Читать книгу Auf den Wolf gekommen - Lisa Kohl - Страница 7
Boggis, Bunce & Bean
ОглавлениеMühlenbach sollte die dritte Stadt werden, die Lina in Sachen Wolf unterstütze und einfach war es am Anfang auch bei den anderen beiden nicht gewesen. Es war harte Arbeit, Menschen etwas nahezubringen, das sie nicht kannten – ganz besonders dann, wenn sie es gar nicht kennen wollten.
Lina fand die Arbeit, die sie machte, unverzichtbar wichtig, das war auch der Grund, warum sie sich nach wie vor als Ansprechpartnerin zur Verfügung stellte, aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, liebte sie es nicht gerade. Als Professor Weiher sie letzte Woche gefragt hatte, ob sie Mühlenbach übernehmen könne, hätte sie am liebsten Nein gesagt. Aber gut, anscheinend würde sie ja nun früher wieder an die Universität zurückkehren können als sie angenommen hatte. Hermann Waltherscheid hatte sie mit Worten, die viel unfreundlicher nicht hätten sein können, aus seinem Büro hinauskomplimentiert.
Während sie über den Mühlenbacher Marktplatz schlenderte, zwischen den Gemüse- und Blumenständen hindurch, fettigen Backfischgeruch in der Nase, dachte sie an ihre viel zu kleine, spartanisch eingerichtete Wohnung und das Vorlesungskonzept, über dem sie vor ein paar Tagen noch mit vor Eifer geröteten Wangen gebrütet hatte. Sie hatte alle Notizen dazu, auf dem Schreibtisch ausgebreitet, zurückgelassen, damit sie, wenn sie aus Mühlenbach zurückkehrte, direkt weiterarbeiten konnte. Im kommenden Sommersemester würde sie ihre Vorlesungsreihe zum Thema Wölfe in Deutschland halten. Vor jungen, aufgeschlossenen, gebildeten Studierenden über Wölfe sprechen! Nicht vor verängstigten, verstockten, intoleranten Bürgermeistern und ihren Bürgern. Lina war geehrt, dass das Institut ausgerechnet sie gebeten hatte, diese Vorlesungen zu halten. Sie hielt sich selbst für keine besonders talentierte Rednerin und neben der Vorfreude, die sie verspürte, wuchs auch das Lampenfieber. Schon drei Mal war sie nassgeschwitzt aus dem Schlaf geschreckt, heimgesucht von lachenden Studenten und ihrer eigenen Sprachlosigkeit. Die Verteidigung ihrer eigenen Doktorarbeit hatte ihr nicht solche Probleme bereitet.
Deshalb war es ihr umso wichtiger, ihr Vorlesungskonzept so detailliert und präzise wie möglich vorzubereiten. Seit ihrer Zusage an das Institut, hatte sie jede freie Minute mit der Vorbereitung verbracht. Bis Professor Weiher sie nach Mühlenbach geschickt hatte. Dieses eine Mal noch. Sie sei so gut darin und ob sie denn den armen, einsamen Wolf mit den dummen, missgünstigen Menschen allein lassen wolle? (Der Professor hatte eine erstaunlich schlechte Meinung von seinen Artgenossen. Der Hauptgrund, weshalb er selbst nie als Wolfsvermittler agierte, sondern das Projekt nur koordinierte). Schließlich hatte Lina sich breitschlagen lassen, zum einen, weil sie wirklich nicht so schlecht in dem war, was sie tat. In den beiden anderen Städten, die sie schon beraten hatte, war das Mensch-Wolf-Verhältnis mittlerweile fast unproblematisch. Und zum anderen hatte sie die Aussicht auf frische Waldluft und Wolfsspuren im Schnee (der leider noch nicht gefallen war) sehr gereizt.
Wenn Lina sich erlaubte, zu träumen und sich vorzustellen, wie sie ihr Leben am liebsten verbringen würde, sah sie sich weder im Hörsaal noch in irgendeinem stickigen Rathausbüro, sondern immer irgendwo im Unterholz hockend, Kamera und Notizheft bereit. Allein. Sie liebte Wälder, ihren von Region zu Region so unterschiedlichen Duft, ihre eigenen Regeln, ihr Kreislauf, der für die meisten Menschen so vollkommen selbstverständlich war, dass sie ihn kaum noch wahrnahmen. Es war nicht so, dass sie Menschen nicht mochte, aber sie hatte die Erfahrung gemacht, dass gelegentliche, selbstgewählte Einsamkeit sehr heilsam für den Geist sein konnte. Menschen, das hatte sie in den drei Jahrzehnten auf dieser Erde begriffen, konnten zum Himmel nochmal anstrengend sein!
Ein nicht sehr kleiner Teil von Lina hoffte auf Bürgermeister Waltherscheids Starrköpfigkeit und darauf, dass er sich nicht bei ihr meldete. Sie würde einfach ein paar Tage im Ort bleiben, den Winterswald erkunden, Wolfsspuren suchen und entspannen, bevor sie an ihr Vorlesungskonzept zurückkehrte. In dem Pub, in dem sie untergekommen war, gab es gutes Essen und noch besseres Bier. Zwar roch das Gästezimmer, das sie bewohnte nach Hund und durch die dünne Wand hörte sie das Schnarchen ihres Gastgebers, aber es gab ein schönes großes Fenster, durch das sie die Baumwipfel zählen konnte und in der Ecke stapelten sich umfangreiche Fantasywälzer mit bunten Covern und generischen Titeln, wie Die siebte Schlacht der Orks oder Das Geheimnis des Elfenwaldes. Bast hatte ihr noch gestern Abend sein, nach eigener Aussage, Lieblingsbuch in die Hand gedrückt, das bislang noch unangetastet auf Linas Nachttischchen lag. Vielleicht würde sie sich heute Abend früh zurückziehen und hineinblättern – es war Jahre her, dass sie, der puren Unterhaltung frönend, einen Roman zur Hand genommen hatte. Immer lauerte in irgendeiner Schreibtischschublade oder einem Emailanhang Fachliteratur, die gelesen werden wollte.
Fünf Tage. Wenn der adipöse Bürgermeister sich nicht innerhalb der kommenden fünf Tage bei ihr meldete, würde sie abreisen, Weiher mitteilen, dass ihre Hilfsbereitschaft nicht erwünscht gewesen war und zu ihren Vortragsnotizen zurückkehren. Bis dahin würde sie den Aufenthalt in Mühlenbach schlichtweg als Urlaub betrachten. Ihr erster in diesem Jahr.
„Das ist sie.“
„Wer? Die in dem roten Mantel da?“
„Psst, sei doch still, sonst hört sie dich noch.“
Lina sah auf und blickte direkt in das hochrote Gesicht eines grobschlächtigen Mannes mit einer ausgesprochen beeindruckenden Kartoffelnase, der sie aus kleinen runden Schweinsaugen misstrauisch musterte. Sie glaubte, ihn gestern Abend im Pub schon gesehen zu haben, ganz sicher konnte sie allerdings nicht sein, sie hatte schon immer Schwierigkeiten gehabt, sich Gesichter zu merken. Neben ihm stand die hagere, grauhaarige Frau, die Lina gestern Abend so lautstark beschimpft hatte. Da hatte Lina keinerlei Wiedererkennungsschwierigkeiten. Wie hieß sie noch gleich? Gertrud? Eine Frau der Gegensätze: Ihre feingliedrige Statur und die rehgleichen hellbraunen Augen verliehen ihr ein vornehmes, damenhaftes Aussehen, bildeten aber einen verwirrenden Kontrast zu ihren gelben Zähnen und der ledrigen Haut. Sie spuckte, ganz undamenhaft, auf den Boden, als sie bemerkte, dass Lina zu ihr herübersah.
Ein dritter Mann, der ganz und gar keine Ähnlichkeit zu den anderen Dorfbewohnern hatte, stand bei ihnen. Er war hochgewachsen, trug ein ausgeblichenes braunes Cordjacket mit einer cremefarbenen Krawatte und reckte seine Nasenspitze leicht in den Himmel, während er den Blick über den Marktplatz schweifen ließ und schließlich an Lina hängen blieb. Sein Alter war schwer zu schätzen, aber über sechzig war er definitiv.
Es belustigte und verwirrte Lina zugleich, so schamlos begafft zu werden. Entschlossen, sich nicht so ohne Weiteres anstarren zu lassen, ging sie auf die drei Gestalten zu, die problemlos als Bösewichte in einer Kindergeschichte hätten auftauchen können. Tatsächlich erinnerten sie ein wenig an Boggis, Bunce und Bean aus Roald Dahls Fantastic Mr. Fox.
Sie hatten eine Bierzeltgarnitur aufgestellt und einen klapprigen Gartenschirm darüber gespannt, direkt neben einem Marktstand, der Heumilchkäse und Zwiebelbrot verkaufte. An dem Biertisch, der aussah, als hätte er den einen oder anderen Winter im Freien verbracht, klebte, für jeden sichtbar, eine vergrößerte Version des Wolfsfotos aus der Wildkamera, das Lina aus der Zeitung kannte. Daneben stapelte sich eine beträchtliche Menge, scheinbar selbstgedruckter Flugblätter mit der Überschrift
ACHTUNG – WOLF IM WINTERSWALD
„Guten Tag“, begrüßte Lina die drei Gestalten freundlich. „Sind die zum Mitnehmen?“
„Ja, natürlich sind sie das“, schnappte die streitbare Dame und reckte ihr Kinn vor. Aus der Nähe betrachtet, sah sie eher aus wie eine Hexe, denn eine Dame.
„Darf ich?“, fragte Lina und zeigte auf die Flugblätter.
Der schlanke Riese mit dem Cordjacket nickte ihr auffordernd zu, verzog aber keine Miene. Sein Gesicht war das gepflegte Allerweltsgesicht eines alten, intelligenten Herren, der eine ganze Generation der Disziplin und emotionaler Kühle vertrat, ohne es überhaupt zu merken.
„Greifen Sie zu, Frau…?“, sagte er und hob fragend die Augenbrauen.
„Nowak“
„Freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Wolfgang Kiebeler. Was treibt Sie in die Gegend, Frau Nowak?“
„Die Arbeit“, antwortete Lina wahrheitsgemäß.
„Ach?“
„Ja, ein…Projekt.“
„Ein Projekt? Interessant.“ Er lächelte und entblößte eine Reihe gerader aber gelblich gefärbter Zähne. „Hat dieses Projekt möglicherweise etwas mit unserem…wie soll ich sagen…Neuzugang zu tun?“ Kiebeler zeigte auf das Wolfsfoto zwischen ihnen. Selbst wenn man wusste, dass die weiß leuchtenden Augen nur durch den Schwarzlichtblitz zustande kamen, sah das Bild furchterregend aus. Kein Wunder, dass Menschen, die vermutlich noch nie in ihrem Leben einem echten Wolf begegnet waren, bei diesem Anblick Angst bekamen.
Trotzdem lächelte Lina. Sie hatte in den letzten Jahren mit so vielen Menschen gesprochen, die sich vor Wölfen fürchteten. Sie kannte die Ängste, die Sorgen und verstand sie auch. Es war ganz und gar nicht ihr Anliegen, den Wolf als harmloses Kuscheltier zu verkaufen, schließlich war er ein Raubtier und durchaus nicht zu unterschätzen. Wenn ihr etwas gegen den Strich ging, dann war es die Glorifizierung des Wolfes, wie sie von manchen Spinnern betrieben wurde, ebenso wie die Verteufelung. Maß und Mitte – das war die Devise.
Das Flugblatt vor ihr kannte weder Maß noch Mitte. Lina hatte es nur rasch überflogen und versuchte, ihr Entsetzen nicht zu offensichtlich zu zeigen. Entsetzen, nicht nur wegen der unverschleierten Hetze gegen den Wolf, sondern vor allem wegen der geradeheraus erlogenen Aussagen.
Schützen Sie Ihre Lieben! Gehen Sie nicht mehr mit Ihrem Hund in den Winterswald, joggen Sie dort nicht und fahren Sie kein Rad, der Jagdinstinkt des Wolfes wird dadurch angeregt! Lassen Sie Ihre Kinder nach der Dämmerung nicht mehr aus dem Haus! Vor allem Kleinkinder werden von Wölfen als Beute angesehen! Tragen Sie jederzeit Pfefferspray oder einen dicken Stock bei sich, wenn Sie im Wald unterwegs sind, damit Sie sich verteidigen können!
Am liebsten hätte Lina das Flugblatt in kleine Stücke zerrissen und die hundert Kopien entsorgt, bevor die drei Gestalten sie verteilen und die Mühlenbacher dies für korrekte Informationen halten konnten. Sie kannte das, unqualifizierte Aussagen und unzutreffende Gerüchte, die sich viel schneller verbreiteten als die Wahrheit.
„Darf ich Sie fragen, aus welcher Quelle Ihre Informationen stammen?“, fragte Lina höflich.
„Das habe ich alles aus dem Internet!“, antwortete der dicke Mann stolz.
„Das wundert mich nicht.“ Lina schaffte es nicht, die Bitterkeit in ihrer Stimme in Gänze zu unterdrücken.
„Irgendjemand muss doch etwas tun, bevor noch ein Unglück geschieht“, ereiferte sich Gerda. „Herr Waltherscheid hat nichts unternommen. Seit einer Woche schon leben wir in Angst und er hat nichts unternommen! Keinen Piep hat er von sich gegeben.“
„Ach, der ist doch schon mit einem Bein auf Malle!“, spottete der dicke Mann.
Es wunderte Lina nicht unbedingt, dass Hermann Waltherscheid sich nicht an seine Bürger gewandt hatte. Was sie viel mehr wunderte, war, dass man es überhaupt von ihm erwartete. Das Verhältnis von Bürgermeister zu Bürger war, an den letzten beiden Orten, an denen sie tätig gewesen war, nicht besonders innig gewesen. Zwar auch nicht feindselig, aber viel mehr als ein lauwarmes Interesse und das ein oder andere Schulterzucken hatten die Bürger für die Taten oder Worte ihres Bürgermeisters nicht übriggehabt. Vielleicht hatte Lina Hermann Waltherscheid doch unterschätzt, Gerda jedenfalls, klang, als sei sie tief verletzt davon, dass ihr Bürgermeister ihr nicht mitgeteilt hatte, wie sie sich in der neuen, ungewohnten Situation verhalten sollte.
„Sie sollten sich nicht zu sehr fürchten, wissen Sie“, sagte Lina mit einem freundlichen Lächeln, faltete das Flugblatt zusammen und steckte es in ihre Manteltasche. „Wenn ich ein Wolf wäre, würde ich mir lieber ein fettes Häschen schmecken lassen als einen von Ihnen.“