Читать книгу Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen - Страница 5

März 1961

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»Hier kommt das Geburtstagsessen.«

Yanns Onkel stellt die Platte mit geübter Armbewegung auf das Metallstativ in der Tischmitte.

Nanna hat derartige Zusammenstellungen bisher nur auf Gemälden gesehen, aber das Stilleben, das jetzt zwischen ihr und Yann steht, soll nicht nur die Augen erfreuen. Yann schiebt sich bereits seine weiße Leinenserviette in den Halsausschnitt, neben ihren Tellern liegen Nußknacker, Nadeln, eingelassen in Weinkorken, lange, zweigliedrige Instrumente mit etwas, das aussieht wie ein Miniaturspaten an dem einen Ende, kurze, kräftige Gabeln, ein ganzes kleines Arsenal.

Auf dem glänzenden Tablett türmen sich Berge winziger lachsfarbener Langusten mit ihren langen Fühlern neben halben Zitronen, die dunkelroten Zangen einiger gewaltiger Krebse ruhen schwer auf einer Pyramide schwarzer Meeresschnecken. Muscheln mit anmutigen Schalen, lange Ovale, gestreift in hellbraun und altrosa, rot-orange Miesmuscheln in ihren dunklen Gehäusen, dunkelgraue Austernschalen mit ihrem seidenblassen Inhalt, an dem winzige schwarze Fransen hängen.

»Flache Austern«, erklärt der Onkel. »Flache Austern aus Cancale, vous m’en direz des nouvelles!«

Yann bedient sich mit einer Scheibe des kroß gebackenen Landbrots aus dem Korb, kratzt mit seinem Messer Butter von dem großen Klotz auf dem Glasteller.

»Das Beste daran ist, daß ich denen da heute nichts servieren muß.«

Er nickt nach hinten zu dem voll besetzten Lokal hin, in dem die Kellnerschar seines Onkels mit routinierten Bewegungen die Bestellungen auf ihren weißen Blöcken notiert, mit den Tabletts voller Schalentiere heraneilt, mit Fisch in dampfenden Soßen, tropfenden Weißweinflaschen, einem Extraglas hier, einem Korb mit Brot da.

An allen Tischen zwischen den Trennwänden aus Fayence mit Blumenmuster sitzen Familien. Mehrere Generationen sind um die weißen Tischdecken versammelt, die Kinder artig, still und mit großen Augen, neben Nanna zeigt eine Großmutter ihrem Enkel, wie man aus dem Menü auswählt, ein Chor verschiedenster Stimmen steigt zu der bemalten Decke hinauf. Die Stimmung ist aufgekratzt, erwartungsvoll, ein Sonntagsessen im Kreis der Familie, Leckereien, die die vom Lande Geflohenen an die Küste daheim erinnern, an das leuchtende, großzügige Meer.

Während der letzten Monate hat Nanna sich immer wohler in dieser Gesellschaft gefühlt. Sie sind aus ihrem natürlichen Element gerissen worden, die Bretonen wie auch sie, aber hier, in diesem schönen Lokal mit den Jugendstilornamenten und den blitzenden Gläsern auf den weißen Tischdecken, sind sie zusammen im Exil, in der einfachen Gemeinschaft einer Mahlzeit.

Einer der Kellner winkt den Onkel zu sich, worauf dieser mit langen Schritten hinter den geschwungenen Messingstangen des Spiegelbuffets verschwindet, bereit, sein wachsames Auge über dem ganzen großen Lokal kreisen zu lassen.

»Ein ganzer Tag frei. Mein bestes Geburtstagsgeschenk.« Yann schiebt sich ein Stück Brot in den Mund, lächelt kauend Nanna zu. »Abgesehen von ...«

»Abgesehen wovon?«

Nanna ist verwirrt. Daß heute Yanns Geburtstag ist, war für sie eine Überraschung, sie hatte sich lediglich zum Sonntagsessen ins Restaurant des Onkels einladen lassen, wie schon so oft. Yann hat normalerweise erst Zeit, sich zu ihr zu setzen, wenn der größte Trubel vorbei ist und nur noch wenige Tische mit einigen Nachzüglern besetzt sind, die etwas zu lange bei Kaffee und Calvados hängenbleiben. Trotz ihrer Freude und der leichten Verlegenheit, diesmal Yann am Tisch gegenüberzusitzen und von dem sonst immer so geschäftsmäßigen Onkel wie ein Ehrengast behandelt zu werden, ist sie etwas unzufrieden, weil sie keine Gelegenheit hatte, sich ein Geschenk auszudenken, etwas Besonderes, von ihr für ihn.

»Abgesehen von dir.«

Nanna senkt den Blick, verfolgt mit dem Zeigefingernagel ein Muster im Gewebe der Tischdecke. Yanns Bewunderung macht sie verlegen, sie kann kaum glauben, daß sie nichts machen muß oder sich nicht in einer ganz bestimmten Art und Weise verhalten muß, um gemocht zu werden. Einfach sie sein kann. Nanna sein darf.

»Würde deine Mutter nicht gern mit dir feiern?« fragt sie ablenkend.

»Sie findet kaum jemanden, der sich um alles kümmern kann.« Yann schiebt die Frage mit einer Handbewegung weg. »Wahrscheinlich hat sie geglaubt, ich komme nach Hause.«

»Aber sie wird doch hoffentlich nicht böse auf dich sein?« fragt sie und fügt zögernd hinzu: »Oder auf mich?«

Yann hat eine der flachen Austernschalen genommen, schabt eifrig mit einer kurzen Gabel den Haltemuskel des Tiers los. »Komm«, sagt er und lockt sie zu sich heran. »Mach den Mund auf.«

Die Auster schmeckt nach Nüssen und Salzwasser, sie kaut das feste, weiche Fleisch und schließt die Augen, es ist fast etwas Peinliches an diesem intensiven Genuß.

»Nun?«

»Das schmeckt wie saubere Bettlaken«, sagt sie und spürt, wie ihr die Röte in die Wangen steigt.

Yann lacht.

»Wie unter einer Brücke hindurchzutauchen«, sagt er.

»Wie schwimmen im Dunkeln«, erklärt Nanna keck und muß plötzlich lachen, erleichtert. Yann schafft es immer wieder, Seiten bei ihr zu finden, von deren Existenz sie selbst kaum wußte.

Ihr französischer Wortschatz wächst in seiner Gesellschaft, bekommt einen Einschlag hin zum Jargon und zur Jugendsprache, mit komischen Abkürzungen und absurden Vergleichen, aber auch mit einer Poesie, von der sie nicht weiß, woher sie eigentlich stammt, etwas Buntes, Flüchtiges, das ihr einen fast körperlichen Genuß bereitet.

»Ein Glas Muscadet, liebes Fräulein, zu Ihren Austern?« Yann hat die grüne Flasche aus dem Kühler gehoben. »Wir haben einen ausgezeichneten Jahrgang hier, auf Hefe gegoren, wissen Sie?«

Yann streicht sich einen imaginären Schnurrbart mit dem Daumen glatt, ahmt die Art seines Onkels formvollendet nach, und Nanna platzt vor Lachen heraus. Sie probiert den Wein wie ein verwöhnter Restaurantgast, läßt einen kleinen Schluck im Mund kreisen, spitzt die Lippen in französischer Manier.

»Ist in Ordnung«, sagt sie mit einem überlegenen Schulterzucken, und beide lachen, greifen gleichzeitig nach einer Auster und wollen sich vor Lachen ausschütten.

Yann fängt ihre Hand, seine Augen lächeln, als er ihre Finger mit einem verstohlenen Blick zum Onkel hin küßt.

»So, und jetzt essen wir«, erklärt er und läßt sie los. »Wir fressen, bis wir platzen, und dann kommt das Dessert.«

Nanna legt mit einem Seufzer ihren Löffel auf den Teller mit den Resten des Windbeutels und dem geschmolzenen Vanilleeis und wischt sich mit ihrer Serviette ein wenig Schokolade von der Oberlippe.

»Keinen Happen mehr«, stöhnt sie.

Der Gürtel ihres Kleids in Schottenkaro, dessen weißer Kragen sie wie ein Schulmädchen aussehen läßt, wird zu eng. Ihre Wangen glühen von dem Wein, aber sie ist eher satt als berauscht, schwindlig und selig von all dem köstlichen Essen und Trinken, dem Reden und Lachen, von Yanns verstohlenen Zärtlichkeiten auf ihrer Hand und Wange, den Leckerbissen, die er ihr auf den Teller geschoben hat und die sie unbedingt probieren mußte.

Bevor sie nach Frankreich kam, wußte sie nicht, daß Essen ein Genuß sein kann. Die Kochkünste ihrer Stiefmutter waren geprägt von den Rezepten der Frauenzeitschriften, geprägt von deren angestrengten Erfindungen, Merkwürdigkeiten und Dekorationen.

Jetzt kann sie zusehen, wie Yann an Gerichten schnuppert, probiert und kostet, Früchte vorsichtig drückt und ein Stück Brot prüfend kaut. Entweder ist das Essen gut, frisch und richtig zubereitet, oder man kann es gleich vergessen.

Jede kostbare freie Stunde im letzten halben Jahr haben sie gemeinsam verbracht. Emsig wie die Eichhörnchen haben sie die Gaben aus dem Vorrat ihres Wissens, ihres Geschmacks und ihrer Interessen, an Kunst und Essen ausgetauscht, haben die Welt angehalten und sich gegenseitig beigebracht, sie mit neuen Augen zu sehen.

Sich selbst einen neuen Blick geschenkt, die eigene Person zu sehen.

Yann hat eine Gitane aus der blauen Schachtel angezündet, lehnt sich auf seinem Stuhl zurück.

»Und jetzt?« fragt er, aber bevor Nanna antworten kann, sieht sie, wie der Onkel Yann zu sich winkt.

Sie folgt ihm mit den Augen, als er mit zähen Schritten den Raum durchquert. Seine gute Jacke ist zur Feier des Tages frisch gebügelt, das blonde Haar kringelt sich über dem blauen Stoff im Nacken. Eine Hand schließt sich irgendwo tief in ihrem Inneren, eine vorsichtige Hand, behütend, wie jemand, der einen verschreckten Vogel hält.

Ich bin verliebt, denkt sie und spürt das Flattern weicher Flügel in ihrer Brust.

Tausend feine Fäden umspinnen sie, haben sie umsponnen seit dem Tag auf den harten Fliesen des Metrobahnsteigs. Sie sind jetzt beide beschützt, in dem gleichen Kokon, beschützt von einem feinen Gewebe aus Gefühlen, aus Träumen. Keine Erklärungen, kein Wort bindet sie. Und dennoch fühlen beide das Schweigen zwischen sich wie eine zärtliche Vertraulichkeit, jeden Blick wie ein Versprechen. Wie das gekommen ist, weiß sie nicht, sie weiß nur, daß es so ist, wie es ist.

Yann kommt zurück. Sie sieht bereits von weitem, daß etwas seine überschäumende Freude getrübt hat.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

Yann zuckt mit den Schultern.

»Mutter«, sagt er. »Mein Onkel hat den Mund nicht halten können. Jetzt will sie wissen, was das für ein Mädchen ist, das mir wichtiger ist als sie.«

»O nein.«

Die klammen Hände eines Schuldgefühls ergreifen Nanna. Sie hat versucht sich diese Mutter vorzustellen, von der Yann normalerweise stets voller Respekt spricht, wie von einer Person, die die Hochachtung der Welt verdient, eine besondere, außergewöhnliche Person, aber ihre Phantasie hat sie sich nicht ausmalen können. Die französischen Frauen, die sie kennengelernt hat, Madame und ihre Freundinnen, sind alle aus dem gleichen festen, bunten Holz geschnitzt, laute gezähmte Vögel, immer bereit, ihre sorgsam geschminkten Lippen voller Verachtung zu schürzen, wenn ihnen etwas nicht paßt.

Sie hat mit Yann darüber gesprochen, daß sie seine Mutter kennenlernen sollte, aber bisher nur in unverbindlichen Sätzen, eine Tür sollte immer einen Spalt offenbleiben, eine Fluchtmöglichkeit für beide, falls trotz allem etwas schiefgehen sollte.

Und vielleicht ist genau das jetzt passiert.

Yann sieht verkniffen aus, vielleicht ist die Sache damit entschieden, vielleicht ist das ihr letztes Treffen, sie bereitet sich bereits auf den Abschied vor, spürt schon die dumpfe Verzweiflung.

Yann zerdrückt die Zigarettenkippe im Aschenbecher, schaut mit einer Art Wut auf seine Hand.

»Willst du wissen, was ich geantwortet habe?«

Seine Stimme klingt überraschend hart, und Nanna spürt seinen Blick, jetzt sieht er sie an, fordert eine Antwort.

Sie nickt, ist kurz vorm Weinen.

»Das ist meine Geliebte, habe ich gesagt.« Seine Stimme klingt rauh, er räuspert sich, die Worte wollen die Kehle nicht verlassen.

Seine Hand liegt auf ihrer, drückt sie, daß es schmerzt. Dann läßt er sie los, sagt in seinem üblichen Tonfall:

»Worauf hast du jetzt Lust? Wenn du Kunst sagst, habe ich einen Vorschlag.«

Nanna schaut ihn an, ist verwirrt über seinen schnellen Gemütswechsel.

»Wohin du willst«, sagt sie und erinnert sich plötzlich an ihren alten Konfirmationspfarrer, an diesen freundlichen Mann, der so von der Liebe reden konnte, daß zwanzig Vierzehnjährige aufhörten zu kichern. Sie denkt die Worte, die sie damals hörte und versteht jetzt, was sie bedeuten.

Wo du hingehst, da werde auch ich hingehen.

Der Museumsgarten führt leicht schräg hinunter zu einem großen Steinbassin. Die geschnittenen Linden tragen noch keine Blätter, aber die Luft ist warm, vibriert vom Vogelgesang. Über ihren Köpfen fliegt ein Singvogel mit einem Zweig im Schnabel, der doppelt so groß ist wie der Vogel selbst. Der kleine Körper kippt unter dem Gewicht zur Seite.

Die Skulpturen des Parks sind neu für Nanna. Die Bronzekörper, sonderbar lebendig, die Bronze ähnelt echter Haut, es scheinen richtige Muskeln unter der polierten Oberfläche zu liegen, sie strahlen ein Gefühl gebündelter Energie aus, eine Kraft, die gleichzeitig fremd und vertraut ist.

»Sie sind merkwürdig, nicht wahr?« Sie dreht sich Yann zu. Ein Männerkörper streckt sich vor ihnen gen Himmel, in einer Bewegung, die nie aufzuhören scheint. »Der Genius des ewig Ruhenden«, liest sie auf dem Sockel. »Vielleicht ist es ja wirklich so?«

»Daß man in einer Bewegung ruht? Fließt, schwebt, sich streckt, so weit man kann. Das ist wohl so.«

»Warst du schon einmal hier?«

Yann nickt.

»Auf einer Klassenreise, im Gymnasium. Wir hatten einen Lehrer, der ganz wild auf Rodin war, der hat uns hierher geschleppt. Eine Jungsklasse, das war eigentlich ziemlich beknackt. Wir haben nur gekichert und blöde Bemerkungen gemacht.« Yann schüttelt bei dem Gedanken den Kopf. »Damals hat mir das nicht viel gebracht, aber ich wußte, daß ich wiederkommen wollte. Komm, lass uns reingehen.«

Die sanfte Frühlingsluft schwebt wie ein graurosa Schleier in den hohen Räumen. Die Skulpturen stehen auf Kaminsimsen, vor Spiegeln, mitten im Raum auf Sockeln – Pflanzen, die aus den Steinblöcken herauswachsen. Fast atmen sie, das Blut pocht in ihnen, Nanna hat noch nie eine so intensive Nähe zu toten Dingen gespürt.

»Der ewige Frühling.« Sie zieht Yann zu einer kleinen Figurengruppe hin, ein Kuß in schwarzer Bronze, anmutig, schamhaft.

»Das ewige Idol.« Er zeigt mit dem Finger auf eine andere Gruppe.

Der Kuß unter der linken Brust der Frau, eine Sehnsucht, so stark, daß Nanna spürt, wie sich ihre eigenen Brustwarzen zusammenziehen, wie bei den Abschiedsküssen von Yann, wenn der Kuß vom ganzen Körper gegeben und empfangen wird.

Hand in Hand gehen sie durch die Säle, treten vorsichtig auf das abgenutzte Parkett in Flechtmuster, jetzt schweigend. Sie schauen und schauen, und die Formen um sie herum verschwimmen und verwandeln sich in ein Gefühl tauber Süße, das nicht in Worte zu kleiden ist.

Yann ist vor einer Skulptur stehengeblieben.

»Sieh mal«, flüstert er, und Nanna sieht, es ist ihr peinlich, sie will sich abwenden, aber Yann hält sie fest.

Die Marmorfrau streckt das eine Bein zum Himmel. Der Sendbote der Götter, ihr Geschlecht ist offen, ausgestellt, aber sonderbar unverletzlich, das Geschlecht erzählt ein Geheimnis. Vielleicht ist es das Geheimnis der Götter, vor ihren Augen pulsiert die Marmorfigur vor heißem Leben.

»Sie ist stolz«, flüstert Yann. »Stolz und schön.«

Ihre Augen treffen sich in dem fleckigen Spiegel hinter der Statue, und etwas in Yanns Blick läßt Nanna ihre Hand zurückziehen. Sie taumelt in den angrenzenden Raum, bleibt dort stehen und spürt, wie das Blut in ihrem Körper rauscht, traut sich nicht, sich umzuschauen.

Als sie endlich aufblickt, steht sie Auge in Auge mit dem Schmerz. Ein zurückgeworfener Kopf in glänzender Bronze, geschlossene Augen, ein Schrei, der nach innen geht, zurück, in die Frau, unerreichbar. Nanna dreht sich weg, will die Verzauberung von vorhin hüten, aber die Verzweiflung strahlt ihr entgegen von einem Frauenkörper, der sich herabgebeugt hat, einen Fuß umfaßt und ihn festhält, das Unglück in sich hält, das zu grausam ist, um es loszulassen.

Nannas Fluchtweg ist wieder blockiert, von einem männlichen Oberkörper, einem Torso, unter der grünlich angelaufenen Bronze verbirgt sich ein Schmerzensschrei. Ein Mann, der leidet, getroffen von einer scharfen Waffe, er begreift nicht, wieso. Er ist jung, vielleicht noch ein Junge, er erinnert sie an Yann, sie will weg von hier und dreht sich erneut um, und da steht er vor ihr, nimmt sie in seinen Armen auf.

»Ich habe Angst gekriegt«, murmelt sie gegen seine Schulter, und er streichelt ihren Rücken und streicht ihr über den Nacken, trotz der neugierigen Blicke der anderen Museumsgäste.

»Wovor hast du Angst gekriegt?«

»Dich zu verlieren.« Die Worte kommen von ganz allein, jetzt hat sie es gesagt. »Ich liebe dich«, flüstert sie, so leise, daß sie es kaum selbst hören kann.

Die Straße ist menschenleer, als sie aus dem Museumstor treten, das Licht von einem verschwommenen Blaugrau. Yanns Arm ruht auf Nannas Schulter.

Ein vertrockneter Blumenstrauß raschelt unter ihren Füßen, sie schaut auf.

Michel de Bretagne. Sie liest die kleinen Metallbuchstaben an der Mauer, ein Datum, dreht sich mit fragendem Blick zu Yann um.

»Es waren so viele«, murmelt dieser, und seine Augen glänzen plötzlich. »Junge Männer, in meinem Alter, mein eigener Vater.«

Sie hat es nie gewagt, ihn nach seinem Vater zu fragen, er selbst hat das Thema vermieden. Die Geschichte von Yann war immer die Geschichte von Yann und seiner Mutter und seiner Großmutter und dem Hotel, von Yann und seinen Freunden, mit denen er Musik macht, vom Meer und dem Licht dort draußen im Westen.

»Dein Vater?«

»Ein andermal.«

Er zieht sie von der Mauer fort, weg von den braunen Blumen. Auf dem Boulevard stoßen sie auf Menschen, die wie sie selbst herumschlendern, junge Paare, die Hand in Hand gehen, ältere Männer, die sich auf ihre Stöcke stützen, ihnen mit freundlichen Augen unter schwarzen Baskenmützen zunicken.

Ein Hund mit einem Halsband in Schottenkaro räkelt sich auf seinem fetten Rücken, die Pfoten in die Luft gereckt, das Band um seinen Hals hat das gleiche Clanmuster wie Nannas Kleid unter der kurzen Wildlederjacke, und die Frau, die den Hund an der Leine hält, deutet auf das Kleid und das Halsband und faßt sich mit einer fröhlichen Geste an die Stirn, sie bleiben stehen und lachen mit ihr.

Langsam gehen sie an den Steinfassaden entlang, ziellos in dem sanften Licht. Die Luft ist immer noch mild, als der hellbraune Strom des Flusses hinter den Brustwehren der Kais vor ihnen auftaucht. Nannas neue blaue Schuhe drücken an den Füßen, aber sie will diese dahinfließende Stimmung nicht zerstören, keinen Grund für eine Frage nach Richtung oder Ziel geben. Sie sind auf dem Weg zu etwas, sie weiß nicht, was, sie weiß nicht, ob Yann es weiß, sie bewegen sich langsam, getragen von langen Dünungen, gehen immer weiter in dem schwindenden Licht des späten Nachmittags.

In Nannas Kopf und Körper pochen die Bilder des Nachmittags, die sensuellen Kurven der Skulpturen, die nackte Leidenschaft, das verzerrte Gesicht des Leidens. Durch die Jacke und das brave Kleid hindurch spürt sie Yanns warmen Körper, will ihm nah sein, noch näher, aber sie weiß nicht, wie. Sie weiß nicht, ob das möglich ist. Weiß nicht, ob sie sich wirklich trauen würde, wenn es möglich wäre.

Die Lampen über ihren Köpfen sind angegangen, als Yann in eine Gasse einbiegt, die sie nie zuvor gesehen hat. Die schmutzigweißen Fassaden der Häuser haben nur wenige Stockwerke, sie haben nichts Elegantes an sich, sehen aber gemütlich aus, freundlich, Menschen leben ihr gutes Leben hinter den kleinen Fenstern mit den angemalten Fensterläden und den Blumenkästen auf den Gesimsen.

»Mein Freund arbeitet hier«, sagt Yann, und Nanna sieht, daß die Tür hinter ihnen in ein kleines Hotel führt. Ein dunkelhaariger Mann steht hinter dem Tresen am Empfang, hebt die Hand zum Gruß.

Das Herz pocht Nanna im Hals. Vielleicht hat Yann ja ihre Gedanken erraten und schon alles geplant. Draußen auf der kleinen Toilette wäscht sie ihre zitternden Hände, sucht das Eau de Cologne in der Tasche und betupft sich vorsichtig die Schläfen und den Puls damit, sie versucht Zeit zu gewinnen, weiß nicht, was von ihr erwartet wird. In dem fleckigen Spiegel sieht sie, daß sich ihr Zopf gelöst hat, ein paar lange Locken fallen ihr auf die Schulter.

Sie hebt die Arme und löst den Zopf ganz auf, läßt das Haar über den Nacken rieseln, lächelt ihrem Spiegelbild zu. Ich bin hübsch, denkt sie, verliert aber trotzdem den Mut und bindet das Haar wieder im Nacken zusammen, dreht es zu einem vernünftigen Knoten.

Drei kleine Gläser auf dem Tresen, Yanns Freund trinkt mit ihnen, dreht sich dann weg, um an das klingelnde Telefon zu gehen.

Die Dinge um sie herum zeigen in dem schattenlosen Licht der Neonröhre über der Bar messerscharfe Konturen, die Farben strahlen wie in einem Film, wollen sich in ihr Gedächtnis einbrennen, der rote Aperitif in ihrem Glas, der bläuliche Rauch von Yanns Zigarette, die Gitanepackung.

Ein Schlüssel mit einem Holzschild daran liegt auf dem Tresen neben seiner Hand. Jemand hat mit einem glühenden Nagel eine Acht in das Holzstück gebrannt, der gelbe Aschenbecher mit der Pastisreklame zeigt Spuren von anderen brennenden Zigaretten.

Der Freund spricht laut ins Telefon, schlägt einen großen Almanach auf, blättert, schreibt etwas mit dem Kugelschreiber hinein.

Ihr Paß liegt in ihrer Tasche. Eine Blechdose mit Honigbonbons. Ein Taschentuch, etwas feucht. Eine Flasche mit Lavendelwasser. Ein Stoffportemonnaie mit Münzen.

Ein carnet Metrofahrscheine.

Sie könnte aus der Tür gehen, ohne sich umzudrehen. Den Eingang zur nächsten Metro suchen. Sich mit großer Geschwindigkeit unter der Erde bewegen, wieder ans Licht treten, bekannte Orte aufsuchen. Auf den Knopf am Tor in der Rue du Roi de Sicile drücken, das leise Geräusch hören, wenn die Concierge sie mit dem Summer einläßt. Könnte in ihrem Zimmer in Sicherheit sein, mit den konventionellen Stimmen hinter den Glastüren des Salons, Mariclôs heißer Stirn unter der Bettdecke im Kinderzimmer. Sie könnte zwischen ihre Laken kriechen und sich vom Schluchzen des Kindes wecken lassen, zu ihm gehen und es trösten, ihm die eigene schlaftrunkene Wärme geben.

Yann hat ausgetrunken, er stellt sein Glas auf den Tresen.

»Willst du?« fragt er, ohne sie anzusehen.

Ihre Augen im Spiegel hinter der Bar sehen dunkel aus, auf der Hut, ein Tier auf der Flucht, aber sie ist nicht auf der Flucht.

»Ja«, sagt sie. »Ich will.«

Die weißen Bettücher leuchten über der dunkelroten Decke in dem dunklen Zimmer, die Fensterläden halten den Lärm der Straße ab, nur ein fernes Rauschen der Autos auf einer größeren Straße in der Nähe dringt durch den Spalt herein. Irgendwo summt eine Frauenstimme ein Kind in den Schlaf.

Nannas Zähne klappern vor Kälte, ihr Körper glüht heiß, ihre Wangen brennen, die Haut kann jeden Moment dahinschmelzen. Ihr Mund ist trocken.

»Ich habe Angst.«

Ihre Stimme ist viel zu laut, ein kreischender Vogel.

»Ich auch.«

Dann hört sie sein Lachen und fühlt seine Arme um sich, und die Spannung löst sich so weit, daß sie mitlachen kann, sich mit ihm auf dem Bett herumrollt, bis sie umfallen, atemlos.

Yann stützt sich auf die Ellbogen, sie spürt seinen Blick.

»Nanna«, sagt er. »Das ist für mich nicht das erste Mal.«

Sie hat es geahnt, weiß nicht, ob sie es überhaupt wissen will.

»Aber für mich.«

»Das wäre mir auch egal.«

Sie schmiegt sich an ihn, schnuppert an seinem Hals, er riecht, wie ihr Mann riechen soll, nach gesunder Haut und frischer Luft, sogar hier in der Stadt riecht er nach Meer und Salz, nach Sonne und Wind.

»Ich will dich sehen«, murmelt er ihr ins Ohr, und er knipst die kleine Lampe auf dem wackligen Nachttisch neben dem Bett an. Seine Hände knöpfen ihr Kleid auf und ziehen es ihr über die Schultern, helfen ihr aus dem Unterrock und dem Büstenhalter. Sie streift sich den Slip und die Strümpfe mit abgewandtem Blick ab. Vielleicht findet er ja, daß sie zu mager ist, zu häßlich, ihr Busen zu klein und ihre Hüften zu schmal, vielleicht ist er eher richtige Frauenkörper gewohnt, füllige, runde.

Sie legt sich auf den Rücken, bedeckt die Augen mit einem Arm, wappnet sich, seiner Enttäuschung zu begegnen.

Dann spürt sie seine Hand, zärtlich auf ihrem Körper, sie streicht ihr über den Bauch, über den Busen, teilt vorsichtig ihre Schenkel.

»Du bist schön.«

Er zieht ihr den Arm vom Gesicht, bringt sie dazu, die Augen zu öffnen.

»Schön«, wiederholt er. »Du mußt lernen, darauf stolz zu sein.«

Er knöpft sein Hemd auf, die Hose, befreit sich mit einer einzigen Bewegung von seinen Sachen. Sein Körper ist ein langes Viereck, die Glieder sind kräftig, stark.

Sein Penis streckt sich ihr aus einem Büschel gekräuselter kastanienbrauner Haare entgegen, sie möchte ihn gern ansehen, traut sich aber nicht, kneift die Augen zu.

»Guck nur«, sagt er und deutet darauf. »So schön bist du.«

Er nimmt ihre Hand, und sie spürt ihn. Die Erregung läßt ihre Haut erschaudern, er ist hart gegen ihre Weichheit, der Schmerz ist kurz und scharf.

Ihr Wimmern vermischt sich mit seinen heftigen Atemzügen.

»Meine Geliebte.«

Er zieht sich aus ihr zurück und liebkost sie, bis ihre Lust zurückkehrt, und nun zieht sie ihn an sich heran, will sich mit ihm bewegen, sich ihm öffnen und ihn nie wieder loslassen, und sie läßt sich selbst los und genießt den Rhythmus, genießt die vibrierende Süße, all das Weiche und Harte zwischen ihnen, genießt die Erschöpfung.

Das Wasser im weißen Porzellanbecken des Bidets leuchtet hellrot. Sie sträubt sich ein wenig unter Yanns Händen, er hat sich neben sie gekniet, wäscht sie vorsichtig, tupft sie mit dem dünnen weißen Handtuch trocken.

»So.«

Die Knochen finden ihren Platz nicht mehr in ihrem Körper, sie ist aus den Gelenken gerutscht und nur notdürftig wieder zusammengesetzt worden.

Er hüllt sie in eine Decke und schiebt sich neben sie, legt seinen Arm unter ihren Nacken, streichelt ihre Wange, ihr Haar, haucht auf ihre Augenlider.

»Wie saubere Laken.«

Yanns Stimme läßt sie im Halbschlaf lächeln.

»Wie unter einer Brücke hindurchzutauchen.«

Sie kuschelt sich an seine Brust, pustet gegen das geringelte Haar.

»Wie schwimmen im Dunkeln.«

Yanns leises Lachen ist das letzte, was sie hört, bevor der Schlaf sie einhüllt, ganz sanft, ein Boot, das langsam vom Ufer davongleitet.

Nanna - Eine kluge Jungfrau

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