Читать книгу Iron Annie - Lisa M Hutchison - Страница 12
ОглавлениеKapitel 6
1936 fanden die Olympischen Sommerspiele in Berlin statt. Obwohl die Spiele vor Hitlers Machtübernahme an Deutschland vergeben worden waren, boten sie die perfekte Gelegenheit, seine Beliebtheit anzukurbeln und die Propaganda der Nazi-Doktrinen weiterzuverbreiten.
Berlin brummte vor Aufregung: Endlich war die Welt gekommen, um die Tüchtigkeit und den Triumph des neuen Deutschlands zu erleben, das aus der Asche des Ersten Weltkrieges emporgestiegen war.
Selbst Albert musste zugeben, dass sich das Leben für die Menschen in Deutschland im Durchschnitt durchaus dramatisch verbessert hatte seit Hitler an die Macht gekommen war. Gesetz und Ordnung waren endlich in dieses von Niederlagen, einschneidenden Schulden, hohen Kriminalitätsraten und Verlust des Nationalstolzes und persönlicher Würde gebeutelten Landes zurückgekehrt. Ungeachtet all dessen hatte er immer noch Zweifel an dem Regime. Vielleicht wird es ja auf lange Sicht funktionieren, sagte er sich selbst und versuchte, seine Bedenken zu zerstreuen.
Die Karten für die meisten Veranstaltungen waren schnell ausverkauft gewesen, besonders natürlich für die Eröffnungszeremonie. Charlotte war traurig dass sie nicht dazu in der Lage sein würden, dieses internationale Ereignis persönlich zu erleben, obwohl es in ihrer eigenen Stadt stattfand. Albert nickte nur, war er doch bereits im Besitz der heiß begehrten Karten. Grinsend deutete er auf seine Tasche. „Lotti, ich habe Karten für die Spiele!“, verkündete er seiner begeisterten Frau.
„Oh Albert, das ist ja unglaublich!“ Charlotte war atemlos vor Aufregung. „Ich habe gehört, dass es absolut nirgendwo in Berlin mehr Karten gibt – wie hast du das nur hingekriegt?“
„Ach, weißt du, manchmal kann dein Ehemann Wunder wirken“, schmunzelte Albert, erfreut darüber, seine Ehefrau so begeistert zu sehen.
„Ich hoffe aber mal, dass es keine der weniger populären Veranstaltung ist, Boxen zum Beispiel“, grübelte sie. „So was mag ich nicht – aber einfach schon dabei zu sein ist so spannend!“
Albert zog sechs Karten aus der Jackettasche! „Nein, meine Liebste, drei Karten sind für die Eröffnungszeremonie“ – hier gab Charlotte einen Juchzer der Verzückung von sich – „und drei sind für Leichtathletik.“
„Wirklich?“
„Ja“, meinte er, „Leichtathletik. Das könnte spannend werden – einer der Läufer ist ein schwarzer Amerikaner, der angeblich extrem schnell ist. Ich freue mich schon auf das Rennen.“
„Ach, aber sicherlich ist er nicht so schnell wie unsere Läufer Erich Borchmeyer oder Karl Neckermann“, betonte Charlotte.
„Wir werden es sehen“, erwiderte Albert. „Zu der Eröffnungszeremonie kannst du deine Mutter und Großmutter mitnehmen, ich muss nämlich nach Bagdad, Teheran und Beirut fliegen und werde daher für ein paar Tage nicht zuhause sein. Aber ich bin mir sicher, dass ihr Damen das Spektakel genießen werdet.“
Charlotte war etwas enttäuscht. „Was ist denn mit Manfred?“, fragte sie.
„Ich nehme ihn für ein paar Tage mit nach Erfurt. Er wird sich bestimmt nicht gerade freuen, aber er muss seine Schwester und Großmutter auch mal wiedersehen. Und das wird dir und Omi ein paar Tage für euch selbst ermöglichen.“
„Ach, wir werden ihn vermissen, und dich natürlich auch“, meinte sie und lächelte ihren Ehemann an. „Aber du hast recht, er soll auch weiter Kontakt mit seiner anderen Familie haben.“
Obwohl Charlotte ihre Arbeit und den zugehörigen Trubel vermisste, fand sie doch viel Gefallen daran, ihr Heim herzurichten. Wie versprochen zog Charlottes Mutter bei ihnen ein, ein Arrangement, das Vorteile für alle mit sich brachte. Oma liebte ihre neue Rolle als Kindermädchen der zwei Kinder, die sie vergötterten. Für Albert und Charlotte bedeutete dies eine völlig neue Welt der Reisefreiheit, sowohl im Flieger als auch, durchaus häufiger, im Auto.
Endlich war der Tag der Eröffnungszeremonie gekommen. Charlotte, Oma, und Omama schlossen sich der Menschenmenge an, die zum Olympiastadion strömte. Es war ein gigantisches, neu erbautes Stadion, das 110.000 Zuschauern Platz bot und über einen besonderen Sitzbereich für Hitler und die ranghohen Nazis verfügte. Unglüclicherweise war es ein recht regnerischer, bewölkter Tag, aber das tat dem Enthusiasmus der vielen tausend Zuschauer keinen Abbruch.
Charlotte war richtig aufgedreht. „Das sind tolle Sitzplätze! Wir können sogar sehen, wo der Führer sitzen wird.“
Genau da liefen Hitler und seine Entourage mit den Offiziellen der Olympischen Spiele in das Stadion, wo tausende Deutsche jubelnd die Nationalhymne sangen.
Es war ein mitreißender Moment, der Charlotte vor lauter Ergriffenheit zu Tränen rührte. Das Luftschiff Hindenburg flog niedrig über das Stadion und zog die olympische Flagge mit den fünf Ringen hinter sich her. Der Höhepunkt der Zeremonie war die Ankunft des olympischen Feuers, das den gesamten Weg vom griechischen Athen von über dreitausend Staffelläufern in zwei Wochen hergebracht worden war. Es war das erste Mal in der olympischen Geschichte, dass Staffelläufer das Feuer überbrachten. Charlottes Herz schwoll vor Nationalstolz an.
Es war auch das erste Mal, dass die Olympischen Spiele im Fernsehen übertragen wurden, wenngleich die Übertragung nicht sehr gut war. Es gab damals aber immerhin etwa zwei Dutzend Orte in Berlin, die Fernsehräume zur Verfügung stellten, in denen die Leute die Spiele mitverfolgen konnten.
Als die Zeremonie beendet war, machten sich die drei Frauen auf ihren Weg nach Hause und diskutierten angeregt ihre Eindrücke der Veranstaltung. „Was für ein Tag!“, seufzte Charlotte. „Und sah der Führer nicht großartig aus?“
„Aber natürlich“, kicherte ihre Großmutter. „Steck einen Mann in eine Uniform oder einen Smoking – und schwups, schon ist er gutaussehend, aber das macht ihn noch nicht zu einem großartigen Führer.“
„Omama!“ Beide Frauen waren erschrocken über diesen Kommentar.
„Wie kannst du nur so etwas sagen?“, fragte Charlotte entgeistert. „Du solltest lieber sichergehen, dass dich keiner hört!“
„Das ist genau das, was ich meine“, erwiderte das älteste Familienmitglied. „Wenn ich nicht sagen darf, was ich denke, dann ist dies kein guter Ort zum Leben.“
Charlotte und Oma waren ziemlich verstört von dem, was sie gehört hatten, aber bevor sie noch etwas sagen konnten, fuhr Omama fort: „Mein Arzt ist letzte Woche verschwunden. Er ist Jude. Meine Freundin Eva ist auch nicht mehr hier und Herr und Frau Goldschmidt, meine lieben Nachbarn sind ebenfalls weg; niemand weiß, wo sie sind.“
„Vielleicht sind sie im Urlaub“, bot Charlotte an. „Immerhin ist es August.“
„Möge Gott deine Unwissenheit bewahren, mein liebes Kind.“ Ihre Großmutter küsste sie auf die Wange. „Ich bin sicher, dass dir Albert die eine oder andere Sache dazu sagen kann.“
„Pst Mutter“, sagte Oma, „du bist immer so negativ. Ich bin mir sicher, dass es eine vollkommen logische Erklärung dafür gibt, wo dein Arzt und deine Freunde sind. Nun, lasst uns diesen großartigen Tag nicht vermiesen und lieber beim Café Kranzler für Kaffee und Kuchen vorbeischauen.“
Charlotte hatten die Bemerkungen ihrer Großmutter beunruhigt und als Albert nach Hause kam, fragte sie ihn, was er für einen Eindruck davon hat.
„Meine liebe Frau“, sagte er, während er sie in seine Arme schloss, „es gibt eine Menge Dinge, über die nicht gesprochen wird, aber das ist nun mal Politik. Ich möchte nicht, dass du dir deswegen Sorgen machst; es wird schon alles gut werden.“ Er beruhigte sie und versuchte gleichfalls, seine eigenen Zweifel zu zerstreuen. „Morgen gehen wir ins Olympiastadion und schauen uns die Leichtathletik-Veranstaltungen an. Und wir nehmen Gisela mit.“ Er hatte beide Kinder mit zurückgebracht.
Und wieder stürzten sich Albert und Charlotte in die aus tausenden Menschen bestehende Menge, die sich zum Stadion wälzte, gemeinsam mit der aufgeregten und pausenlos plappernden Gisela. Es war erneut ein trister und regnerischer Tag, aber der schwarzamerikanische Läufer Jesse Owens ließ nichts zu wünschen übrig: Er gewann insgesamt vier Goldmedaillen, stellte Weltrekorde im Weitsprung und im 400-Meter-Lauf auf. Er wurde augenblicklich weltberühmt, nicht nur in Berlin, und die Deutschen belagerten ihn in den Straßen für Autogramme.
Mit dem drohenden Regen als Vorwand verließ Hitler das Stadion, bevor er die drei amerikanischen Medaillengewinner im Hochsprung, zwei davon Schwarze, ehren konnte. Die Schiedsrichter waren aufgebracht und erklärten Hitler, dass er entweder alle oder keinen Medaillengewinner gratulieren darf.
Hitler entschied sich, keinen zu empfangen, darunter auch Owens. Albert war angesichts dieser offensichtlichen Brüskierung entrüstet, behielt seine Gedanken jedoch für sich. Er hatte noch nie zwischen Hautfarbe oder Religion unterschieden – jeder Mensch war wertvoll und verdiente Anerkennung für seine Errungenschaften und Tugenden. Das war ein grundlegendes menschliches Entgegenkommen.
Als sie das Stadion inmitten der vielen Menschen verließen, hatte sich der Nieselregen zu einem Wolkenbruch entwickelt. Sie hatten keinen Regenschirm. Albert wandte sich Charlotte und Gisela zu: „Nun, die Damen, sprinten wir los. Wie wäre es mit einem Besuch beim Café Kranzler?“
„Warum fragst du das noch?“, antwortete Charlotte, als Gisela rief: „Ja, Vati, los geht’s!“
Zu diesem Zeitpunkt waren Albert und Charlotte einfach glücklich, als sie Arm in Arm hinter Gisela, die ihnen voran die Straße entlanghüpfte, durch die Stadt schlenderten. Es war Zeit, das Leben mit seiner neuen Frau und ihren Kindern zu genießen.