Читать книгу Auf den Wolf gekommen - Lisa Kohl - Страница 9
Angel
ОглавлениеRobert Engel war ein intelligenter Mann, auch wenn er das erst vor sehr kurzer Zeit selbst entdeckt hatte. Sicher, er war beruflich schon immer recht erfolgreich gewesen, war die Karriereleiter über die Jahre stetig nach oben geklettert und hatte seinem Kontostand beim Wachsen zugeschaut, aber sein Erfolg hatte bisher auf seinem Fleiß und einem Talent zur Adaption beruht, statt auf seiner Intelligenz. Jetzt, dachte er stolz, während er unter der heißen Dusche stand und Angel von Massive Attack in einer lähmenden Lautstärke von den gekachelten Badezimmerwänden widerhallte, war es seine brillante Rhetorik und sein scharfer Verstand, die ihm in genau drei Wochen zu seinem bisher größten Erfolg verhelfen würden. In drei Wochen würde er zu Mühlenbachs Bürgermeister ernannt werden, dessen war er sich so sicher, wie er sicher war, dass die Sonne morgen früh im Osten aufginge. Und diese Ernennung würde die Krone sein, das Tüpfelchen auf dem I, die fein gehackte Petersilie auf dem Soufflé, das sein neues, besseres, selbstbewussteres Leben symbolisierte.
Engel griff nach der Shampooflasche und drehte den Wassertemperaturregler noch ein klein wenig heißer. Dicker Dampf hüllte ihn ein und während er sich die verbliebenen Haare einschäumte, holte er tief Luft und begann mit kräftiger Stimme die Rede zu üben, die er letzte Nacht geschrieben hatte. Bis fünf Uhr morgens hatte er an seinem Schreibtisch gesessen, angetrieben von kräftigem Kaffee und zuckerlosen Haferkeksen, vor seinem inneren Auge immer sich selbst sehend, auf dem Mühlenbacher Markplatz, nur durch die Kraft seiner einzigartigen Stimme jedes einzelne Ohr in Reichweite mit seinen Worten füllend. Genauso übte er die Rede jetzt, brüllte gegen die lakonische Singstimme auf dem CD-Player und den prasselnden Wasserstrahl an. Dass er sich kaum durchsetzen konnte, fachte seinen Enthusiasmus nur noch mehr an, ließ ihn in ungeahnte Höhen klettern, in denen er nicht einmal merkte, dass das brühend heiße Wasser die Haut in seinem Nacken verbrannte.
Ein halbes Jahrhundert lang hatte sein rhetorisches Talent in ihm geschlummert, ohne dass Engel selbst oder irgendjemand in seinem Umfeld von dessen Existenz gewusst, oder es auch nur erahnt hatte. Jetzt brach es sich endlich Bahn und Engel hatte sie alle damit überrascht, angefangen von seinem Chef, über seine Familie, bis hin zu seinen politischen Gegnern. Mit der Schärfe seiner Worte und der Genauigkeit seiner Argumentation war es ihm gelungen in den letzten Monaten Boden gut zu machen, den ihm niemand zugetraut hätte. Letztlich war es sein Verdienst, dass sich die Mühlenbacher hinter vorgehaltener Hand über die bereits abbezahlte Finca auf Mallorca unterhielten, über die Bürgermeister Waltherscheid selbst noch kein einziges Wort verloren hatte. Engel hatte auch die Frage aufgeworfen, wie es denn sein könne, dass keine Kosten und Mühen gescheut wurden, wenn es um das – bei Touristen sehr beliebte – Winterfest in der Ruine ging, der eigene Kindergarten sich im Winter aber mit Gasöfen behelfen musste, weil die Sanierung der Heizungsanlage immer weiter hinausgeschoben wurde. Waltherscheid war es jahrelang gelungen, sich in Mühlenbach als Heilsbringer zu inszenieren, der seine Gaben großzügig verteilte, der jedoch nicht und niemals zu hinterfragen oder gar zu kritisieren war. Die Gemeinde war ganz in seiner Hand und Engel war der erste, der sich traute, den Stuhl anzusägen, auf dem der selbst ernannte König saß, der an der goldschimmernden Oberfläche zu kratzen wagte und die Schwärze, die sich darunter verbarg, freilegte. Hätte Engel schon früher in seinem Leben gewusst, welche Macht einem Mann zuteilwerden konnte, wenn er nur die richtigen Worte an den passenden Stellen sagte, wäre sein Leben definitiv anders verlaufen. Ganz anders.
Das diffuse Gefühl, nicht zu genügen, hatte ihn zu lange begleitet. Unterbewusst hatte er immer daran geglaubt, dass sie alle, die ganzen Gegenspieler seines Lebens: Lehrer, Chefs, Familienmitglieder, Freunde, Bekannte, Kunden, hinter seinem Rücken über ihn lachten. Sich über ihn und seine Unzulänglichkeiten lustig machten – dieses Gefühl, das wusste er jetzt, hatte ihn gehemmt. Ihn zurückgehalten, sein wahres Potenzial auszuschöpfen. Jetzt lachte keiner mehr über Robert Engel. Jetzt staunten sie nur noch über seine Wortgewalt, seine Macht. Aber er hatte fünfzig werden müssen, um das zu erkennen. Fünfzig lange Jahre in der Haut eines typischen kleinen Mannes, der in Demut vor der weiten Welt und ihren komplizierten Prozessen und Dynamiken erstarrt lebte. In seinen Möglichkeiten beschränkt. Weil er geglaubt hatte, es gäbe zu viele Dinge, die er nicht verstand, hatte er sich herumschubsen lassen, von den vermeintlich Großen, von Männern wie Hermann Waltherscheid. Mittlerweile hatte er erkannt, dass Waltherscheid nicht mehr von der Welt begriff als Engel selbst auch. Der Bürgermeister war schlichtweg privilegierter aufgewachsen und dreister als die meisten anderen. Jetzt war es an Engel, dreist nach dem zu greifen, was ihm nie gehört hatte, aber ohne Zweifel zustand: Macht und Einfluss. Größe. Respekt.
Seine Schwestern verstanden seine Ambitionen nicht. Arrogant sei er geworden, anders als früher, aber Engel sah nicht, was falsch daran sein sollte, sich für gut zu halten. Sogar für besser! Wenn man sich selbst nicht großartig fand, warum sollten es dann andere tun?
Heike, seine jüngste Schwester, hatte ihn gefragt, warum er denn unbedingt Bürgermeister werden wolle. Sie selbst war mit Anfang zwanzig aus Mühlenbach weggezogen, fort aus dem Kaff, wie sie es nannte und lebte mit Mann und Sohn in der Nähe von Krefeld, weit genug weg, um sich nicht mehr für ihre Heimatstadt zu interessieren. Auf ihre Frage hatte Engel ihr mit der Wahrheit geantwortet. Jedenfalls mit der halben Wahrheit. Verantwortung wolle er tragen. Eine bessere Zukunft für die Bürger seiner Gemeinde auf den Weg bringen. Gerechtigkeit. Engel war sich sicher, dass Waltherscheid sich bereichert hatte, mehr als es ihm im legalen Rahmen zugestanden hätte. Er war einfach so ein Mensch, der dicke Bürgermeister, ein Mann, der sich nahm was er wollte, der sich großzügig gab, weil er es sich leisten konnte, der aber nicht davor zurückschrecken würde, sich selbst an die erste Stelle zu setzen, wenn es darum ging, die schönsten und größten Tortenstücke zu verteilen.
Aber der Hauptgrund, warum Engel so sehr nach dem Amt strebte, war der, dass er den monatelangen Kampf, der ihm schon so viel abverlangt hatte, nicht verlieren durfte. Er machte sie sich selbst zwar nicht so richtig bewusst, spürte aber die lauernde, schwarze Gestalt mit dem Namen Zweifel in seinem Unterbewusstsein, die nur auf die Chance wartete, ihm alles zu nehmen, was er sich in den vergangenen Monaten aufgebaut hatte: sein Selbstbewusstsein, seine Disziplin, seine Überzeugungskraft.
Als er seine Rede beendet hatte, drehte er die Dusche rabiat ab, riss die ohnehin schon wackelige Duschtür auf und ein Handtuch von der Halterung an der Tür. Wenn er seine Reden übte, geriet er immer so in Rage und er liebte das Gefühl. Immer noch im Schwung trocknete er sich ab, warf das Handtuch in eine Ecke und ging dann nackt wie er war, begleitet von einer hohen Frauenstimme, die zu langsamen Beats und düsteren Sounds sang love, love is a verb/ love is a doing word, ins Wohnzimmer, wo Elly sich auf der Couch räkelte und ihn mit ihrem Katzenlächeln anblickte.
„Beeindruckender Auftritt“, begrüßte sie ihn und hob eine Augenbraue auf diese Weise, wie es nur Elly konnte.
„Was sagst du zu meiner Rede?“, fragte Engel, schlenderte zum Sideboard, auf dem seine brandneue Jura stand und stellte eine schwarzglänzende Espressotasse unter den Ausgießer. „Willst du auch einen?“
„Immer“, antwortete Elly. „Und zu deiner ersten Frage, ich habe wegen dieses Lärms nichts verstanden.“
Engel brachte ihr einen Espresso, garniert mit einem langen Kuss. Elly war der faszinierendste Bestandteil seines neuen Lebens. Mit Elly hatte Engels Verwandlung erst so richtig begonnen. Der erste Abend und die erste Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, war der Vorabend seines fünfzigsten Geburtstags gewesen. Sie war eine Frau, die nicht leicht zu durchschauen war. In einem Moment konnte sie hart und kalt sein, wie Marmor, im nächsten weich und schmiegsam wie eine Hauskatze. Sie war – das konnte Engel mit Sicherheit sagen – die einzige Frau – ja, der einzige Mensch! – den er je verehrt hatte. Ihm war voll und ganz bewusst, dass er kein einziges seiner Ziele erreicht hätte, wenn Elly nicht gewesen wäre. Ohne Elly wäre er nichts, aber mit ihr war ihm kein Berg zu hoch, kein Stein zu schwer, sie war seine Muse und sein Motor, sein Engelchen und sein Teufelchen. Schlauer, gerissener, verführerischer als jedes Loblied sie je hätte besingen können.
Als sein Espresso fertig war, schritt er, mit der Tasse an den Lippen, ans Fenster, hinter dem die Dämmerung langsam einsetzte. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, wenn also jemand zufällig zum Haus hinaufschauen würde, würde derjenige Engels nackten Körper sicher sehen können. Aber warum sollte er sich nicht zeigen? Er hatte in den vergangenen sechs Monaten gute zehn Kilo abgenommen und deutliche Muskeln zeichneten sich an Bauch und Bizeps ab. Das Feierabendbier hatte er komplett gestrichen, stattdessen gab es Gemüse und Hähnchenbrustfilet mit ordentlich Tabasco. Einen Apfel statt Fritten, Wasser statt Limo. Er war ein neuer Mensch geworden, ein besserer Mensch und das einzige, was ihm sauer aufstieß, war der Fakt, dass er verdammte fünfzig Jahre darüber hatte werden müssen!
„Eine Rede ist schön und gut“, sagte Elly hinter ihm. „Ich bin sicher, dass sie wie immer sehr gelungen ist, aber trotzdem wird sie nicht reichen.“
„Nein, ich weiß.“
„Ich hab mir ein paar Gedanken gemacht.“
„Dann raus damit.“
„Was weißt du über taktische Kriegsführung?“, fragte Elly. Ihr neckender Tonfall brachte Engel dazu, sich umzudrehen.
„Worauf willst du hinaus?“
„Immer mehrere Eisen im Feuer haben, das ist das Geheimnis. An mehreren Stellen gleichzeitig angreifen, und zwar nicht nur von vorne, mein Lieber, wo es jeder mitbekommt…, sondern von den Seiten, von hinten, aus den Schatten heraus. Du musst sie überraschen, deine Gegner, sie da treffen, wo es ihnen richtig wehtut, wo sie gar nicht erst mit einem Schlag rechnen.“ Elly stand auf und ging langsam auf ihn zu. „Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Auch gezinkte Karten. Und du weißt ja, was des Zauberkünstlers größte Macht ist, nicht wahr?“
„Was ist des Zauberkünstlers größte Macht?“, fragte Engel flüsternd.
„Die Ablenkung natürlich“, antwortete Elly und schlang ihre schlanken Arme um seinen Hals. „Pass gut auf…“
Es war spät in der Nacht als Engel sich noch einmal an seinen Schreibtisch setzte, die Papiere zur Seite schob und seine nackten Füße überkreuz auf der Tischplatte ablegte. Elly war vor einer Stunde gegangen und Engel fiel es zusehends schwerer, ohne sie einzuschlafen. Neben seinen Füßen lag die Rede, mit der Hand hingeschmiert auf weiße Blätter in einer Art inspiriertem Irrsinn. Während er sie in der vergangenen Nacht geschrieben hatte, hatte Engel kurz gedacht, dass er die Papiere am nächsten Morgen ungelesen in den Mülleimer würde werfen müssen. Dann hatte er es aber doch gewagt, sie zu lesen und zu seiner eigenen Überraschung für absolut brillant gehalten. Natürlich ging es um den Wolf. Er war dieser Tage das einzige Thema, das die Mühlenbacher interessierte. Mit der mangelhaften Ausstattung des Waldkindergartens würde er keinen Blumentopf mehr gewinnen. Die Rede war sorgsam komponiert. Eine gute Portion Fakten und Zahlen, die Seriosität und solide Recherche nahelegten, dabei den Bürger aber immer im Fokus. Eine Prise Emotion, ein kurzer, aber schlagkräftiger Seitenhieb auf die Waltherscheids (er durfte sein Blatt nicht überreizen) und am Ende die Offensive! Da spielte er seinen Vorteil aus und nahm die Position ein, die der amtierende Bürgermeister gar nicht einnehmen konnte, die den Mühlenbachern aber auf der Zunge lag: Der Wolf muss weg!
Nachdem Engel sich davon überzeugt hatte, dass jedes Wort an der passenden Stelle saß, dachte er noch einmal über Ellys Schlachtplan nach und grinste in das Schummerlicht seiner Schreibtischlampe hinein. Gleich morgen würde er seine Armee aufstellen, bestehend aus der alten Gerda, Norbert Brandt und – wenn er sich denn überzeugen ließe – Wolfgang Kiebeler. Sie waren die lautstärksten und bekanntesten Wolfsgegner. In den vergangenen Tagen hatten sie schon einigen Radau veranstaltet, in den richtigen Kanälen und mit den richtigen Werkzeugen ausgestattet, würden sie die perfekte Ablenkung erzeugen, die Engel und Elly brauchten, um ihren Zaubertrick aufzuführen, ohne enttarnt zu werden.