Читать книгу Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen - Страница 9
Oktober 1961
ОглавлениеNanna wacht an ihrem Hochzeitsmorgen früh auf, bleibt liegen und lauscht der steigenden Flut.
Zunächst ist da der leicht rauschende Ton, wie Wind in einem Kornfeld, dann das Blubbern Tausender kleiner unterirdischer Töpfe, deren Inhalt überkocht und sich in eine schäumende Strömung verwandelt.
Yann hat die Nacht in seinem Jungenzimmer in der Wohnung der Mutter im obersten Stockwerk des Hotels verbracht. Beide hatten sich nicht getraut, auf etwas anderem zu bestehen. Die Schwiegermutter hat, vor das Unabwendbare gestellt, eine Strategie der notwendigen Schritte eingeschlagen und die Situation mit der Effektivität eines Generals organisiert. Obwohl sie unter der beherrschten Fassade fast durchsichtig vor Müdigkeit ist, läßt ihre Ausstrahlung keinerlei Diskussion zu.
Die Geräusche des nachtschwarzen Morgens dringen durch die Fensterläden. Die schweren Stiefel der Fischer auf dem Zement der Molen, die kurzen Rufe, wenn die Taue gegen die Decksplanken schlagen. Das Tuckern der Boote auf dem Weg aus dem Hafen bringt Nanna wieder zur Ruhe, das leise Klirren von Porzellan auf einem Tablett dringt in ihren Schlaf ein, das sachte Klopfen des Stubenmädchens und die Schritte, die auf dem Läufer im Flur wieder verschwinden.
Sie trinkt den warmen Kakao in kleinen Schlucken, ißt ein wenig vom Brot. Die Übelkeit, die sie jeden Morgen seit ihrer Ankunft auf die Knie vor dem Porzellanbecken des Bidets gezwungen hat, macht heute eine Pause.
Der Kachelboden unter der Dusche am Ende des Flurs ist trocken. Die Sommersaison ist beendet, die Fischgroßhändler und die wenigen Vertreter, die durch diesen Teil des Landes kommen, verschwinden am Wochenende. Sie läßt das Wasser fließen, bis der kleine Raum voller Dampf ist, bleibt unter dem heißen Strahl stehen, bis das nervöse Zittern ihres Körpers sich in eine schwere Ermattung verwandelt hat.
Die Trauung soll um halb zwölf im Büro des Bürgermeisters stattfinden. Sämtliche Papiere sind vorbereitet, Benoît und Yves als Trauzeugen geladen. Ein verhaltener Streit zwischen Yann und seiner Mutter während des Essens gestern hat zu einem Telefongespräch mit Yanns altem Musiklehrer geführt. Neben der Großmutter und den beiden Rittern wird er der einzige Gast sein.
Eine Hochzeit ist hier in der Gegend ein öffentliches Ereignis, das weiß sie von Yann, ein Ereignis, das tagelang dauern kann und Umzüge und Musikanten beinhaltet, wie Yann und die Ritter mit ihren alten Instrumenten, dazu Unmengen von Essen, Tanz die ganze Nacht hindurch. Etwas, über das man spricht, vorher und hinterher.
Ihre und Yanns Hochzeit wird wie Schmuggelware dazwischengeschoben.
Nanna hat die Fensterläden aufgestoßen, sie steht in ihrem dünnen Unterrock in der kühlen Luft des offenen Fensters und schaut aufs Meer hinaus. Der Hafengrund sieht fast trocken aus, ein paar flache Pfützen zwischen den Algenbüscheln spiegeln den emailleblauen Himmel wider. Einige kleinere Boote sind auf die Seite gekippt – schlafende Kettenhunde in lockeren Verankerungen auf dem dunklen Sand, bedeckt mit Schaumklecksen. Ein paar Möwen streiten sich um die Beute, sie kippen wie Jagdflugzeuge zur Seite und stürzen sich senkrecht auf ihre zappelnden, silbern glänzenden Opfer.
Die Kirchturmuhr auf der anderen Seite des Hafens schlägt elf. Versteckt hinter der dünnen Gardine sieht sie, wie Yann in das Auto seiner Mutter steigt und über die Hafenbrücke fährt. In seinem dunklen Anzug und dem weißen Hemd sieht er eher aus, als würde er an einem Begräbnis teilnehmen, trotzdem erzeugt sein Anblick einen Glücksschauer in ihr.
In einer Stunde wird die einfache Zeremonie beim Bürgermeister überstanden sein. Sie wird der Welt nach den einsamen Wochen mit der Schwiegermutter wieder begegnen können, nachdem sie so tapfer auf Yanns kurzen Hochzeitsurlaub gewartet hat. In einer Stunde dürfen es alle wissen, das, was sie und Yann schon lange wissen. Die Flucht ist vorbei. Ihr neues Leben kann beginnen.
Das kleine Städtchen summt vor Gerüchten. Mit ornithologischer Neugier wird sie von den Männern beobachtet, die ihre Tage auf dem Meer mit einem Glas in der zum Hotel gehörenden Bar beschließen. Frauenaugen verfolgen sie hinter jeder Fensterscheibe, wenn sie durch die Straßen geht. Sie bemüht sich, denjenigen höflich zuzulächeln, denen es nicht gelingt, schnell genug den Blick abzuwenden. Hier ist ihre neue Heimat. Was immer auch geschieht. Was es auch kosten möge.
Nanna schließt das Fenster, dreht sich zum Zimmer um. Ihr Kleid liegt auf dem Bett, sie läßt es über den Kopf gleiten, spürt, wie sie bei der Berührung mit dem kühlen Seidenfutter eine Gänsehaut bekommt. Ihre unsicheren Finger kämpfen mit der Knopfreihe auf dem Rücken, klein und glatt wie Apfelsinenkerne.
Yanns Mutter hat das Kleid bei ihrer Schneiderin nähen lassen, und Nanna wurde auf einen Körper reduziert, in einem etwas zu eng sitzenden Unterrock, stumm und unbeholfen vor dem Spiegel des Ankleidezimmers, unter dem prüfenden Blick der Schwiegermutter. Aber das Kleid steht ihr. Der aquamarinblaue Wollstoff gleicht der Farbe ihrer Augen, läßt ihre Haut weniger blaß erscheinen. Der Schnitt verdeckt fast vollkommen die wachsende Wölbung ihres Bauchs.
Schlimmstenfalls muß sie halt den Blumenstrauß davor halten. Der Blumenstrauß. Ihr fällt ein, daß sie nicht weiß, wie hier der Brauch ist, und sie hat niemanden, den sie fragen könnte. Vielleicht heiratet sie ja ohne Brautstrauß. Wie sie auch ohne Kirchenlieder und Schleier heiratet, ohne Rituale und Feier.
Ohne ihren Vater.
In der Traumwelt ihrer Kindheit war er im Grunde die Hauptperson, wenn sie an seinem Arm über den Kirchenboden schritt, in knisterndem Taft, in ölschwerem Duchesse, mit Schleier und Schleppe und Orgelbrausen, einer Gestalt entgegen, die immer ohne Gesicht war.
Jetzt ist es Yanns Gesicht, das sie am liebsten von allen sehen will. Ihr Vater weiß nicht einmal, daß sie im Begriff steht, sich zu verheiraten. Sie versucht ihr schlechtes Gewissen bei dem Gedanken an seine graue Kraftlosigkeit abzuschütteln, während sie die kleinen Perlen an ihren Ohrläppchen festschraubt, sich vor dem Spiegel dreht und wendet.
Ein Auto hält unter dem Fenster. Nanna nimmt die zum Kleid gehörende Jacke von der Stuhllehne und macht sich bereit zu gehen. Da erkennt sie zwischen dem Klappen der Autotüren eine vertraute Stimme, jemand ruft etwas in gebrochenem Französisch, explodiert vor Lachen.
Die Jacke landet auf dem Boden. In drei Sätzen ist sie am Fenster, reißt es wieder auf.
»Mette!«
Das dreieckige Gesicht mit den Lachgrübchen, die kaum zu bändigende Haarpracht. Die Augen verengt vor Lachen.
»Ach, da bist du.« Mette stopft dem kopfschüttelnden Taxifahrer ein paar Geldscheine in die Hand, hebt etwas hoch, das aussieht wie ein Seesack. »Ich brauche nur noch was aus dem Kofferraum. Fragile! Nun passen Sie doch auf, Mann!«
Mette schimpft mit dem Fahrer, der ihr zwei weiße Schachteln, eine kleine und eine große, in die ausgestreckten Arme legt. Sie dreht den Kopf wieder zu Nanna hoch.
»Und wie komme ich zu dir rauf?«
»Die Treppe rechts.«
Die Schachteln werden vorsichtig aufs Bett gelegt, der Seesack in eine Ecke geschmissen. Mettes Arme um ihren Hals.
»Das ist phantastisch.«
Dänische Worte in ihrem Mund, zum erstenmal seit Wochen, die Beine werden ihr vor Schock und überwältigender Freude weich.
»Vater hat das Geld für ein Flugticket ausgespuckt, als ich ihm gedroht habe, sonst zu trampen.« Mette geht einen Schritt zurück auf dem abgetretenen Teppichboden, mustert sie mit dem Blick eines Pferdehändlers.
»Das Kleid ist hübsch. Aber du solltest lieber den Strauß vor den Bauch halten.«
»Es ist nicht gesagt, daß ich einen Strauß haben werde.«
»Sicherheitshalber habe ich einen mitgebracht. Man weiß ja nie bei den Franzosen.«
Maiglöckchen füllen eine der weißen Schachteln. Nanna vergräbt ihre Nase in ihrem Duft.
»Du bist total verrückt.«
»Wenn Yann dir einen Strauß schenkt, kannst du diesen einfach in die Vase stopfen. Wo ist er eigentlich?«
»Er holt seine Großmutter ab.«
»Was glaubst du, ob sie heute auch ihre Haube aufhat?«
»Die hat sie immer auf.«
Seit sie vor dem Haus ihres Vaters in den Bus gestiegen ist, hat sie weder gelacht noch geweint, jetzt tut sie beides gleichzeitig.
»Entschuldige, daß ich heulen muß.«
»Be my guest.«
Mette hat den Seesack mitten ins Zimmer gezogen, müht sich fluchend mit den festen Knoten ab. Nanna sinkt auf die Bettkante, holt aus der Nachttischschublade ein Taschentuch heraus.
Schritte auf dem Korridor bleiben vor der Tür stehen. Ein kurzes Klopfen, und Yanns hohe Gestalt füllt den Türrahmen aus.
Einen Moment lang starrt er wie hypnotisiert auf Mettes dunkles Haar, das Lächeln auf seinem Gesicht verwandelt sich in eine Fratze aus Ungläubigkeit und Schrecken.
»Yann«, Nanna ist aufgestanden. »Mette ist zu unserer Hochzeit gekommen. Mette, von der ich dir erzählt habe.«
Sie geht zu ihm, nimmt ihn beim Arm, hört, wie er tief Luft holt, ein Mensch, der einer Katastrophe entgangen ist.
Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn.
»Ich dachte, du wärst jemand anders.« Er zwingt sich zu einem Lächeln, reicht Mette die Hand. »Herzlich willkommen.«
»Was dachtest du, wer sie wäre?«
Yann schüttelt den Kopf. Seine Augen gucken immer noch mißtrauisch, sie haben eine Veränderung im Zimmer wahrgenommen, als stünde dort jemand an Nannas Stelle.
»Ich muß Bescheid sagen, daß für eine Person mehr gedeckt werden soll«, sagt er und versucht seiner Stimme einen geschäftsmäßigen Klang zu geben. »Hier sind deine Blumen.«
»Was war denn los?« Mette schaut zur Tür, die hinter Yann zuklappt. Die gute Laune ist verschwunden, sie läßt die Arme hängen. »Ist er sauer, weil ich gekommen bin?«
»Er ist bestimmt nur nervös.«
Sie hat keine Lust, Mette von Martine zu erzählen, nicht an ihrem Hochzeitstag.
Die Schachtel mit den Maiglöckchen ist vom Bett gerutscht, der weiße Strauß liegt auf dem dunklen Teppich, ein zerbrochener Schneeball. Nanna schaut auf die blaßlila Orchideen in ihrer Hand. Ihre wachsartige Kühle gibt ihr ein Gefühl der Konturlosigkeit, macht sie verletzlicher, als sie sowieso schon ist.
»Die passen gut zum Kleid.« Mette zeigt auf die Blumen. »Er ist nicht nur groß und gutaussehend, er hat auch noch Geschmack.«
»Ich nehme an, daß meine Schwiegermutter sie ausgesucht hat. Ich möchte lieber deine nehmen.«
»Bist du wahnsinnig? Vor Schwiegermüttern muß man sich in acht nehmen.«
Nanna seufzt.
»Wenn du dich noch umziehen willst, solltest du dich jetzt beeilen.«
»Wenn ich mich noch umziehen will?« Mette ist bereits aus Pullover und der grauen Steghose gesprungen, knotet das Band der größeren weißen Schachtel auf. »Du hast doch hoffentlich einen neuen Slip an? Und deine Ohrringe, die sind wohl uralt, oder?«
Nanna nickt. Die Lähmung von eben ist vorüber, sie läßt ihre eigene Unruhe von Mettes wiedergefundener Energie wegfegen.
»Da, im Seesack. Die kleine graue Schachtel.«
Mettes schwarze Haare tauchen im Ausschnitt eines dunkelgelben Kleides auf, ihre Füße zwängen sich in ein Paar widerspenstige Pumps, während sie Befehle erteilt.
Mettes Armband auf dem Samt der Schmuckschachtel, ein breiter Goldring mit zwei kleinen glänzenden Kugeln.
»Something borrowed.« Mette schiebt den goldenen Armreif an seinen Platz auf Nannas Arm. »Das Kleid können wir zur Not als something blue bezeichnen.«
Sie schubst Nanna in Richtung Tür.
»So, und nun toi, toi, toi. Here comes the bride.«
Die Schwiegermutter wartet bereits mit Mémé, als sie zurückkommen, hat sich hinter der knisternden weißen Tischdecke und den Gläserreihen verschanzt, ihr blaßblaues Kostüm sieht zu der weißen Bluse uniformhaft aus. Sogar in der Wärme des Restaurants hat sie etwas Frostiges an sich, die Haut auf den schmalen Wangen hat kleine Vertiefungen, als wäre sie von einer unbeholfenen Schneiderin an die Gesichtsknochen gesteckt worden. Als könnte sich die dünne Haut an den Schläfen unter dem stramm zurückgekämmten Haaransatz jeden Moment lösen und den Schädel entblößen.
Schweigend defilieren sie in den hohen Raum. Yves, dessen dunkelgrüne Jacke über den Oberarmen spannt, Benoîts weiche Gestalt, stolpernd vor gutem Willen. Der Musiklehrer, dessen dünnes Haar eine fettige Haube über der feuchten Stirn bildet, seine Augäpfel in dem steifen Gesicht sind gelblich, wie Papier, das in der Sonne verblichen ist. Mette eichhörnchenhaft emsig in ihrem leuchtenden Kleid, ihr Blick ist überall. Sie begrüßt Nannas Schwiegermutter mit perfekter Höflichkeit, knickst vor Mémé.
Nanna bildet die Nachhut mit Yanns Hand in ihrer.
Die Wange der Schwiegermutter streift ihre, ein leichter, marmorkalter Schock. Sie vermeiden den Blick der anderen, und Nanna läßt sich auf dem Stuhl nieder, den Yann ihr vorgezogen hat.
Die Schwiegermutter hat sich auf Yanns andere Seite gesetzt. An ihrer eigenen Rechten sitzt Mémé mit geröteten Wangen über dem geblümten Schal und der dunkellila Bluse, ein verkleidetes Kind trotz der weißen Haare. Irgendwo unter ihren halb geschlossenen Augenlidern ahnt Nanna den Ansatz eines Lächelns.
Nanna hat ihre Blumen neben ihren Teller gelegt, das Orchideengesteck sieht auf der weißen Decke aus wie ein Sargschmuck. Sie sucht Mettes Blick, aber Mette, die sich zwischen die beiden Ritter gesetzt hat, ist eifrig damit beschäftigt, ihre Serviette aus den steifen Falten zu schütteln und sie sich auf den Schoß zu legen. Eine Wolke des Schweigens hängt über dem Tisch.
Lucienne gleitet vollbepackt über den dunklen Boden zu ihnen heran, ein lautloses Schiff. Nanna sucht ihren Blick, aber ihre übliche Freundlichkeit ist gegen eine professionelle Maske vertauscht.
Das Geräusch von Muschelschalen gegen Porzellan zerstört die Stille, der Brotkorb wird unter gedämpftem Gemurmel am Tisch herumgereicht.
»Yann, bist du so gut?«
Die Schwiegermutter nickt zu dem glänzenden Weinkühler.
»S’il te plaît.«
Der gedämpfte Knall des Korkens, das leise Brausen des Champagners in den hohen Gläsern. Die Schwiegermutter hat ihre Gabel in ihre überbackenen Jacobsmuscheln gesteckt. Nanna schielt zu ihr hinüber, wie sie ißt, die Augen nur auf den Teller gerichtet, wie sie ihr Glas hebt, um zu trinken. Als würde sie an irgendeinem Mittagstisch sitzen, als hätte ihr Sohn irgendwelche entfernten Bekannten zu einem Essen eingeladen, das nun korrekt, aber gleichzeitig so schnell wie möglich überstanden werden muß.
Am Tisch beginnen die Gäste zu essen. Die kauenden Kiefer, das Besteck, das klappernd gegen die Muschelschalen stößt, klingen unnatürlich laut in dem stillen Raum. Tränen steigen in Nanna auf. So will ihre Schwiegermutter also ihre Hochzeit haben, eine Geschäftstransaktion, eine Formalität.
»Ich glaube, wir haben etwas vergessen.« Mémé schlägt leicht an ihr Glas. Alle Blicke wenden sich ihr zu. »Ein Hoch auf das Brautpaar. Au couple!«
Die Röte breitet sich auf den Wangen der Schwiegermutter aus, zwei schnelle Pinselstriche. Einen Moment zögert sie, dann hebt auch sie ihr Glas.
»Au couple«, murmelt sie, ohne jemanden anzusehen.
Die Spannung am Tisch lockert sich ein wenig, ein kollektiver Seufzer der Erleichterung ist zu vernehmen. Das Gespräch kommt zögernd erst leise in Gang, ein neu gestarteter Motor, aber langsam bekommt die kleine Gesellschaft eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Festessen, ein Ruf hier, ein verstohlenes Lachen dort.
Nanna findet Yanns Hand unter dem Tisch, sie verflicht ihre Finger mit seinen. Seine sonst immer so warme Hand fühlt sich fischig kalt an, die Handflächen sind feucht, aber der Druck ihrer Hand wird erwidert, fest, ganz fest.
Übermorgen wird er schon auf dem Weg fort von ihr sein und sie wieder allein, allein mit der fehlenden Herzlichkeit der Schwiegermutter, allein mit dem überschäumenden Gefühl, das ihr sagt, daß ihr Kind lebt, daß es in ihrem Körper wohnt. Übermorgen wird die Wartezeit wieder beginnen. Jede Minute bis dahin ist kostbar.
»Ça va?« hört sie ihn murmeln, und sie drückt seine Hand gegen ihren Bauch, spürt, wie er die Finger spreizt, sehnsuchtsvoll, beschützend.
»Oui«, sagt sie. »Ça va.«
Der Seeteufel ist aufgegessen, die letzten Reste der kräftigen Soße genießerisch mit Brotbrocken aufgetunkt. Das Gespräch am Tisch hat ein neutrales Ventil gefunden, jetzt wird über das Essen gesprochen, über die Rohwaren, über Fische und Schalentiere. Das gut gewürzte Lammfleisch von den Salzwiesen der Region ist schon zum zweitenmal serviert worden, am Tisch glühen die Wangen nach dem reichhaltigen Mahl und von dem Wein, der in den Gläsern schwappt.
Mette radebrecht auf ihrem Schulfranzösisch, daß sogar Yves’ verschlossenes Gesicht in einem Lächeln erstrahlt. Benoît konversiert mit Mémé mit Wangen, die so sehr glühen, daß die Sommersprossen kaum noch zu sehen sind. Yann hat sich seinem alten Lehrer zugewandt, er versucht, Nanna in ein Gespräch über die gastronomischen Traditionen der Gegend mit einzubeziehen. Eine gemeinsame Willensanstrengung eint die Tischrunde, eine Willensanstrengung, die die Illusion aufrechterhalten soll, daß diese Mahlzeit eine festliche Sache ist, auch wenn der Teller der Schwiegermutter fast unberührt abgeräumt und der Wein in ihrem Glas kaum weniger wird.
»Le trou normand.«
Die Dessertschalen mit dem Sorbet werden abgedeckt, Yann schenkt aus einer verstaubten Flasche in kleine Gläser ein. Nanna befeuchtet nur ihre Lippen mit der goldfarbenen Flüssigkeit, schließt die Augen, und plötzlich ist sie wieder im Garten ihrer Kindheit, unter dem Baum mit den kleinen festen Äpfeln, die sie mit Mette auflas, noch sonnenwarm in dem hohen Gras.
Ein kurzer Impuls von Sehnsucht nach dem verlorenen Zustand von Anspruchslosigkeit und Erwartung, Sicherheit und Unschuld, trifft sie, und sie beugt sich über den Tisch, verbirgt ihr Gesicht. Sie sieht nicht, daß der Musiklehrer aufgestanden ist und sich hinter seinen Stuhl gestellt hat, bevor seine Stimme sie aufblicken läßt.
Seine feuchten Augen leben ein Eigenleben in dem ausdruckslosen Gesicht, sie können sich nicht entscheiden, ob sie wirklich weinen wollen oder lieber doch nicht.
»Meine lieben Kinder.« Seine Stimme klingt rauh vor Rührung. »Einige von euch haben mir früher den Spitznamen Pélinore gegeben nach dem König, der der Vater eines der stolzesten Ritter war. Weil ich an diesem Tisch die Generation der Väter repräsentiere, erlaubt mir ein Lied für euch zu singen, für euch, die ihr heute einander Liebe und Treue versprochen habt, Loyalität und Zusammenhalt für den Rest eurer Tage.«
Er kommt nicht weiter.
»Du solltest lieber deinen Mund halten.« Nannas Schwiegermutter hat sich über den Tisch vorgebeugt. Ihre flache Hand landet auf der Tischplatte, ein Glas kippt um und verspritzt seinen goldfarbenen Inhalt auf der Tischdecke, das Porzellan klirrt wie auf einem Schiff, das auf Grund gelaufen ist. Ihr Gesicht ist leichenblaß, eine perlmuttweiße Kontur zeichnet sich um die zusammengekniffenen Lippen ab. »Du solltest an diesem Tisch lieber nicht von Treue und Loyalität reden.«
»Mutter.« Yanns Stimme, beherrscht. »Pélinore ist mein Freund, also laß ihn singen, wenn er möchte.«
Er legt seine Hand auf die seiner Mutter, tätschelt sie beruhigend. Pélinore hat die Hände in einer abwehrenden Geste ausgestreckt.
»Sie wird mir erst verzeihen, wenn ich tot bin«, murmelt er. Dann dreht er der Gesellschaft den Rücken zu, strebt mit lautlosen Schritten und gebeugtem Rücken dem Ausgang zu, ein Hund, der Prügel bekommen hat.
Ein Stuhl schrammt über den Boden. Mette ist aufgesprungen, legt ihre zusammengeknüllte Serviette auf die Decke.
»Entschuldigt mich.«
Das Geräusch von Mettes Pfennigabsätzen, die zwischen den leeren Tischen auf dem Boden klappern, hallen unter der hohen Decke wider.
Nannas Schläfen pochen, ihr Mund ist trocken. Ein Gefühl, das sie ihr ganzes Leben lang nie hat zulassen wollen, breitet sich in ihr aus, von den Fußsohlen bis zu den heißen Wangen, die vor Wut zittern. Bevor sie nachdenken kann, hat sie schon den Mund geöffnet.
»Mère. Schwiegermutter.« Sie zügelt ihre Nervosität, hat Yanns Hand unter dem Tisch wiedergefunden. »Was ist das, was kannst du ihm nicht verzeihen? Ich denke, du schuldest uns eine Erklärung.«
Sie fühlt Mémés Hand auf ihrem Arm.
»Nicht jetzt.« Mémé hat sich ihrer Schwiegertochter zugewandt.
»Marie-Jeanne, wenn man so alt ist wie ich, dann weiß man, daß die Zeit knapp ist.«
Die kleine, feste Hand, die kurzen Finger, die den Glasstiel umfassen. Nanna sieht sie nur durch Tränen. Sie sieht das Gesicht ihrer Schwiegermutter, auf dem die Wut von einem Schmerz abgelöst wird, der sie an eine Frauenfigur in einem Museum vor langer Zeit erinnert, sie sieht die Ritter an, die dunklen Flächen in Yves’ Gesicht, voller Trauer, von der er selbst nichts wahrhaben will, Benoîts häßliche Güte.
»Ab heute ist Nanna auch mein Kind, laß sie auch deins werden. Laß uns sie willkommen heißen.«
Mémé hebt ihr Glas.
»À l’amour«, sagt sie und leert es. »Und jetzt zum Dessert.«
Yanns warmer Atem streift ihre Wange. Viele Stunden lang haben sie wach gelegen, dicht umschlungen in dem schmalen Bett, wortlos, als wollten sie nicht ein neidisches Schicksal herausfordern. Die drohende Trennung hat ihre Lust in Zärtlichkeit verwandelt, allein das Wissen, daß ihr Glück so zerbrechlich ist, macht ihre Zärtlichkeiten noch behutsamer. Jetzt ist Yann endlich eingeschlafen, mit dem Kopf an ihrer Schulter, in dem dunklen Zimmer hoch oben unter dem Mansardendach des Hotels, das war die Höhle seiner Kindheit, voll mit Erinnerungen und Gerüchen, an denen sie bis jetzt noch nicht teilnehmen konnte.
Dieses Zimmer soll ihr privater Raum werden, bis das Kind geboren und Yann zurückgekommen ist.
Das Kind, dessen geheimnisvolle Anwesenheit in ihrem Körper sie erahnen kann, jetzt wo sie ganz still liegt. Ein kleiner Wellenschlag, kaum wahrnehmbar, wie die Gezeiten, die sich verändern, läßt sie in der Dunkelheit lächeln.
Lebensstark fühlt sie sich in dieser Zeit, trotz der leichten Übelkeit und Schläfrigkeit, die sie überfällt, wenn sie am wenigsten damit rechnet. Stark genug, die Wartezeit zu ertragen, hartnäckig genug, sich einen Platz im Haus der Schwiegermutter zu erobern, sich nützlich zu machen, davon ist sie überzeugt. Sie kuschelt sich an Yanns warmen Körper, wird von seinem ruhigen Atem in den Schlaf gewiegt.
Etwas, das wie das weinerliche Piepsen eines Kindes klingt, weckt sie früh am nächsten Morgen. Der Platz neben ihr im Bett ist leer. Panik durchfährt sie, sie tastet nach dem Lichtschalter, aber bevor sie ihn findet, erkennt sie Yanns Rücken vor dem Fenster. Er hat die Fensterläden zur Seite geschoben, und der blaßgoldene Schein des Morgenhimmels dringt zusammen mit dem sonderbaren Laut klagender Instrumente herein.
Yann dreht sich zu ihr um.
»Sie haben es trotzdem gemacht.«
Sein Gesicht strahlt in dem schwachen Licht.
Minuten später sitzen sie zusammen mit den Rittern auf der Hafenmauer. Die Musik der altmodischen Blasinstrumente steigt und fällt, la bombarde führt, das Jammern des Dudelsacks folgt ihr auf dem Fuße, ein Geräusch von etwas, das weder Mensch noch Tier ist, wird zwischen den Hafengebäuden in die stille Luft geworfen. Die Flut ist gekommen, ihre Wellen schlagen gegen die Steine der Mole, das Echo eines fernen Stroms. Ein halb gesunkenes Boot zerrt in einiger Entfernung an seiner Vertäuung.
Eine Gestalt überquert die Hafenpromenade, leicht auf den hohen Absätzen schwankend. Mettes Kleid glüht in den roten Strahlen der Sonne, die sich über eine Wolkenbank am Horizont hinüberkämpft. Sie springt auf die Mauer neben Nanna, schleudert die Schuhe von den Füßen. Nanna ergreift ihre Hand.
»Wo bist du geblieben?«
Mette zuckt mit den Schultern.
»Irgend jemand mußte den Mann ja trösten.«
Die Musik ist verklungen. Yann ist aufgestanden, umarmt die beiden Ritter. Die niedrigstehende Sonne verziert die kleine Gruppe mit einem Glorienschein, Benoîts Haar leuchtet wie eine Fackel.
»Er war zusammen mit Yanns Vater in der Widerstandsgruppe.« Mettes Gesicht unter dem glänzenden Pony sieht außergewöhnlich ernst aus. »Er war der einzige, der überlebt hat.«
Etwas läßt ihre türkisfarbenen Augen dunkler erscheinen, eine Mischung aus Kummer und Trotz.
»Warst du mit ihm im Bett?«
»Ach, dazu brauchte es nicht viel.«
»Ich begreife nicht, wie du das machen kannst.«
»Die Freibeuter müssen zusammenhalten.« Mette streckt sich, gähnt, daß Nanna ihre makellosen Zähne sehen kann. Wieder einmal hat sie die Situation voll im Griff, ist entspannt, sicher. »Das mußt du auch nicht verstehen.«
Sie läßt sich von der Mauer hinuntergleiten, steht auf Strümpfen vor Nanna, von einem Loch auf dem Knie läuft eine Laufmasche bis zum Kleidersaum hoch. Dann schlingt sie ihre Arme um Nanna, drückt sie fest an sich.
»Werde glücklich«, sagt sie. »Das ist deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.«