Читать книгу Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen - Страница 8

September 1961

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»Dein Vater ist kleiner geworden«, sagt die Stiefmutter.

Nanna hat ihr mit dem Abwasch nach dem Mittagessen geholfen, jetzt sitzen sie beide mit ihren Kaffeetassen vor dem Kamin im Wintergarten. Vater ruht sich in seinem Zimmer oben aus, müde von der Arbeit des Vormittags mit dem halbwüchsigen Jagdhund, der jetzt in seinem Korb an der Gartentür liegt und im Schlaf piepst.

Nanna zupft mit ihren Nägeln an einem losen Faden in der Armlehne des Sofas. Sie hat es auch gesehen, möchte es aber am liebsten nicht wahrhaben. Vater ist nach unten gewachsen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hat, er ist grau und eingefallen geworden. Seine Wangen hängen, Cockerspanielohren über dem faltigen Hals, das ist jetzt deutlich zu sehen, wo er nicht mehr täglich einen Schlips trägt, sondern sich weiche Hemden mit Halstüchern und Tweedjacken angeschafft hat, der perfekte Country-Gentleman.

Das runde Gesicht der Stiefmutter unter dem aschblonden Haar hat senkrechte Falten bekommen, sie ist fünfundvierzig, sitzt mit einem herzkranken Mann weit draußen auf dem Land. Das Haus ist groß und schwer instand zu halten, mit Kaminen und Öfen in allen Zimmern, Vater will lebendiges Feuer um sich haben, friert aber in den hohen Räumen, wickelt sich in Decken ein. Die große unpraktische Küche schreit geradezu nach einer Hilfe, aber Nanna ahnt, daß die Frau, die ein paarmal in der Woche kommt und »das Gröbste macht«, wie die Stiefmutter sagt, alles ist, was das Budget erlaubt. Vater will mit Stil leben, und sein Bekanntenkreis, der aus seinen alten Jagdkameraden aus dem niederen Landadel der Gegend besteht, fordert ein gewisses Niveau hinsichtlich der Gastfreundschaft.

Nanna fühlt sich wie eine Fremde in der ländlichen Umgebung. Das Haus ihrer Kindheit existiert nicht mehr, es wurde zusammen mit der Anwaltspraxis nach Vaters drittem Herzinfarkt veräußert. Hier in diesem Haus hat sie nie gelebt. Das letzte Gymnasiumsjahr hat sie in einem Internat verbracht, in dem sie kaum ihre Klassenkameraden kennenlernen konnte, in der kurzen Zeit bis zu den Examensprüfungen.

Jetzt sitzt sie hier in der finsteren Provinz, auf einem geblümten, etwas abgenutzten Kaminsofa, und schaut ihre Stiefmutter über den Rand der Kaffeetasse an.

Die Stiefmutter atmet mühsam, als sie sich vors Feuer kniet und mit dem Schürhaken die Glut schürt, ihr fehlt die Geschicklichkeit, sie versprüht nur Funken, ohne daß das Feuer richtig fängt. Sie hat in den letzten Monaten einiges zugenommen, wie Nanna sehen kann, ihr Hinterteil wölbt sich kürbisartig unter dem engen Rock, das kann nicht in Vaters Sinne sein, er haßt dicke Frauen. Nannas lange, schlanke Figur hat sie von der Mutter geerbt, die sie nie kennengelernt hat und die Vater in allen möglichen Zusammenhängen hervorhebt, ohne daran zu denken, daß er damit seine Frau verletzt.

»Ich kann es versuchen.«

Nanna nimmt der Stiefmutter den Schürhaken aus der Hand. Sie schubst vorsichtig die glühenden Holzstücke beiseite, schiebt ein wenig Rinde dazwischen und läßt so das Feuer wieder aufflackern. Sie kniet mit ausgebreiteten Armen vor dem Kamin, die Fahrradfahrt im Septemberregen vor dem Essen, um auf dem nächsten Hof frische Eier zu holen, sitzt ihr immer noch in den Knochen, eine feuchte Kälte.

Nanna spürt den Blick der Stiefmutter, als sie aufsteht. Auch wenn sie weiß, daß ihr bis jetzt unmöglich etwas anzusehen ist, fühlt sie sich ertappt. Nanna hat keinen Zweifel, daß die Stiefmutter ihr keine Hilfe sein wird bei dem, was ihr bevorsteht. Ihr Vater konnte schon immer seine beiden Frauen vorzüglich gegeneinander ausspielen.

Sie kriecht in die Sofaecke und streckt sich nach ihrer Tasse, schüttelt sich ein wenig. Außerhalb des warmen Halbkreises vor dem Kamin ist die Luft kühl, ihre Nasenspitze ist kalt wie eine Hundeschnauze.

»Dieser Yann, von dem du erzählt hast«, sagt die Stiefmutter und greift nach der Kaffeekanne. Nanna kann hören, wie sie sich anstrengt, ihre Stimme leicht klingen zu lassen. »... heißt er wirklich so?«

»Jean heißt er auf französisch«, erklärt sie neutral. »Yann ist bretonisch. Das ist eine ganz andere Sprache«, fährt sie fort, erleichtert, über ein Thema reden zu können, von dem die Stiefmutter garantiert nichts weiß. Sich einen Moment überlegen fühlen dürfen, akademische Rauchschwaden über den forschenden Frauenblick der Stiefmutter legen zu dürfen. Man kann viel von Nannas mürrischer Stiefmutter behaupten, die eine Vergangenheit als Arzthelferin bei ihrem ersten Mann hinter sich hat, aber an Intuition fehlt es ihr nicht.

»Wie groß ist das Hotel, das er besitzt?« Zunächst läßt die Stiefmutter ein Stück Würfelzucker in ihre blaugeblümte Kaffeetasse fallen, dann, nach einigen Sekunden des Zögerns, noch eins.

»Ziemlich groß«, antwortet Nanna ungenau. Ihr kommt der Gedanke, daß die Stiefmutter vielleicht die Aufgabe übertragen bekommen hat, herauszufinden, ob Yann eine akzeptable Partie ist. Sie versucht sich Vaters Blick auf dem massiven weißgekalkten Gebäude vorzustellen, auf der Bar mit den Spielautomaten, in der die Fischer am späten Nachmittag an dem glänzenden Tresen hängen, wenn das Hochwasser sie und ihre Boote sicher an Land gebracht hat.

»Ziemlich groß«, wiederholt sie und leert ihre Kaffeetasse mit einem Schaudern. Der Geschmack von Kaffee beginnt bei ihr Übelkeit zu erregen, aber sie traut sich nicht, ihn stehenzulassen und dadurch das Mißtrauen der Stiefmutter zu erwecken. Wenn es nicht sowieso schon geweckt wurde.

»Dein Vater denkt oft an dich.«

Die Stiefmutter rührt umständlich in ihrer Tasse, den Blick dabei auf die Flammen im Kamin fixiert. Es scheint, als suche sie nach einem Weg, die Informationen aus Nanna herauszukitzeln, ohne daß diese es bemerkt. Nanna bekommt das unangenehme Gefühl, daß ihr Tun und Lassen ein viel häufigeres Gesprächsthema zwischen ihrem Vater und seiner Frau ist, als sie angenommen hat.

»Ich denke auch oft an ihn«, sagt sie, um weiteren diesbezüglichen Äußerungen zuvorzukommen. »Ist das nicht etwas zuviel für ihn mit dem Hund? Der ist doch so wild.«

»Aber das ist doch alles, was er hat.«

»Nun ja, er hat doch immer noch dich.«

»Auf mich ist er meistens nur wütend.« Die Stiefmutter seufzt. »Er ist so froh, daß du wieder zu Hause bist.«

Etwas in ihrem Ton läßt Nanna aufhorchen. Sie drückt das Kissen in ihrem Rücken zurecht.

»Mmmm«, sagt sie nur, um Zeit zu gewinnen.

»Bei unserem Kaufmann haben sie erzählt, daß sie in der Schule hier eine Vertretung brauchen«, fährt die Stiefmutter fort. »Du fängst mit dem Studium doch sowieso nicht vor dem Januar an, oder? Und es wäre so schön für deinen Vater, wenn er mehr mit dir reden könnte.«

Ein Gefühl der Panik steigt in Nanna auf. Sie sieht sich selbst, gefangen in ihrer Sofaecke, ein Tier in der Falle, gebunden an Händen und Füßen durch Rücksicht und Erziehung, brav und unproblematisch wie immer.

Wenn nicht das geschehen wäre, was sie nicht mehr lange wird verbergen können, hätte sie wohl kaum die Kraft, sich freizukämpfen, hätte es sicher nicht einmal gewünscht. Aber jetzt ist sie dazu gezwungen.

Sie denkt an den Brief, der unterwegs ist, irgendwo in Europa. An einen kleinen blauen Brief mit einer großen Neuigkeit.

Eine Kröte mußte ihr Leben lassen, bevor der Brief abgeschickt werden konnte. Eine Kröte – oder war es ein Frosch – bekam durch Nannas Urin angeschwollene Eierstöcke, eine Laborassistentin las in ihren Eingeweiden wie ein Augur, und Nanna schrieb mit klopfendem Herzen ihren Jubelbrief und schmuggelte ihn in die Tasche des Landbriefträgers, ohne daß die Stiefmutter es sah.

In ein paar Tagen wird Yann in der Sonne vor dem Gebäude der Truppenbetreuung in der Kaserne in Marseille stehen und den Umschlag mit ungeduldigen Fingern aufreißen.

»Nun ja, du bist hier jedenfalls jederzeit willkommen«, sagt die Stiefmutter, und das klingt, als erwarte sie eine Antwort.

»Mmm.« Nanna zögert. Man kann nie wissen, was aus ihren Worten in der Version der Stiefmutter wird. »Paris ist ja auch eine Möglichkeit«, sagt sie vorsichtig. »Wenn ich nicht arbeiten muß, könnte ich mich auf mein Studium konzentrieren. Ich könnte mir ein Zimmer nehmen, das muß gar nicht so teuer sein.«

Die Zeit ausdehnen. Konfrontationen vermeiden. Darum herumkommen, etwas zu erzählen, bevor Yann und sie alles geregelt haben.

»Dein Vater kann dir ja nie etwas abschlagen.« Plötzlich klingt die Stiefmutter verbittert. »Das Internat hat ein ganzes Jahr lang unseren Etat bis aufs äußerste strapaziert.«

»Aber ihr habt das Haus hier kaufen können.«

Die Kleinlichkeit der Stiefmutter hat sie schon immer peinlich berührt. Sogar in den Jahren, als die Anwaltspraxis des Vaters blühte und das Geld reichlich hereinfloß, konnte sie am Eßtisch sitzen und sich lang und breit darüber auslassen, wieviel der Wurstaufschnitt gekostet hatte.

Die Stiefmutter schnaubt leise.

»Ja, leider Gottes«, sagt sie, und Nanna sieht aus den Augenwinkeln, daß ihr rundes Gesicht, in dem die aufgerissenen braunen Augen unter den hellen Ponylocken eine große Ähnlichkeit mit einem verwöhnten Pudel heraufbeschwören, sich zu einer feindlichen Miene verzieht.

Ein Holzscheit ist durchgebrannt und fällt mit einem zischenden Laut auf den Kaminboden zusammen.

Nanna steht auf und stellt die Tassen zusammen.

»Ich werde selbst mit Vater darüber reden«, sagt sie.

Die altmodischen Kopfsteine auf dem Hofplatz zwischen dem Haus und dem kleinen Stallgebäude zeigen immer noch feuchte Flecken, auch wenn der Regen inzwischen aufgehört hat. Die großen Kastanien hängen voll mit den stacheligen Früchten, die noch fest an den Zweigen sitzen, und die fingrigen Blätter haben noch ihre dunkelgrüne Sommerfarbe.

Nanna steht am Dachbodenfenster und schaut zu ihrem Vater hinunter, der sich nach seiner Mittagsruhe wieder angezogen hat. Jetzt steht er mitten auf dem Hofplatz und ruft dem ungestümen Hund zu, dem er mit großer Mühe und der Hilfe der Stiefmutter Halsband und Leine anlegen konnte.

Nanna ist vor dem scharfen Ton, der zwischen den Eheleuten herrscht, in das Zimmer geflüchtet, das als das ihre bezeichnet wird, das ihr jedoch ein starkes Gefühl der Peinlichkeit gibt mit all seinen Erinnerungen an die Teenagerjahre in ihrem alten Zimmer. Stapel von rosa Kissen auf ihrem Jungmädchenbett, der kleine weiße Schminktisch, die Christel-Zeichnungen auf den geblümten Tapetenwänden – das alles gehört zu einer anderen, sehr viel kindlicheren Person.

Unten auf den runden Steinen macht der Hund übermütige Sprünge um die in Gummistiefeln steckenden Beine ihres Vaters, wirft ihn vor lauter kläffendem Eifer fast um. Sein glänzendes Fell funkelt in der Nachmittagssonne kastanienbraun.

»Sitz!«

Vater zieht kurz an der Hundeleine. Das Tier läßt sich für einen Moment stoppen, wirft sich dann jedoch in einem Bogen nach hinten, landet vor den Füßen des Vaters auf dem Boden und wedelt frohgelaunt, wobei ihm die Zunge aus der Schnauze hängt.

»Sitz! Sitz!«

Der Hund stupst ihn mit der Schnauze, wirft sich gegen sein Bein, zieht und zerrt an der Leine. Vater müht sich ab, das Hinterteil des Hundes auf den Boden zu bekommen, aber der große Welpe leistet energischen Widerstand, windet sich unter seinen Händen, daß der Mann fast hinfällt.

Nannas Vater ist es gewohnt, Macht über die Dinge zu haben, sein herrisches Wesen hat den Rahmen ihres Daseins abgesteckt, solange sie denken kann. Jetzt wird sie verlegen, weil sie mit ansehen muß, wie er einem Tier gegenüber machtlos ist. Einem lebhaften Welpen, der nur dazu da zu sein scheint, um Vaters Gebrechlichkeit zu zeigen. Sie tritt einen Schritt vom Fenster zurück, hat Angst, Vater könnte entdecken, daß er beobachtet wird.

Da sieht sie plötzlich die Peitsche in Vaters Hand. Sie hat die Hundepeitsche am Haken in der Halle hängen sehen und sich an die vielen Male erinnert, bei denen sie sich als Kind die Finger in die Ohren steckte, wenn Vater seine Jagdhunde bestrafte. Nie hat sie die Notwendigkeit der Peitschenschläge in Frage gestellt, ebensowenig wie alles andere, was ihr bewunderter Vater tat. So dressiert man halt Hunde, hatte er erklärt, und damals hatte sie genickt und geschwiegen und ihre Ohren vor dem Schmerzgejaul der Hunde verschlossen. Jetzt spürt sie eine unbekannte Wut in sich aufsteigen. Sie will ihrem Vater zurufen, daß der Hund doch nur jung und fröhlich ist und keine Strafe verdient, doch sie bleibt stumm hinter der Scheibe stehen.

Vater hebt den Arm ein ums andere Mal, läßt die Peitsche herabsausen. Seine gebeugte Gestalt in der dicken Tweedjacke verliert vor ihren Augen die Proportionen, wird zu einem drohenden Schatten vor der gekalkten Wand des Stalls. Nanna hört das erschrockene Aufheulen des Hundes, der jetzt auf dem Boden entlangkriecht, verängstigt und gedemütigt, und sie wünschte, er würde sich losreißen und Vater beißen, der weiter zuschlägt, daß die Peitsche durch die Luft zischt.

»Poul!«

Die Stimme der Stiefmutter. Nanna sieht die dicke Gestalt über das Kopfsteinpflaster auf viel zu hohen Absätzen trippeln und Vaters Arm, der herabsinkt, ein mechanisches Spielzeug, dessen Feder langsam ausschwingt.

»Misch dich da nicht ein.«

Nanna kann hören, daß er kaum die Worte herausbekommt, er keucht vor Erschöpfung und Erregung. Der Hund ist auf die Beine gekommen, zieht an der Leine, daß er fast das Gleichgewicht verliert.

»Du kannst das doch nicht ertragen.«

Die Stiefmutter hat ihren Kopf schräg geneigt, streckt die Arme in einer flehenden Geste aus. Die Taktik aller Frauen, wenn es um Vater geht. Bitten und demütig hoffen, daß er sich herablassen wird, ihnen das zu geben, was sie wünschen.

Die Taktik aller Frauen, einschließlich ihrer selbst.

Nanna schließt die Augen, um diese peinliche Szene nicht mit ansehen zu müssen, um nicht daran denken zu müssen, daß sie in ein paar Stunden, ein paar Tagen, gezwungen sein wird, selbst den Vater anzuflehen, ihr die Erlaubnis zu geben, das zu tun, was sie tun muß. Als sie die Augen wieder öffnet, ist ihr Vater auf dem Weg ins Haus, wobei er sich schwer auf die Schulter der Stiefmutter stützt. Nanna kann hören, daß die Stiefmutter leise mit ihm spricht, aber die Worte zerreißt der Wind. Die Peitsche hängt schlaff in seiner Hand.

Auf dem Weg die breite Steintreppe hinauf bleibt er plötzlich stehen, guckt zu Nannas Fenster hinauf. Eine Sekunde lang treffen sich ihre Blicke.

Das werde ich büßen müssen. Der Gedanke kommt ihr, ohne daß sie es will, und sie schiebt ihn schnell wieder beiseite, peinlich berührt über die eigenen Gedanken. Sie hebt die Hand zu einem Gruß, aber der Vater dreht seinen Kopf weg, steigt mit schweren Schritten die Treppe hinauf, geht ins Haus. Der Hund folgt ihm auf dem Fuße, er hat die Schläge bereits vergessen und wedelt fröhlich mit dem Schwanz, bereit für ein neues Spiel.

»Ein kleines Glas Sherry?«

Vater füllt Nannas Glas mit der hellgelben Flüssigkeit aus der geschliffenen Karaffe, die er aus dem Barschrank geholt hat. Sich selbst schenkt er einen Fingerbreit Whisky ein.

»Aber sag ihr nichts.« Er winkt mit seinem Glas, zwinkert Nanna zu.

Nanna erwidert sein Lächeln.

Vielleicht hat ihr Vater beschlossen, lieber zu verdrängen, daß sie die Szene mit dem Hund mit angesehen hat. Wenn sie dadurch gewissen Repressalien entgeht, spielt sie gern die Rolle, die ihr Vater ihr zuweist: die Verbündete gegenüber der immerwährenden Bevormundung durch die Stiefmutter. Sie kann mit jedem Tag besser mit den Rollen umgehen. Ob das gut oder schlecht ist, weiß sie nicht, sie weiß nur, daß es notwendig ist.

Zögerlich nippt sie an dem knochentrockenen Sherry, unsicher, wie ihre veränderten Geschmacksnerven reagieren werden. Aber zum Glück schmeckt der Sherry, wie er schmecken soll.

»Einige Frauen können keine Krankheiten ertragen. Physische Schwäche macht sie gluckig«, fährt Vater in dem munteren Konversationston fort, den er in Gesellschaft gern anwendet, »vor allem solche, die keine Kinder haben.«

»Aber das ist doch nur Fürsorge.« Vorsichtig schlägt Nanna einen nachsichtigen Ton an. Eine gewisse Verteidigung der Stiefmutter gehört in ihr gewohntes Muster. Eine allzu offensichtliche Verachtung kann nach hinten losgehen, das weiß sie aus Erfahrung.

»Du solltest sie nur hören.« Vater gluckst wie eine Henne, äfft die Stimme der Stiefmutter nach, ihren charakteristischen leicht fettigen, belegten Klang. »Poul, du darfst keine Butter essen, nein, auch nicht auf den Brötchen, sieh doch, hier, diese herrliche Diätmargarine, sieh doch, Poulchen, ich esse sie auch, hm, richtig lecker.«

Nanna kann nicht anders, sie muß lachen. Vaters Nachahmung der Stiefmutter trifft präzise und bösartig.

»Pst, da kommt sie.« Vater hat sich vor den Kamin gestellt, das Whiskyglas auf dem Rücken. Die klappernden Absätze der Stiefmutter nähern sich über das Parkett des Eßzimmers, kurz darauf steht sie in der Tür. Nanna unterdrückt ein Kichern, setzt eine neutrale Miene auf.

»Kann ich bei irgend etwas helfen?« fragt sie höflich, aber die Stiefmutter schüttelt den Kopf.

»Ich wollte nur ein bißchen Madeira für die Soße holen«, erklärt sie, »Doktor Schmidt hat das Rezept erlaubt«, fügt sie hinzu und winkt verkrampft schelmisch mit der grünen Flasche. »Macht ihr es euch nur gemütlich.«

Als die Stiefmutter wieder verschwunden ist, verzieht Vater das Gesicht.

»Kannst du dir vorstellen, daß es nur mit uns beiden manchmal reichlich anstrengend ist?« Er hebt sein Glas. »Es wird schön, wenn du wieder zu Hause bist.«

Nanna nimmt einen Schluck von ihrem Sherry, trifft Vaters Blick über den Glasrand.

»Ich wollte dich eigentlich etwas fragen«, sagt sie und merkt, wie sie unter Vaters Blick aus dem Konzept kommt.

»Und was?« Vaters graue Augen haben plötzlich den alten Stahlschimmer. Diesem Blick hat sie nie etwas verbergen können.

Jetzt gebe ich klein bei, dieser Gedanke durchzuckt Nanna, ich krieche wie ein Hund.

»Ich möchte so gern zurück nach Paris«, sagt sie und hört, wie ihre Stimme einen kindlichen Ton annimmt, sie erschaudert vor Ekel über die Rolle, in die sie widerstandslos hineinrutscht, aber jetzt ist das zumindest gesagt.

Vater stellt sein leeres Glas auf den Tisch.

»Ach ja?« sagt er. Nanna erkennt den kühlen Klang wieder aus der Zeit, als sie ihm zuhörte, wie er in einem Gerichtssaal Prozesse führte.

»Ich könnte mich dort auf mein Studium vorbereiten.«

Sie horcht selbst dieser Lüge nach, wundert sich, daß sie ihr so leichtfällt. Früher hätte sie gleich aufgegeben, hätte viel zuviel Angst gehabt, entlarvt zu werden, um auch nur einen Versuch zu starten.

»Welches Studium?«

»Ich dachte, ich könnte Vorlesungen in internationalem Recht besuchen.« Nanna hört, daß sie atemlos ist, und sie wünscht, sie könnte sich selbst stoppen, fährt aber unter Vaters unerbittlichem Blick fort. »Du hast doch selbst gesagt, daß das immer wichtiger wird.«

»Gibt es einen besonderen Grund dafür, daß das in Paris vor sich gehen soll?«

Der Schweiß erscheint auf Nannas Oberlippe. Ich sollte jetzt einfach aufstehen, denkt sie. Mich von diesem Sofa erheben, auf dem ich während meiner ganzen Kindheit jeden Nachmittag gesessen und Tee mit der Frau getrunken habe, die du geliebt hast und die mich nicht liebte, aufstehen und mich für die Gastfreundschaft bedanken, es war sehr nett, aber jetzt muß ich leider gehen. Mich für mein bisheriges Leben bedanken, aber jetzt muß ich leider weiter.

Statt dessen sagt sie:

»Ich möchte auch gern mein Französisch verbessern.«

»Und das hat nicht zufällig etwas mit einem gewissen jungen Mann zu tun? Bodil«, Vater nickt in Richtung Küche, »hat mir erzählt, daß es so aussieht, als wärest du ernsthaft verliebt.«

Vaters letztes Wort ist von ironischen Anführungszeichen eingekleidet.

»Nicht nur deshalb.«

Sie hat schon zuviel gesagt. Vaters Stirn legt sich in sarkastische Falten, sie kennt das nur zu gut.

»Ach, das ist nicht nur deshalb? Na, das ist ja beruhigend zu hören. Ich hätte auch einige Probleme damit, dich mir als Hotelmadame irgendwo weit draußen auf dem Kuhland vorzustellen.«

Niemand kann Nanna so treffend verletzen wie ihr Vater. Niemand konnte wie er mit einer genau abgewogenen Bemerkung diejenigen ihrer Freunde abschieben, die er aus irgendeinem Grund als unpassend ansah. Eine hochgezogene Augenbraue, ein Zungenschnalzen, und einer nach dem anderen wurde auf seinen Platz verwiesen, von der Liste der Menschen gestrichen, die der Mühe wert waren, sich mit ihnen zu beschäftigen.

Sie mag gar nicht daran denken, wie er auf Yann reagieren würde, dessen warme Hände und ernste Augen in jeder Sekunde des Tages bei ihr sind, in all ihren Träumen, den wachen wie denen im Schlaf. Sie zieht ihre Schultern bis zu den Ohren hoch und hofft, daß Vater seine Genugtuung haben wird, wenn sie den Kampf nicht aufnimmt.

»Bestimmt ist er auch noch katholisch?« Vater macht weiter, seine physische Schwäche macht es notwendiger denn je, daß seine verbalen Treffer exakt einschlagen. »Und plant im Namen des Herrn eine ganze Kinderschar?«

»Er geht nicht in die Kirche«, flüstert Nanna in ihre Bluse hinein und bereut sofort, daß sie überhaupt den Mund geöffnet hat.

»Folgt aber den Regeln des Papstes, ist es das, was du damit sagen willst?«

Eine Träne tropft von Nannas Nasenspitze, wird auf dem hellblauen Popeline ihrer Hemdbluse zu einem dunklen Fleck.

»Vielleicht sollte ich dankbar sein, daß das Unglück nicht schon geschehen ist«, sagt Vater.

Er sieht sonderbar gut gelaunt aus, das Müde, Eingefallene ist etwas Zielgerichtetem gewichen, etwas, das zu seiner alter Streitbarkeit gehört, immer gleich elegant, immer gleich gefürchtet von Freunden wie von Feinden.

Nanna ist dankbar, als die füllige Figur der Stiefmutter in der Tür zum Eßzimmer auftaucht.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« Die braunen Augen der Stiefmutter leuchten neugierig beim Anblick von Nanna, die sich die Augen mit dem Handrücken trockenwischt. »Das Essen kann noch warten, wenn ihr gerade in einer Diskussion seid.«

»Sind wir in einer Diskussion, Nanna?« Vater ist bereits halb aufgestanden. Er nimmt sein Glas vom Tisch und wedelt damit vor den Augen der Stiefmutter. »Nur einen Fingerbreit«, sagt er. »Dafür verzichte ich gern auf die Madeirasoße.«

Nanna ist aufgestanden, sie steht hinter dem Sofa, ihre Beine zittern, als wäre sie hinter einem Bus hergelaufen und hätte ihn nicht mehr erreicht.

»In unserer Familie können wir auf die Soße verzichten, wenn wir es müssen.« Vater hat sein Glas abgestellt, schiebt seiner Tochter einen Arm unter den Ellbogen. »Stimmt’s, Nanna?«

Das Tomatengelee zittert auf dem Silberteller in der Hand der Stiefmutter.

»Ich habe eine Vorspeise gemacht, das bist du doch gewohnt, oder? Ich erinnere mich noch, als wir in Paris waren, da haben wir immer eine Vorspeise gekriegt, nicht wahr, Poul?«

Die Stiefmutter klingt etwas kurzatmig. Genau wie Nanna ist sie ständig auf der Hut, um die wechselnden Launen des Vaters mitzubekommen, jetzt versucht sie intuitiv, die kleine Gesellschaft aus einer möglichen Mißstimmung herauszureden.

Nanna nimmt ihre Serviette aus dem Serviettenring und legt sie sich auf den Schoß, gießt sich Limonade ins Glas, erleichtert, daß sie nichts sagen muß.

»Es gibt Schollenfilet mit Mayonnaise«, fährt die Stiefmutter fort, »einmal die Woche kommt ein Fischwagen, ansonsten sind die frischen Sachen hier draußen etwas problematisch, der Schlachter hat nur Schwein auf hunderterlei Arten, um ein ordentliches Steak zu kriegen, mußt du in die Stadt fahren.«

Nanna schielt zu ihrem Vater hinüber, der sich von der Platte nimmt. Sein Gesicht sieht beunruhigend freundlich aus, über irgend etwas amüsiert er sich königlich.

»Eigentlich dürften wir gar keine Mayonnaise essen, jedenfalls ich nicht, und dein Vater auch nicht, aber so ein kleiner Klecks kann ja wohl nicht schaden.«

»Ein kleiner Klecks mehr oder weniger macht auch keinen Unterschied mehr«, sagt Vater und schiebt einen großen Löffel voll Mayonnaise mit einem demonstrativ schnalzenden Geräusch von der Platte auf den Teller seiner Frau.

»Siebzig Kilo Kampfgewicht, in der Klasse bist du jetzt wohl, nicht wahr, Bodil?«

Ein roter Fleck breitet sich vom Hals der Stiefmutter hinunter auf ihre Brust unter der weißen, bestickten Bluse aus. Nanna nimmt die Platte aus ihren Händen in Empfang, sieht, wie es um ihren Mund zuckt. Sie schiebt sich einen kleinen Löffel voll von der zitternden roten Masse auf den Teller, nimmt eine Scheibe Weißbrot aus dem Korb auf dem Tisch.

Eine Zeitlang ist das Geräusch von Vaters kauenden Kiefern das einzige, was die Stille in dem Eßzimmer stört.

Nanna probiert vorsichtig das Gelee. Es hat einen starken Beigeschmack nach Metall und Konservendose, die Konsistenz ist zäh wie geschmolzenes Gummi, und die Übelkeit überwältigt sie. Sie legt die Gabel auf den Teller und greift nach ihrem Glas, trinkt in gierigen Schlucken von der süßen Orangenlimonade, aber auch das wird zuviel, und sie muß aufstehen, murmelt eine Entschuldigung und läuft hinaus. Sie schafft es gerade noch bis zum Badezimmer, bevor sie sich übergeben muß, sie kämpft nicht mehr dagegen an, setzt sich auf den Badewannenrand und läßt die gallenfarbene Flüssigkeit in den Waschbeckenablauf rinnen.

Als das überstanden ist, ist sie in Schweiß gebadet, und ihr Herz hämmert im Brustkasten. Sie öffnet die Tür vorsichtig einen Spalt weit. Aus dem Eßzimmer hört sie die Stimme des Vaters, es ist gar nicht daran zu denken, zu der Szene drinnen zurückzukehren. Statt dessen schleicht sie so lautlos sie kann über den Teppichboden des Flurs, die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie legt sich aufs Bett, diesmal sogar, ohne die Schuhe auszuziehen, versucht, ihre Gedanken zu ordnen.

Vielleicht ist ja schon alles zu spät, vielleicht haben sie es erraten. Voller Panik sucht sie nach einer Strategie, um die Situation in den Griff zu bekommen, aber sie findet keine, schlägt sich mit einer verzweifelten Faust gegen die Stirn, versucht einen rettenden Gedanken hervorzuzwingen. Aber nichts fällt ihr ein.

Schritte auf der Treppe, jemand nähert sich ihrer Tür.

»Darf ich reinkommen?«

Die Stiefmutter hat die Tür einen Spalt weit geöffnet. Nanna setzt sich auf, flicht ihren Zopf neu, der sich aus der Spange gelöst hat, will die Füße auf den Boden stellen.

»Bleib nur liegen.«

Die Stiefmutter läßt sich schwer auf die Bettkante fallen, ergreift Nannas Hand.

»Meine kleine Nanna.«

Der plötzliche Ausbruch von Zärtlichkeit kommt so unerwartet, daß Nanna spürt, wie ihr die Tränen in den Augen brennen. Sie dreht ihren Kopf weg, will der Stiefmutter nicht ihre Schwäche zeigen. Seit ihrer Kindheit hat jeder sich abzeichnende Konflikt damit geendet, daß die Stiefmutter Vaters Partei ergriffen hat, und Nanna wagt nicht darauf zu vertrauen, daß es jetzt anders sein könnte.

»Wenn du ein Problem hast, kannst du es uns doch erzählen.« Die Stiefmutter macht ihre Stimme sanft, sie streichelt Nannas Hand, unkonzentriert, als würde sie ein Schoßhündchen streicheln. »Dein Vater und ich wollen dir doch nur helfen.«

Ein Problem. Das Wort trifft Nanna wie ein Schlag. Ihr Kind mit Yann ist kein Problem, das ist ein Geschenk, das Gott oder wer auch immer ihr zu geben beschlossen hat, das Beste, das ihr in ihrem kurzen Leben bisher bereitet wurde.

»Ich habe kein Problem«, murmelt sie. Ihre Hand liegt schlaff auf der Bettdecke, sie gehört ihr nicht mehr, und die Stiefmutter streichelt sie weiterhin, mechanisch.

»Es ist sicher nicht so einfach, darüber zu reden«, murmelt sie. »Aber wenn es sich so verhält, wie ich glaube, dann gibt es auch eine Lösung. Dein Vater und ich, wir haben Verbindungen«, fügt sie hinzu und beendet den Satz mit einem leisen, bedeutungsvollen Schnaufen.

In dem Moment trifft Nanna einen Entschluß. In einem Haus, in dem derartige Gedanken gedacht werden, kann sie nicht bleiben. Sie zieht die Hand zu sich heran, richtet sich im Bett auf, sieht die Stiefmutter direkt an, sie ist Yseut, la femme soleil, stolz, diese zu sein.

»Ich habe kein Problem«, sagt sie kalt zu den Pudelaugen. »Und jetzt möchte ich gern meine Ruhe haben.«

Die selbstleuchtenden Zeiger auf Nannas Reisewecker zerteilen die Scheibe in zwei Hälften, als sie in dem dunklen Zimmer aus dem Bett klettert. Hinter dem Rollo läuft die Nässe die Scheiben hinunter. Eine Regenböe braust draußen vorbei, der Wind schüttelt die Blätter der Kastanie. Eine der stacheligen Hüllen hat sich losgerissen, ist beim Aufprall auf die Hofsteine aufgeplatzt, so daß die glatte, braune Haut des Samens frei daliegt.

So lautlos wie möglich sammelt sie ihre Sachen zusammen. Sie packt das Allernotwendigste in den kleinsten der weißen Koffer, öffnet vorsichtig die Tür zum Treppenhaus. Aus dem Schlafzimmer hört sie Vaters leises Schnarchen, sie schleicht sich die Treppen hinunter, in die Küche. Hier stopft sie sich ein Stück Brot in den Mund, gießt sich ein Glas Milch aus der Kanne im Kühlschrank ein. Sie braucht Kraftreserven, denn die Reise wird lang werden.

In der Kaminstube kommt ihr der Hund entgegen, schwanzwedelnd und leise bellend. Sie mahnt ihn zur Ruhe, streichelt sein warmes, glänzendes Fell. Dann schließt sie vorsichtig die Gartentür hinter sich und geht, ohne sich umzusehen, die Platten des Gartenpfads entlang.

Unten an der Landstraße stülpt sie sich die Kapuze ihres Mantels über, stellt den Koffer auf den Asphalt. Auf den Telefonleitungen über ihrem Kopf hat sich eine Schar von Staren versammelt, flattert mit zerzausten Flügeln im Morgenwind. Sie dreht ihr Gesicht den Regenböen zu, spürt die kühle Feuchtigkeit auf der Haut. Keine einzige Träne vermischt sich mit dem Regen, sie fühlt sich innerlich ganz ruhig, sicher in ihrer Entscheidung.

Ein paar Minuten später hört sie, daß der Bus kommt, er legt den Hügel hinauf einen anderen Gang ein. Nur wenige Augenblicke später sitzt sie hinter den beschlagenen Scheiben, zwischen schläfrigen Schulkindern und Männern in feuchten Mänteln.

Sie ist auf dem Weg.

Nanna - Eine kluge Jungfrau

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