Читать книгу Auf den Wolf gekommen - Lisa Kohl - Страница 8

Ohne Punkt und ohne Komma

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Daniel hatte, nach dem Gespräch mit Frau Doktor Nowak, versucht, seinen Vater davon zu überzeugen, noch einmal in Ruhe über die ganze Sache nachzudenken – ohne Erfolg. Hermann hörte ihm gar nicht richtig zu, sondern beschwerte sich in einer Tour.

„Das ist ja wohl die Höhe, wie die sich aufgeführt hat, als wüsste sie wasweißichwas mehr als ich“

„Tut sie ja auch, Papa.“

„Was für eine arrogante Schnepfe. Absolute Zeitverschwendung, diese Sache. Jetzt stehen wir genau da, wo wir vorher auch waren. Was machen wir denn jetzt?“

„Ich finde, wir sollten…“

„Es ist ja nicht so, als hätte ich nicht schon überall angerufen! Überall! Unzumutbar ist das. Man wird einfach allein gelassen mit so einem Problem“

„Papa, wenn wir…“

„Nein, Daniel, weißt du was…morgen rufen wir nochmal beim Umweltministerium an und diesmal lasse ich mich nicht abwimmeln. Diesmal nicht! Die werden schon noch rausrücken mit der Sprache! Das ist eine Lektion, die du dir hinter die Ohren schreiben solltest: Manchmal muss man penetrant sein, um zu bekommen, was man will. He,…wohin gehst du?“

„Ich muss noch wohin“, sagte Daniel, ohne sich umzudrehen, und verließ das Büro. Sollte sein Vater doch Esther zutexten und sein drittes Stück Torte allein aufessen.

Daniel hatte Kopfschmerzen. Alles an diesem unsäglichen Ort, am Mühlenbacher Rathaus, bereitete ihm Kopfschmerzen. Die sterilen, mit Plastik ausgekleideten Schlauchgänge, die trockene Heizungsluft, die jetzt im Winter besonders schlimm war und seinen Rachen austrocknete, die grauen Wände und die immer präsente Perspektivlosigkeit seiner Zukunft: eine bloße Repetition der Lebensgeschichte seines Vaters. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er nichts lieber gewollt als das. Mit neunzehn, zwanzig war ihm nichts erstrebenswerter vorgekommen, als eines Tages Bürgermeister von Mühlenbach zu werden, heute fragte er sich, ob er nicht, aufgrund des Mangels eigener Ideen, nach der ersten Hand gegriffen hatte, die sich ihm entgegengestreckt hatte. Sein Vater hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich über Daniels Entscheidung freute. Sicher hätte er auch andere Karrierewege akzeptiert, ein Jurastudium vielleicht oder irgendetwas Wirtschaftliches. Medizin sicher nicht, Hermann Waltherscheid hasste Ärzte jeder Fachrichtung, aber Daniel hätte ein Medizinstudium wahrscheinlich sowieso nicht gepackt. Er fragte sich, ob er überhaupt irgendein Studium gepackt hätte, sein Abitur hatte er ehrlicherweise nur wegen Hannah bestanden und das auch nur mit Ach und Krach. Er war nicht blöd – hoffte er jedenfalls – aber er war ein Typ, der, bewusst oder unbewusst, immer den Weg des geringsten Widerstandes wählte. Eine Disposition, die ihn, wie er mittlerweile befürchtete, ins sichere Unglück stürzen würde.

Über seine Zweifel an der nahenden Zukunft hatte er bislang noch mit niemandem gesprochen, nicht mit seinem Vater, nicht mit seiner Mutter, nicht einmal mit Hannah. Wenn er sie erstmal in Worte gefasst hatte, würde es doppelt schwer, sie zu ignorieren und das musste er, sonst würde er noch wahrhaft wahnsinnig. Es war sicher kein schlechtes Leben als Bürgermeister einer kleinen Gemeinde, versuchte er sich selbst einzureden, denn sowieso kam er aus der Nummer jetzt nicht mehr heraus, nicht drei Wochen vor der Wahl. Die Alternative – dem arroganten Robert Engel das Feld zu überlassen – war keine Option. Und es wäre ja nicht für ewig. Er wurde schließlich nicht auf Lebenszeit gewählt, sondern nur für fünf Jahre. Nur fünf Jahre – dann wäre er fünfunddreißig. Steinalt!

So, oder so ähnlich, ging es in Daniels Kopf immer hin und her, wenn er eine ruhige Minute hatte. Ein ewiges Zwiegespräch mit sich selbst, das zu nichts außer Kopfschmerzen und dem Beibehalten des bisherigen Kurses führte. Normalerweise bedeutete das, den Anweisungen seines Vaters zu folgen. In Sachen Wolf fiel ihm das allerdings schwerer als sonst.

Der Gedanke an einen Wolf im Winterswald bereitete Daniel gehöriges Unbehagen. Wenn auch nicht im Generellen, besaß er, was Schreckensszenarien und mögliche Unfallursachen betraf, eine ausgeprägte, sich sehr bildhaft manifestierende, Fantasie. Es war wie ein innerer Zwang: Wenn er über Autobahnbrücken fuhr, stellte er sich vor, abzustürzen. Wenn er ein scharfes Messer in der Hand hielt, stellte er sich vor, es würde ihm herunterfallen und in seinem Fuß stecken bleiben. Wenn er einen großen Hund sah, stellte er sich vor, von ihm gebissen zu werden. Und ein Wolf war ja quasi ein großer, wilder Hund. Ohne Leine.

Außerdem war sein Neffe, der Sohn seiner großen Schwester, im Kindergartenalter. Er lebte zwar nicht in Mühlenbach, kam aber oft genug zu Besuch zu ihnen. Erst vor vier Wochen hatte Familie Waltherscheid einen gemeinsamen Herbstspaziergang zu der alten Burgruine im Winterswald gemacht, der kleine Erik war dabei immer wieder vorgelaufen, hatte sich hinter Bäumen versteckt und dabei gequiekt, wie ein … wie ein Frischling! Ohne, dass er sich hätte bremsen können, legte Daniels Horrorkopfkino los. Ein knurrender Wolf über Eriks blutender Leiche. Unwillkürlich versuchte sein Körper, die Gänsehaut abzuschütteln.

Seine Füße trugen ihn, ohne dass er darüber hätte nachdenken müssen, aus dem Rathaus hinaus, über den Marktplatz, Richtung Waldläufer. Nicht etwa, weil er mittags um halb zwei schon Lust auf ein Glas Bier verspürte, sondern weil er mit jemandem reden wollte und da kam, neben Hannah, die den Tag aber an der Universität verbrachte, nur Bast in Frage.


„Andererseits“, sagte Daniel zu seinem ältesten Freund, als er fünfzehn Minuten später, mit einer bereits halbgeleerten Apfelschorle (die nach dem ganzen Kaffee köstlich schmeckte) an dessen Theke saß. „Klang das, was die Frau Doktor gesagt hat, gar nicht so falsch. Papa wollte davon natürlich nichts hören, aber wenn sie sagt, dass man den Wolf weder schießen noch umsiedeln lassen kann, wird das schon stimmen oder nicht?“

Bast öffnete den Pub wochentags immer erst um siebzehn Uhr. Er war gerade dabei gewesen, die Stube auszufegen, als Daniel an die Tür geklopft hatte. Der lange Mittagsgang mit Bonnie stand als nächstes an. Eigentlich wartete Bast nur noch auf Lina, die gefragt hatte, ob sie ihn in den Winterswald begleiten dürfe. „Wahrscheinlich schon. Hör mal, Daniel…“, antwortete Bast, wurde aber sogleich unterbrochen.

„Ich meine, immerhin ist sie ja Expertin. Worauf soll man sich denn sonst noch verlassen heute, wenn nicht darauf, dass Experten wissen, wovon sie reden, oder nicht?“

„Naja…“

„Jedenfalls kam sie mir ziemlich klug vor, die Frau. Ziemlich jung allerdings. Für einen Doktortitel.“

„Aber das…“

„Trotzdem denke ich, dass sie die Wahrheit gesagt hat. Papa stellt sich immer alles so einfach vor. Für ihn ist die Welt schwarz und weiß. Ich denke, er ist auch einfach daran gewöhnt, dass alle tun, was er sagt. Sonst war das ja auch immer so. Aber diesmal nicht. Das tut ihm auch mal gut, findest du nicht?“

„Ja, Daniel. Sicher.“ Bast stellte den Besen in die Ecke, nahm die Hundeleine in die Hand und musterte seinen Freund belustigt.

„Dann können wir besser auch gleich damit leben lernen“, fuhr Daniel fort. „Mit dem Wolf, meine ich“ Gedankenverloren nippte er an seiner Apfelschorle und bemerkte nicht, dass Bast demonstrativ auf die Uhr blickte und mit der Hundeleine hantierte. „Hast du Zeitung gelesen, heute Morgen? Wenn wir uns nicht langsam für eine Linie entscheiden, nehmen die uns auseinander. Dann haben wir auch nichts gewonnen.“

Geräuschvoll zog Bast den Reißverschluss seiner waldgrünen Wachsjacke zu und setzte sich eine selbstgehäkelte Wollmütze auf, während Daniel seufzend den Kopf in die Hände stützte. Bonnie, die imposante Leonbergerdame, erhob sich beim Anblick ihres ausgehfertigen Herrchens von ihrer Decke.

Daniel lachte plötzlich auf. „Du hättest das sehen sollen! Wie entsetzt Papa war, als da plötzlich eine Frau vor ihm stand und dann auch noch so eine kleine. Richtig winzig war sie. Ich glaube, er hat Probleme damit, sich von ihr Ratschläge geben zu lassen. Aus Prinzip. Wenn sie doch noch zusammenarbeiten, wird sie es nicht leicht haben mit ihm.“

„Ach, machen Sie sich da mal keine Sorgen. Das kenne ich schon.“, sagte Lina hinter ihm. Daniel wirbelte auf dem Barhocker herum und wäre beinahe heruntergeplumpst.

„F…rau Nowak?“

„Herr Waltherscheid“, antwortete sie grinsend und knöpfte ihren roten Wollmantel zu.

„Was machen Sie denn hier?“

„Ich wohne hier.“

Daniels Blick hastete zu Bast, der, mit einem geübten Handgriff, den Karabinerhaken der Leine in Bonnies Halsband einrasten ließ. „Wieso hast du denn nichts gesagt?“

„Ich hätte es dir ins Ohr brüllen können, Daniel, und du hättest es nicht gehört. So, und jetzt muss ich los, sonst pinkelt Bonnie mir in die Stube. Kommt mit, oder bleibt hier.“

„In den Wald?“, fragten Daniel und Lina gleichzeitig, der eine in ängstlichem, die andere in freudigem Tonfall.

„Wohin denn sonst?“, erwiderte Bast.


Es wurde ein spannender Spaziergang für alle Beteiligten. Lina erfuhr einiges über die Vater-Sohn-Konstellation, Hermann Waltherscheids Heldenstatus im Mühlenbacher Rathaus und die Kompromisslosigkeit des politischen Gegners Engel. Daniel stellte im Gegenzug tausend Fragen zum Wolf und ließ sich von der Expertin erklären, welche gesetzlichen Grundlagen den bislang noch überschaubaren deutschen Wolfsbestand schützen sollten. Sie erzählte auch ein wenig von ihrer Arbeit in einer anderen Kleinstadt und wie schwierig es gewesen war, den Menschen begreiflich zu machen, dass sie sich vor dem Wolf nicht fürchten mussten. Mit einem zynischen Lächeln sprach sie vom, wie sie es nannte, Rotkäppchenmythos.

„Es mag kaum vorstellbar sein, dass ein fast vierhundert Jahre altes Märchen, die Gedanken der Menschen beherrscht und die moderne Fachliteratur links liegen gelassen wird, aber genauso ist es. Und genau dagegen müssen wir arbeiten.“

„Aber… aber kann es nicht doch sein, dass…also…?“ Daniel verstummte.

„Was denn?“

„Ich denke er meint, ob es nicht sein kann, dass ein Wolf einen Menschen frisst“, antwortete Bast trocken.

„Nicht frisst, aber…anfällt?“

„Wie bei Jack London, meinst du?“

„Jack London?“ Daniel hatte es nicht so mit der Literatur.

„Ach, nicht so wichtig. Also, ich will nicht lügen, sicher ist es im Bereich des Möglichen und auch schon vorgekommen, dass ein Wolf einen Menschen angreift. Aber das ist äußerst selten, allein schon, weil sie so scheu sind und wenn man doch mal einem über den Weg läuft und weiß, wie man sich ihm gegenüber verhalten sollte, kann eigentlich nichts passieren.“

Daniel sah sie an, als könnte er das nicht so recht glauben. „Wenn du meinst.“

„Sollen wir einen Abstecher zu Brandts Hof machen?“, fragte Bast dazwischen. „Dahin, wo das Foto entstanden ist?“

„Oh ja.“

„Muss das sein?“ Daniel sah seinen riesenhaften besten Freund und die kleine, sommersprossige Doktorin nacheinander leidend an. Für seinen Geschmack hatte er den Tag schon genug im Schatten des Wolfes zugebracht, da musste jetzt nicht auch noch eine Begegnung mit dem echten Tier dazukommen.

Lina und Bast willigten ein, den Ausflug zu Brandts Schafweide auf den nächsten Tag zu verschieben und stattdessen Daniel ins Dorf zurückzubegleiten.

„Es ist sowieso schon fast fünf. Die alte Gerda steht wahrscheinlich schon zitternd vor der Tür, wenn wir gleich zurückkommen.“, sagte Bast.

Und genauso war es.


Auf den Wolf gekommen

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