Читать книгу Iron Annie - Lisa M Hutchison - Страница 11
ОглавлениеKapitel 5
„Mutti, Mutti! Ich habe die Stelle!“
Charlotte war atemlos, nachdem sie die vier Treppen hinaufgesprintet war, aber sie war so aufgeregt, dass sie kaum erwarten konnte, es ihrer Mutter zu erzählen.
„Ich werde am Montag als Privatsekretärin des Flugdirektor der Lufthansa im Flughafen Tempelhof anfangen!“ Sie umarmte ihre Mutter stürmisch und tanzte mit ihr durch den Flur. „Und weißt du was? Ich werde ab jetzt meinen Zweitnamen benutzen, Charlotte“, verkündete sie, sehr zur Verwunderung ihrer Mutter. „Anni klingt so häuslich und ich mag Charlotte lieber – es klingt weltgewandter.“
Ihre Mutter sah ihre junge Tochter lange an, deren Wangen vor Aufregung und Vorfreude
errötet waren. „Ich hoffe, du wirst nicht jetzt schon eingebildet, bevor Du überhaupt angefangen hast dort zu arbeiten“, meinte sie besorgt.
„Aber Mutti, ganz und gar nicht – warum denkst du denn so etwas? Es ist nur so, dass die Flugzeuge, die dort geflogen werden, oft ‚Iron Annie‘ genannt werden, und das könnte die anderen dazu bringen, mich zu hänseln.“
„Nun, mein Liebling, das klingt vernünftig. Also nehme ich an, dass ich dich von jetzt an nur noch Lottchen nennen werde.“ Lächelnd umarmte sie ihre Tochter. „Oh Lottchen, wie wundervoll – dein Vater wäre so stolz auf dich.“
Sofort wurde die Stimmung gedrückt. „Mutti, ich wäre jetzt in der Universität, wenn Vati noch am Leben wäre“, meinte Charlotte leise.
Charlottes Vater, ein Magistrat der Stadt Berlin, war plötzlich und völlig unerwartet im jungen Alter von nur 49 Jahren im Januar 1932 gestorben. Es war zwei Monate vor ihrem 18. Geburtstag gewesen und ihr Abitur hatte sie drei Monate danach erhalten. Ein Studium stand völlig außer Frage; dafür hatten sie kein Geld.
Der Arbeitsmarkt in Deutschland war zu dieser Zeit sehr trostlos, und Armut und Elend grassierten überall. Obwohl Charlotte die Schule als eine der Klassenbesten abgeschlossen hatte, hatte sie nicht erwartet, eine Anstellung zu finden, erst recht nicht eine außergewöhnliche Position wie diese.
Ihre Mutter war noch in Trauer, depressiv und untröstlich angesichts des Verlusts ihres geliebten Ehemanns. Sie überließ ihrer Tochter alle Entscheidungen. Ihr einziges Glück schien ihr sechs Monate alter Enkel, der Sohn ihrer älteren Tochter Johanna, zu sein. Hanni, wie sie immer genannt wurde, hatte vor einem Jahr geheiratet; sie und ihr Ehemann, der Polizist Max, lebten außerhalb von Berlin, besuchten sie aber oft.
Charlotte war von Max nicht gerade begeistert und hatte sich einen besseren Partner für ihre liebe Schwester gewünscht. Max war ein herrschsüchtiger, überheblicher Mann, der sich in den Kopf gesetzt hatte, für seine Schwiegermutter und Charlotte der „Mann des Hauses“ zu sein. Er hatte gefordert, dass Charlotte eine Arbeit in einer Fabrik antreten und die Schule nicht beenden solle – eine Forderung, die Charlotte verärgert abgewehrt hatte. Wie es vorherzusehen gewesen war, hatte Hanni sich über Charlottes Entscheidung gefreut, während Max ihr die Karriere missgönnte.
Dieser neue Arbeitsplatz war mehr, als sie sich jemals hätte erträumen können – es war eine traumhafte Stelle. Ein kleiner Teil der schnell wachsenden Fluglinie zu sein, während das Fliegen nur den Reichen und Berühmten vorbehalten war, der Oberschicht eines jeden Landes, war aufregend und bisweilen atemberaubend. Jeden Tag erzählte sie ihrer verblüfften Mutter von den Leuten, die sie getroffen und mit denen sie gesprochen hatte. Für eine so junge Frau wie sie war es eine unglaubliche Erfahrung. Eines Tages brachte sie ein Handtuch heim, das von ihrem liebsten Filmschauspieler, Willy Birgel, benutzt worden war, ein Handtuch, an dem sie lange sehr hing. Sie lebte den Traum einer jeden jungen Frau.
Nicht nur war es ihr vergönnt, zahllose Filmstars, Sänger, Führer, Politiker, Adlige und fremdländische Würdenträger kennenzulernen, sondern erhielt auch jeder einzelne Pilot seine Flugpläne höchstpersönlich aus ihren Händen. Es war unvermeidbar, dass die meisten der wenigen Mädchen, die dort arbeiteten, Liebeleien hatten und ihre zukünftigen Ehemänner in der Truppe gutaussehender Flugoffiziere kennenlernten.
Charlotte war eine hübsche Frau mit angenehmer Persönlichkeit, ausgeglichen und höflich, mit hohen Moralstandards und Integrität. Über die Jahre wurde sie zur hochgeschätzten rechten Hand des Flugdirektors, Franz Schlenstedt. Er hielt ein wachsames Auge auf die flirtenden Männer und warnte sie öfters wer verheiratet war und wer nicht.
Als dann ein gewisser Albert Interesse an ihr an den Tag legte, glaubte sie, er sei verheiratet, und gab ihm einen eindeutigen Korb. Immerhin sah sie ihn gelegentlich mit seinen Kindern, wie sie über das Flugfeld liefen, das kleine Mädchen an seiner Hand und ein kleiner Junge auf seinem Arm.
Er schien seiner Tochter gegenüber besonders aufmerksam zu sein, die er regelmäßig auf Kurzstreckenflüge mitnahm. Charlotte fand dies überaus reizend, unterdrückte jedoch sämtliche Gefühle, die sie für diesen attraktiven Mann empfand.
Jedes Mal, wenn Albert in Berlin war, sorgte er dafür, dass er besonders viel Zeit für seinen Papierkram aufwendete und dabei regelmäßig um Charlottes Hilfe bat – sie war sich sicher, dass es nur eine Ausrede war, aber sie genoss seine Aufmerksamkeit.
„Du magst ihn wirklich gern, oder?“, fragte ihre Freundin und Arbeitskollegin Edith. Edith würde bald mit einem wundervollen Mann verheiratet sein, welchen sie kennenlernte, als sie ihm ein Flugticket verkaufte.
Charlotte freute sich für sie, dachte aber ungern daran sie als ihre Kollegin zu verlieren; sie waren über die Jahre enge Freundinnen geworden, eine Freundschaft die sich über Jahrzehnte streckte. Wie es sich eben schickte und wie es auch die Regierung damals anregte, sollte eine Frau, sobald verheiratet, nicht mehr arbeiten, sondern es wurde von ihr erwartet, ein Heim für ihren Ehemann und die künftigen Kinder zu gründen. Kinderkriegen war die Pflicht einer jeden vollkommenen Ehefrau, wie es von der neuen Regierung unter Hitler gepriesen und belohnt wurde.
„Ja, Edith, ich mag ihn, aber ich würde niemals auch nur in Betracht ziehen, einen verheirateten Mann zu treffen.“ Sie blieb eisern. „Eigentlich ist er ein ziemlicher Schuft der er mich schon ausführen wollte – aber“, fügte sie hinzu, „ein sehr charmanter und faszinierender Schuft.“
„Aber er ist nicht verheiratet“, erwiderte Edith, „nicht einmal geschieden wie so viele von ihnen. Er ist Witwer – er hat seine Frau unter tragischen Umständen verloren, der arme Kerl.“
Charlotte sah sie entgeistert an. Das ließ sie alles in einem völlig neuen Licht sehen und plötzlich war sie von Glückseligkeit erfüllt. Sie umarmte die lächelnde Edith. „Danke, dass du mir das gesagt hast!“
„Jetzt wirst du also doch mit ihm ausgehen?“, fragte Edith.
Charlotte nickte. „Wenn er mich noch einmal fragt, ja, oh ja!“
Und das tat er. Ein paar Tage später lungerte er erneut an ihrem Schreibtisch herum und als ihm die Ausreden ausgingen, mit denen er seine langwierigen Arbeiten an den Dokumenten rechtfertigte, förderte er zwei Kinokarten zutage und fragte sie, ob sie ihn nicht begleiten wolle. Ein Kinobesuch war damals etwas ganz Besonderes. Als die Beliebtheit der „lebenden Bilder“ dramatisch anstieg, wurden sie außerdem zu einem effektiven Propagandamittel für die Nazis.
Albert und Charlotte wollten sich „Rivalen der Luft“ ansehen, einen Film über das Fliegen und Segelflugzeuge – was ihnen recht passend erschien.
Albert versprach, sie vor ihrem Wohnhaus abzuholen, was damals nicht üblich war, weil die meisten die S-Bahn oder U-Bahn nahmen, um sich an einem vorher verabredeten Ort zu treffen. Es war daher eine beinahe sensationelle Überraschung für Charlotte als Albert sie in seinem Auto abholte. So gut wie niemand besaß ein eigenes Auto, und absolut niemand, den sie kannte, fuhr ein rotes Mercedes-Roadster-Cabriolet – sie konnte ihren Augen nicht trauen. Fast die gesamte Nachbarschaft hielt Maulaffen feil und beäugte neugierig das exotische Stück glänzender Maschinerie; und dann war es noch ihre kleine Lotti am Arm dieses Piloten, die zum Beifahrersitz geleitet wurde. Was für ein aufregendes Thema für den nächsten Kaffeeklatsch!
Als sie vom Kino zurückkamen, lud Charlotte Albert ein, ihre Mutter kennenzulernen – ein Treffen, das ihre lebenslange, gute Beziehung begründen sollte – sie mochten sich von der ersten Sekunde an. Mehr als nur einmal behauptete Charlotte unter herzhaftem Lachen, dass er sie nur wegen ihrer Mutter geheiratet hatte.
Natürlich hatte ihre Mutter auch Sorgen. „Er ist ein gutes Stück älter als du“, hob sie an. „Dann sind da noch die Kinder – hast du darüber nachgedacht, dass du ihre Stiefmutter sein wirst? Du weißt wenig bis gar nichts über das Mutterdasein.“ Und dann ein sehr wichtiger Einwand: „Was, wenn sein Flugzeug abstürzt – was machst du dann mit den Kindern?“
„Ach Mutti, du machst dir zu viele Sorgen, wir haben noch nicht einmal viel Zeit miteinander verbracht“, antwortete Charlotte. „Wer weiß ob es jemals soweit kommt, aber inzwischen möchte ich diese Zeit meines Lebens genießen.“
Und sie genossen es: ihr Leben war ein Wirbelwind glücklicher Momente. Berlin war die Hauptstadt der Heiterkeit und spannender Aktivitäten – Kinos, Theater, Oper, Restaurants und die Tänze zu den Klängen verschiedener Orchester. Beide waren leidenschaftliche Tänzer und andere Paare hielten oftmals inne, um diesen wunderbaren Tänzern zu applaudieren.
Albert brauchte nicht lange, bis er Charlotte einen Antrag machte – sie waren einfach wie füreinander geschaffen. Vor der Verlobung hatte Charlotte beide Kinder kennengelernt, Gisela und Manfred. Sie fühlte sich eher wie eine Tante als wie ihre zukünftige Mutter; dennoch kamen sie gut miteinander zurecht. Natürlich sprach Albert mit ihr über seine Sorgen bezüglich ihrer Erziehung und Unterbringung. Manfred ging es bei seinem Onkel gut. Er hatte zwei „Schwestern“ als Spielkameradinnen – die zwei Mädchen von Lothar und seiner Ehefrau. Gisela fühlte sich bei ihrer Großmutter wohl und mit sechs Jahren machte sie wenig Probleme, aber die beiden Kinder vertrugen sich nicht gut und überforderten die alte Dame.
Als Albert und Charlotte sich verlobten, bat Charlottes Mutter darum, dass der Junge bei ihr und Charlotte einzöge, auch um sich langsam an seine neue Umgebung zu gewöhnen. Manfred war vier Jahre alt, als er zu ihnen zog. Er mochte seine neue „Großmutter“ vom ersten Augenblick an, die ihrerseits überglücklich war, für diesen kleinen, schüchternen Jungen sorgen zu dürfen. Ihre ganze Aufmerksamkeit, Liebe und Zärtlichkeit zu teilen war genau das, was die beiden brauchten.
Manfred und seine Omi verbrachten viel Zeit zusammen damit - Spiele zu spielen, Lieder zu singen, lange Spaziergänge zu unternehmen, und Ausflüge zum Zoo. Natürlich besuchten sie auch Hanni, Omis ältere Tochter, die ein paar S-Bahn-Stationen entfernt wohnte. Hannis ältester Sohn, Achim, war im gleichen Alter wie Manfred und die beiden waren bald schon unzertrennlich.
Charlotte und Albert planten, so schnell wie möglich zu heiraten, in eine größere Wohnung in Tempelhof zu ziehen und auch Gisela zu sich zu holen.
„Ich werde mit meinem Pastor sprechen, damit er die kirchliche Trauung vollzieht. Er hat mir einst versprochen, mich trotz seines Ruhestands zu trauen“, erzählte Charlotte Albert, voller Vorfreude, eines Abends während eines romantischen Abendessens bei Kerzenlicht und Wein.
Albert legte die Stirn in Falten. „Darüber müssen wir noch mal sprechen.“
Charlotte nickte und nippte an ihrem Wein. „Ja“, lächelte sie selig, „wir müssen ein Datum für das Aufgebot bestellen, damit er es weiß und auch zu der Zeit da ist.“
Albert war für einige Zeit ganz still und spielte gedankenverloren mit seiner Gabel.
Charlotte schaute ihn fragend an, „was ist?“
Er seufzte. „Ich denke, wir sollten es bei einer standesamtlichen Trauung belassen.“
Charlotte war wie vor den Kopf gestoßen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie von einer Trauung in der Kirche geträumt, sich vorgestellt, wie sie in einem weißen Samtkleid mit einem Bouquet roter Rosen auf den Altar zuschritt, am Arm des Mannes, den sie liebte.
„Keine kirchliche Trauung?“, fragte sie verdattert.
Albert rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. „Ich hätte es dir schon früher sagen sollen, denke ich, aber ich bin aus der Kirche ausgetreten, nachdem Steffi gestorben ist.“
Sie wusste, dass er wegen der Art ihres Todes und dem seines Vaters große Probleme gehabt hatte, je eine christliche Beisetzung für Steffi und seinen Vater zu organisieren.
„Ich glaube durchaus an Gott“, meinte er. „Ich bete zu ihm so oft ich kann und ich lese die Psalter, wenn ich Zeit habe, aber ich glaube nicht daran, dass die Kirche das tut, was sie anderen predigt. Sie ist voller Scheinheiliger, die Liebe, Vergebung und all das predigen, aber wenn jemand wirklich Hilfe braucht, dann stehlen sie sich klammheimlich davon.“ Er knüllte und zupfte an seiner Serviette herum, während er seine zukünftige Ehefrau besorgt ansah.
Charlotte dachte eine Weile darüber nach, bis sie eine schwache Antwort zustande brachte: „Aber mein Pfarrer ist keiner von denen.“
„Ich bin mir sicher, dass er als Mensch er ein wundervoller Mann ist, aber er ist ein Vertreter einer Kirche, mit der ich nicht übereinstimme, und er wird uns nicht trauen, wenn ich kein Mitglied bin, das Kirchensteuer entrichtet.“
„Du könntest doch wieder eintreten“, warf sie ein.
„Das könnte ich, aber ich will es nicht – das geht gegen all meine Überzeugungen und ich wäre damit ebenso scheinheilig wie die Kirche selbst.“
Charlotte schluckte ihre Tränen herunter und erinnerte sich an die wunderbare Hochzeit ihrer Schwester vor ein paar Jahren. „Und was nun, Albert? Was geschieht dann, wenn wir Kinder kriegen? Ich möchte sie taufen lassen.“
Albert griff über den Tisch und nahm ihre Hand. „Können wir einen Kompromiss finden?“, fragte er. „Wir heiraten im Rathaus – das müssen wir ja sowieso – und zu einem späteren Datum holen wir uns den Segen deines Pfarrers.“
„Wie viel später, Albert?“, wollte Charlotte wissen und entzog ihm ihre Hand.
Albert wusste nicht, was er erwidern sollte.
„Wie viel später?“, fragte sie erneut. Unser erster Streit, dachte sie bei sich.
Albert nahm ihre Hand und küsste sie sanft. „Wenn es dir so viel bedeutet, werde ich darüber nachdenken. Sprich mit deinem Pfarrer und wir sehen mal, was er dazu zu sagen hat.“
Im März 1936 wurden sie in einer kleinen Feier getraut, bei der Charlottes Mutter und Großmutter, ihre Schwester Hanni mit Ehemann Max, die inzwischen schon drei Kinder hatten, sowie Alberts Kinder anwesend waren. Es war nicht die Hochzeit, die sie sich immer vorgestellt hatte, aber es war für sie beide eine bedeutungsvolle Zeremonie. Sie empfanden füreinander eine tiefe Liebe und nun waren sie verheiratet – was für ein berauschender Gedanke!
Kurz nach ihrer Hochzeit meinte Albert, dass sie seine Mutter und seinen Bruder in Göttingen besuchen sollten. „Glaub mir, mein Schatz, ich habe wenig Lust darauf, aber ein Höflichkeitsbesuch scheint jetzt angebracht.“
„Albert, das hätten wir tun sollen, bevor wir getraut wurden. Es war recht unhöflich, sie nicht zur Hochzeit einzuladen.“ Charlotte sah ihren Mann verärgert an.
„Wenn du meine Mutter, Bruder und Schwägerin triffst, wirst du es verstehen. Außerdem war ich nicht sicher, ob du mich noch hättest heiraten wollen, wenn du sie erst einmal kennengelernt hast“, antwortete Albert mit einem verlegenen Lächeln.
Charlotte schüttelte nur den Kopf. „Wie kannst du so etwas auch nur denken? Ich liebe dich und werde dich immer lieben.“ Im Stillen fragte sie sich: Wie schlimm können sie schon sein? Sie ist immerhin seine Mutter und Mütter lieben ihre Kinder – vielleicht übertreibt er nur.
An einem schönen Frühlingstag im Mai entschied Albert, mit Charlotte und den beiden Kindern nach Göttingen zu fahren und seine Mutter zu besuchen. Er hatte ihr geschrieben und darum gebeten, dass auch Hans und Renate da sein sollten. Ihre kurze Antwort hatte folgendermaßen gelautet: „Kommt eben, wenn es sein muss.“ Albert hatte diesen Brief vor seiner Frau versteckt.
Als es Zeit wurde zu fahren, weigerte sich Gisela mitzukommen. „Sie ist eine Hexe!“, schrie sie. „Sie ist nicht wie meine Oma in Erfurt. Sie hat mich immer in einem dunklen Raum eingesperrt und Manfred festgebunden, wenn sie rausgegangen ist – nein, nein, nein, ich komm nicht mit! Ihr könnt mich nie wieder bei ihr lassen!“ Sie stampfte mit ihrem kleinen Füßchen auf und weinte noch mehr. Kurz darauf begann auch ihr kleiner Bruder zu weinen und versteckte sich hinter dem Sofa.
Charlotte und ihre Mutter waren verblüfft – so eine Reaktion von den Kindern hatten sie gewiss nicht erwartet. Albert hob seine Tochter hoch, drückte sie fest und versuchte, sie zu beruhigen. „Schhhh… wir werden dich nie mehr bei ihr lassen“, murmelte er, „aber wenn du solche Angst hast, dann kannst du und Manfred bei der Oma in Berlin bleiben.“ Beide hörten prompt auf zu weinen und drückten sich fest an ihre Oma, die sprachlos der Szene folgte, die sich gerade ereignet hat.
„Lass es uns das schnell hinter uns bringen“, sagte Albert zu Charlotte, als sie losfuhren. „Es wird kein schöner Tag werden.“
Als sie ankamen, öffnete seine Mutter die Tür und Albert konnte sie nur anstarren. Sie hatte
flammend rotes Haar und viel zu viel Puder im Gesicht, dazu trug sie ein extrem buntes, lose hängendes Kleid. Wohl eher einen Hausmantel, dachte er. Sie ist vermutlich gerade erst aufgestanden.
„So, so, na seht mal her – wen haben wir denn da? Meinen lieben Sohn und seine neue Frau.“
„Guten Tag.“ Charlotte schob schüchtern ihre Hand vor, um ihre Schwiegermutter zu begrüßen, die ihre dargebotene Hand geflissentlich ignorierte.
Schließlich forderte Gusta sie dazu auf einzutreten und musterte Charlotte. „War das das Beste, was du kriegen konntest, mein Sohn?“ Sie fuhr fort: „Sieh dir deinen Bruder und seine bezaubernde Ehefrau an“, und deutete auf Renate, die wie ein Filmstar aufgeputzt war, eine lange Zigarettenspitze in der Hand hielt und Rauchringe blies.
Albert legte einen schützenden Arm um seine zitternde Frau. „Ich denke, wir gehen jetzt besser. Es war wirklich wunderbar, dich zu sehen, liebste Mutter, ganz wie immer.“ Seine Stimme war eiskalt und Charlotte spürte sein leichtes Beben an ihrer Seite.
Seine Mutter zuckte nur mit den Achseln. „Wie du meinst“, sagte sie und begann dann zu keifen: „Und ich wette, jetzt, wo du verheiratet bist, bin ich nicht mehr Nutznießer, falls du mit deinem Flieger abstürzt?“
„Das warst du noch nie“, erwiderte Albert und damit stürmte er aus der Wohnung und zog Charlotte mit sich.
„Warte!“, schrie ihm seine Mutter nach. „Ich habe einen Brief für dich, den ganzen weiten Weg aus China. Ich frage mich, was du jetzt wieder vorhast…“ Damit schleuderte sie einen dünnen Briefumschlag in seine Hand und knallte die Tür hinter sich zu.
Albert stopfte ihn nur in seine Tasche und rannte die Treppen so schnell er konnte hinunter. Charlotte folgte ihm langsam, verständnislos angesichts dessen, was sie gerade erlebt hatte. Als sie sich ins Auto gesetzt hatten, legte Albert seinen Kopf in seine Hände und stieß einen langen Seufzer aus. „Das war meine Mutter“, murmelte er, „wie sie leibt und lebt.“
Charlotte streichelte seinen Arm. „Du hast jetzt Omi als Mutter“, sagte sie im Versuch, ihn zu beruhigen. „Lass uns zum Friedhof fahren, ein paar Blumen auf das Grab deines Vaters legen und dann kannst du den Brief lesen, wenn wir uns dort auf eine Bank setzen.“
Der Brief kam tatsächlich aus China und war in fast perfektem Deutsch verfasst. „Er ist von Zhou Enlai!“, rief Albert ungläubig aus. „Ich kann nicht glauben, dass er mir geschrieben hat!“
„Was schreibt er denn?“ Charlotte sah Albert bewundernd an – ein Brief aus China, das war wirklich unfassbar.
„Mein lieber junger Freund“, las Albert vor, „ich hoffe, es geht dir gut und du setzt bei deiner neuen Arbeit deinen Höhenflug fort (haha). Ich habe gehört, dass du in Berlin lebst, ein Ort, der mir und meinen Freunden sehr am Herzen liegt. Ich würde dich gern dazu einladen, für einen Besuch nach China zu kommen. Bitte melde dich, dein Freund Zhou.“
„Wie hast du ihn denn kennengelernt?“, wollte Charlotte wissen.
Albert erzählte ihr, dass seine Mutter nach dem Tod seines Vaters weitere Einkunftsquellen finden musste, und da sie in Göttingen lebten, einer wohlbekannten Universitätsstadt, mit vielen ausländischen Studierenden, hatte sie ein oder zwei Zimmer an Studenten vermietet.
Damals lernte Albert eine Reihe chinesischer Studenten kennen, unter ihnen niemand geringerer als Zhu De und Zhou Enlai, Der junge Albert verbrachte viele Stunden in angeregten Diskussionen mit den zwei kommunistischen Studenten. Er verachtete das Konzept des Kommunismus und hielt Kommunisten für Idealisten; immerhin hatte er die Kommunisten und Spartakusbündler in seinen ersten Militärjahren bekämpft.
Zhu De wurde später zum stellvertretenden Vorsitzenden sowohl der Volksrepublik China als auch der Kommunistischen Partei. Zhou Enlai wurde der erste Premierminister sowie Außenminister der Volksrepublik China von 1949 bis 1958.
„Das ist ja wundervoll“, antwortete Charlotte. „Vielleicht können wir beide eines Tages für einen Besuch nach China reisen.“
Sie blickte ihn verträumt an und Albert musste lachen – schnell umfing und küsste er sie.
„Wir werden sehen“, sagte er. „Lass uns jetzt ein nettes Café suchen und dann zu unserer Familie in Berlin heimkehren.“
Ein ausgezeichneter Vorschlag, dachte Charlotte.
Sie kamen nie nach China.