bleibt sie stehen und sieht ihn die Treppen hinunter verschwinden, hört seine laufenden Schritte, die zwischen den marmorverkleideten Wänden des Treppenhauses widerhallen, den schweren Klang der Tür, die hinter seinem Rücken zufällt.
»Nanna.« Mariclô zupft leicht an ihrer Hand, zeigt mit einem kleinen Finger. »Yann«, sagt sie, und ihre Nase kräuselt sich vor Anstrengung.
Sie hebt das Kind hoch und schaut in dessen ernste Augen.
»Ja«, sagt sie, »das ist Yann.«
Das Kind hängt auf ihrer Hüfte wie ein Tier, hüpft bei jedem Schritt, den sie zurück in ihr Zimmer geht, auf und ab. Die Wärme des kleinen Körpers und dessen leichtes Gewicht dämpft ihre Unruhe, aber das Herz schlägt ihr immer noch vogelartig in der Brust.
Madames Stimme erreicht sie aus dem Eßzimmer.
»Ihr Vater hat angerufen.«
Jede Ader in ihrem Körper hat sich geöffnet, die Wärme schlägt ihr auf die Haut.
»Er wollte wissen, wann Sie planen, nach Hause zu fahren.« Die Augen in dem hübschen Gesicht leuchten mißtrauisch. »Das hat mich verwundert.«
Nanna sucht nach den Worten, die ihr eine Frist einräumen, Zeit um nachzudenken, sie klopft nervös den schmalen Rücken des Kindes.
»Ich wollte Ihnen schon sagen, daß ich gern mit in die Provence kommen kann.«
Das ist ein spontaner Einfall, aber Madame hat schon vorher mehrere Male laut vernehmlich geseufzt bei dem Gedanken an einen ganzen August ohne Kindermädchen.
»Ja, warum nicht?«
Ein Achselzucken unter der eleganten Seidenbluse, keine offensichtliche Begeisterung, aber es ist geglückt, sie ist in Sicherheit, jedenfalls für eine Weile.
»Ich werde meinem Vater schreiben«, sagt sie und läßt die Worte so leicht klingen, wie es nur geht.
Ihre Knie zittern immer noch, als sie die Zimmertür hinter sich schließt. Die Gedanken poltern wie fallende Kegel in ihrem Kopf herum.
Die Universität, die auf sie im September wartet, der Traum ihres Vaters, ihr eigener Wunsch, das wohlgeordnete Leben, die klar abgesteckten Bahnen. Eine Bühne, die bereitsteht und nur von ihr fordert, daß sie ihre Rolle einnimmt. Jetzt empfindet sie das Ganze als fiktiv, eine Fata Morgana. Sie weiß nicht, ob sie noch immer imstande sein würde, ihren Platz in dieser Schattenwelt einzunehmen, aber sie weiß, daß sie es nicht mehr will.
»Nanna.« Mariclô dreht Nanna ihr Mausgesicht zu, drückt ihre Knie fest gegen ihre Hüfte. »Bleibst du?«
»Ich bleibe«, sagt Nanna, und plötzlich gluckert Lachen aus ihrem Zwerchfell. Sie dreht das Kind immer wieder im Kreis herum in dem luftigen Zimmer, immer und immer wieder, bis beide vor schwindliger Freude keuchen.
Sechs Uhr dreißig. Der Wecker. Der schläfrige Gang ins Badezimmer, Bluse und Rock, leichte Sandalen. Die Schlange im Milchgeschäft, sie schirmt sich gegen die lauten Stimmen ab, verteidigt ihren Platz, nickt flüchtig der Frau vom Nachbartreppenhaus zu. Das Brot gegen den Körper gepreßt, warm wie tröstende Hände. Dann die Kaffeemühle, das blubbernde Geräusch, wenn der Perkolator anspringt, der intensive Duft der Kräuter, der die Küche ausfüllt.
Mariclôs Arme um ihren Hals, das schläfrige Gesicht über den Spitzen des Nachthemds, sie ißt mit Nanna in der Küche ihr Frühstück, taucht das Brot in die Schale mit warmem Kakao, außer Reichweite der Verhaltensregeln des Eßzimmers und der scharfen Stimmen.
Auf der Place des Vosges, wo Mariclô jeden Vormittag mit ihrer kleinen Schaufel kratzt, wartet Nanna darauf, daß Yanns vertraute Umrisse unter den Ulmen auftauchen, eine Hungernde, die auf Brot wartet. Ihre Bank ist von anderen jungen Paaren besetzt, die mit ihren Schuhspitzen Muster in den Kies zeichnen und verstohlene Händedrücke austauschen, flüchtige Küsse.
Der Sprachkurs ist jetzt abgeschlossen, die wenigen Bekannten, die sie dort kennengelernt hat, sind in alle Winde zerstreut, und sie bietet ihre Hilfe an, benutzt die Pflichten, um ihre Unruhe zu zügeln. In den Stunden, die bisher ihre Freizeit ausmachten, folgt sie der nach Chlor riechenden Spur der Putzfrau, wischt Böden und reibt Kacheln blank. Die Erschöpfung holt sie jeden Abend ein, und sie schläft, traumlos, bis das schrille Klingeln des Weckers sie wieder wachrüttelt.
Der Vormittag ist strahlend blau, als Nanna aus der Metro herauskommt. Die Angst vor dem langen, einsamen Sonntag hat ihren Magen zusammengeschnürt, seit sie Mariclô zum traditionellen Sonntagsspaziergang mit der Großmutter angezogen hat, zum Schluß hat sie Nanna auf die Straße getrieben, wie einen Schlafwandler in die belebten Viertel um den Gare Montparnasse, hin zum Restaurant des Onkels. Mehr als eine Woche ist seit dem letzten Lebenszeichen von Yann vergangen. Vielleicht ist er ja immer noch in der Bretagne. Die Unsicherheit darüber, was sie erwartet, raubt ihr den Atem.
Der Boulevard wimmelt vor Menschen in Sonntagskleidung, Familien mit Kleinkindern in Klappkarren, kleinen Jungs in knielangen Shorts, Mädchen in hellen Kleidern, groß genug, daß sie hineinwachsen können. Die alten Paare humpeln an ihren Stöcken davon, ihre winterbleiche Haut kann das Tageslicht nach der langen Zeit der Dunkelheit kaum ertragen, die abgewetzten Stellen auf den dunklen Hosen der Männer glänzen in der Sonne.
Nanna bahnt sich ihren Weg durch das Gewimmel. Vor dem Restaurant bleibt sie stehen, tut so, als würde sie die Speisekarten in den Glaskästen betrachten, späht jedoch durch die großen Scheiben hinein. Einige der Kellner, die sie kennt, sind dabei, alles für die Essensgäste vorzubereiten, sie polieren Gläser mit weißen Tüchern, gleiten wie dunkle Fische zwischen den Tischen hindurch, glänzendes Besteck blinkt in ihren Händen. Ihre Lippen bewegen sich, aber sie kann nicht hören, was sie sagen. Weder den Onkel noch Yann kann sie erblicken.
Der Kellner, den sie am besten kennt, steht plötzlich in der Tür, ein Hauch von Mitleid ist in seinen neugierigen Augen zu sehen.
»Er kommt erst in einer Stunde.«
Die verschmähte Liebhaberin, die im Stich gelassene Braut, eine lächerliche Figur in jeder Beziehung. Der Fluchtimpuls ist überwältigend, trotzdem bleibt sie stehen.
Der Kellner hat sich bereits umgedreht, um wieder hineinzugehen.
»S’il vous plaît.«
»Oui?«
»Wo finde ich ihn?«
Sie sieht ihm direkt in die Augen, unterdrückt das Zittern in ihrer Stimme.
»Woher weiß ich, daß er dich sehen will?«
Der Kellner läßt eine Hand durch sein glänzend schwarzes Haar streichen, sein Blick ist etwas unsicher.
»Das will er.«
Sie hält seinen Blick fest, bis er die Achseln zuckt.
»Aber sei etwas diskret, ja?«
Er beugt sich vor, zeigt mit dem Daumen.
»Im vierten Stock«, sagt er und verschwindet wieder pfeifend im Restaurant.
Der Geruch nach Fritieröl und heißem Seifenwasser bildet in dem schmalen Treppenschacht eine fettige Spirale. Sie schleicht sich mit angehaltenem Atem an einer mattierten Glastür vorbei. Die Tür steht einen Spalt offen, und sie kann die Umrisse von Menschen dahinter erkennen, deren fleckenfreie Baumwollpullover und knisternde weiße Schürzen sie wie Pfleger in einer altmodischen Anstalt aussehen lassen, geisterhafte Wesen, die sich in dem Dunst bewegen. Ein Messer blitzt, die dumpfen Schläge eines Fleischklopfers punktieren den Lärm lauter Stimmen, klappernder Küchengeräte.
Die Türen mit dem verschrammten Metallbeschlag sehen aus, als könnten sie jeden Moment auf ihren abgenutzten Scharnieren aufschwingen und unbeschreibliche Gefahren freilassen. Hinter einer meint sie plötzlich die wütende Stimme des Onkels zu hören, dazu eine Frau, die ihm antwortet, schluchzend, in Tränen aufgelöst.
Der Schreck läßt sie stolpern, sie schlägt sich an der obersten Stufe der Treppe das Knie auf, bringt sich atemlos hinter einer halboffenen Tür in Sicherheit.
Fünf braun gestrichene Türen. Ein angelaufenes metallenes Waschbecken am Ende des Flurs, eine einen Spalt offene Tür zu einem Stehklo, der Metallstift der Wasserspülung klemmt, ein gebogenes Ausrufungszeichen. Die Luft in dem engen Flur ist schwer von warmem Staub, Naphtalin und Urin.
Mit pochenden Schläfen steht sie im Dämmerlicht des Dachfensters. Sie horcht angespannt in die Stille, kann aber keine menschlichen Geräusche hören, nur das Rauschen in den Rohren, die entlang der Flurdecke verlaufen, das Fallen des Wassers in einem Abfluß ein Stück entfernt.
Ein dunkelbrauner Schmetterling fliegt irgendwo aus den Schatten herauf, flattert samten vor ihrem Gesicht dahin und läßt sich still auf einem Türpfosten nieder.
»Yann.«
Ihre flüsternde Stimme ist rauh, sie räuspert sich, versucht es noch einmal.
Irgendwo hinter einer Tür knackt eine Bodendiele. Dann steht er da, eine Silhouette vor dem Licht aus dem Zimmerfenster, sie sieht die kleinen Härchen auf seinen Schultern in dem kräftigen Gegenlicht, goldene Daunen auf einer Frucht, und sie will ihn berühren, kann es aber nicht.
Stumm läßt er sie an sich vorbeigehen, ins Zimmer, schließt sorgfältig die Tür hinter ihr. Dreht ihr den Rücken zu, um ein Handtuch von einem Metallständer neben dem Waschbecken in der Zimmerecke zu nehmen. Sie starrt ihn wortlos an, sieht die Rasierutensilien auf dem Bord, die weißen Schaumspritzer auf dem Spiegel.
Hinter der Tür bleibt sie stehen und sieht, wie er sich das Gesicht abtrocknet, ein weißes Hemd von einer Stuhllehne nimmt, ihrem Blick ausweicht. Sie folgt ihm mit den Augen, während er sich die schwarze Schleife vor dem Spiegel umbindet, die Schaumspritzer mit dem Handrücken wegwischt. Seine Bewegungen sind abgemessen, energisch, ein Mann, der sich auf die entscheidende Schlacht vorbereitet und keine Kräfte verschwenden will. Ein fremder Mann, der ihr den Rücken zuwendet, seinen Gürtel öffnet, um das Hemd hineinzustopfen, es gerade zieht, sich aufrichtet und das Hemd mit mechanischen Bewegungen zuknöpft, sich wappnet.
Die Worte sammeln sich zu Sätzen in ihrem Mund, aber die Zunge klebt ihr am Gaumen, und sie ist stumm, außerstande, die Formel zu finden, die ihn wieder in Yann verwandelt, und sie kann es nicht in diesem Zimmer mit einem Fremden aushalten.
Die Tränen blenden sie, als sie stolpernd auf den Flur läuft, da hört sie seine Stimme hinter sich.
»Nanna.« Die Stimme klingt belegt, als hätte er seit vielen Tagen nicht mehr gesprochen. »Ich wäre gekommen.«
Er zieht sie wieder zu sich ins Zimmer, auf das ungemachte Bett.
»Ich wäre gekommen«, wiederholt er.
Auf seiner Oberlippe zeichnen sich Schweißtropfen ab, ein Blutstropfen an seiner Wange ist fast getrocknet, sie reibt ihn mit einem Finger weg.
»Sie hat nein gesagt.« Die Knöchel in ihren Händen schmerzen unter seinem Druck. »Ich bin alt genug, sie muß mir keine Erlaubnis geben, aber du verstehst nicht, was das bedeutet, meine Mutter und ich.«
Ein anderer hat die Entscheidung für sie getroffen, vielleicht ist das trotz allem das beste.
»Mein Vater«, sagt sie, will damit trösten, »der weiß nicht mal, daß es dich gibt.«
Sie spürt, wie er erstarrt, ihre Hände losläßt.
»Was willst du damit sagen?«
»Ich wollte es ihm sagen. Später.«
»Später? Wenn ich tot bin?«
Sie sieht an seinem verletzten Blick, daß sie ihn verraten hat, so wie er sie verraten hat, sie sind beide gefangen in dem Schatten ihrer Eltern, einem undurchdringlichen Netz.
»Soll ich gehen?« flüstert sie und hört, wie er nach Atem ringt.
»Wenn es das ist, was du willst.«
Seine Faust landet auf der Matratze, daß die Federn singen. Sie kommt auf die Beine, steht unentschlossen vor ihm.
Die Schweißflecken auf dem weißen Hemd, das Haar, das an der Stirn klebt, trotz der Scham in seinen Augen ist es ihr Mann, den sie jetzt sieht, und es besteht zwischen ihnen kein Abstand mehr, nur die verzweifelte Lust der überstandenen Anspannungen.
Die Honigsüße der Lindenbäume strömt durch das offene Fenster herein, vermischt sich mit dem Salz auf seiner Haut, der leichten Bitternis des Schweißes, und sie werden zu Zungen und Lippen, zu Zähnen und nackter Haut, eine Wildheit, die sie wie Beutetiere schüttelt, bis sie atemlos liegenbleiben.
Yann hat sich halb aufgerichtet, wühlt in einer Hosentasche.
»Warte.«
Sie nimmt ihm das kleine Päckchen aus der Hand.
»Nein«, sagt sie.