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Kapitel 9 - Shokar

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Atun, der Lehrer Shokars, verfolgte die Fortschritte seines Schützlings mit Wohlwollen. Allerdings ließ er ihn dies nicht spüren. Shokar sollte sich nicht zu sicher sein. Atun erwartete von ihm, dass er sich jeden Tag von neuem anstrengte, um sein Bestes zu geben.

Bisher hatte Shokar alle ihm zugewiesenen Aufgaben genau erfüllt. Er war nie selbstzufrieden über seine Fortschritte oder ungeduldig erschienen. Genau so sollte sich ein Schüler verhalten.

Atun dachte an die beiden anderen Anwärter, die bereits erste Schwächen gezeigt hatten. Sollte er als einziger Lehrer das Glück haben, einen vielversprechenden Kandidaten für das Priesteramt anleiten zu dürfen?

Atun hatte aber auch viel Erfahrung mit den Menschen und ihren Schwächen. Man durfte nicht von vornherein glauben, dass alles immer in bester Ordnung bleiben würde. Deshalb musste man mit seinen Lehren langsam vorangehen und immer abwarten, wie der Anwärter die nächste Aufgabe erfüllte. Erst dann konnte man den folgenden Schritt planen.

Shokar hatte sich als vertrauenswürdig erwiesen. Er hatte über keine ihm anvertrauten Inhalte anderen gegenüber geredet. Er war dazu von anderen Priestern auf die Probe gestellt worden. Sie hatten vorgegeben, mit ihm bestimmte geheime Inhalte besprechen zu wollen. Shokars Antwort auf derartige Versuche war immer die Gleiche gewesen: „Verzeiht mir, Ehrwürdiger, es ist mir nicht gestattet, über die Inhalte meiner Ausbildung zu sprechen.“

Jetzt war es Zeit für den nächsten Schritt. Atun bedeutete seinem Schützling, mit ihm zu kommen. Shokar folgte ihm schweigend in den Raum mit den Bücherrollen. Auch das war Teil seiner Ausbildung. Er durfte nicht unbedarft sprechen, sondern sollte warten, bis sein Lehrer das Wort an ihn richtete.

Nur in dringenden Fällen war es ihm gestattet, seinen Lehrer mit einem Handzeichen auf sich aufmerksam zu machen. Dann entschied Atun, ob er ihm erlauben wollte zu sprechen oder nicht. Da Shokar noch nicht herausfinden konnte, was ein dringender Fall war, hatte er bisher auf dieses Zeichen verzichtet.

Shokar blieb nun still neben seinem Lehrer stehen und wartete darauf, dass dieser ihm eine neue Aufgabe zuweisen würde. Auch jetzt ließ er kein Zeichen von Ungeduld erkennen, was Atun zufrieden bemerkte. Er hatte sehen wollen, wie Shokar auf den Anblick der vielen Bücher reagierte. Es war das erste Mal, dass er diesen Raum betreten durfte. Atun konnte es an Shokars leuchtenden Augen sehen, dass er dieses gesammelte Wissen durchaus wahrnahm.

Atun begann darüber zu sprechen, was Shokar als nächstes tun sollte. Durch den unachtsamen Umgang mit einer Öllampe war kürzlich im Raum der Bücher ein Feuer ausgebrochen. Zum Glück konnte es rasch gelöscht werden. Man hatte die Schriftrollen kurzerhand in diesen Raum geworfen, um möglichst viele zu retten. Jetzt waren sie hoffnungslos durcheinander geraten. Sie mussten neu geordnet werden.

Shokar sollte zuerst bestimmte Bücher nach einer Aufstellung heraussuchen, die Atun aufgestellt hatte. Diese Schriften sollte er in einer bereit gestellten Kiste verwahren. Wenn er an andere Bücher geriet, die nicht auf der Liste waren, durfte er deren Inhalt nicht zur Kenntnis nehmen. Er sollte sie in einer noch größeren Kiste verwahren, die sich weiter hinten im Raum befand.

Diese Aufgabe würde Shokar von jetzt an jeden Morgen erledigen, ohne die Anwesenheit einer Aufsicht. Er war sich des Vertrauens bewusst, das sein Lehrer ihm damit aussprach.

Durch das Verwahren in zwei verschiedenen Kisten würde sein Lehrer jederzeit wissen, welche Bücher er in der Hand gehabt hatte. Atun konnte aber nicht herausfinden, ob er deren Inhalt erfahren hatte oder nicht. Darin bestand sein Vertrauen in Shokar.

An den Nachmittagen war die Erlernung weiterer Rituale und Studien mit seinem Lehrer vorgesehen, wie dies bisher schon den ganzen Tag über geschehen war.

Da es Vormittag war, wies Atun seinen Schützling an, mit dem Ordnen der Bücher zu beginnen. Er blieb noch eine Weile, bis er sah, dass Shokar seine Aufgabe ohne Schwierigkeiten erledigen konnte.

Gleich zu Beginn geriet Shokar an eine verbotene Schriftrolle. Atun hatte sie selbst dort hingelegt, bevor er Shokar hierher gebracht hatte. Sein Schüler las den Titel, verglich ihn mit seiner Liste und brachte das Buch ohne zu zögern zur größeren Kiste hinten im Raum. Danach fuhr er mit seiner Arbeit vorne im Raum fort.

Atun war zufrieden und verließ den Raum. Die Vormittage waren allen Priestern in nächster Zeit vorbehalten für die Durchführung von Ritualen, an denen die Schüler noch nicht teilnehmen durften.

Farik und Kerlak hatten deshalb ebenfalls Aufgaben erhalten, mit denen man ihre Vertrauenswürdigkeit auf die Probe stellte. Auch sie mussten ihre Aufgaben ohne Aufsicht durchführen.

Außerdem wurde ein Fest vorbereitet, bei dem die Amun-Priester gemeinsam mit den Isis-Priesterinnen Rituale vollziehen sollten. Dies geschah einmal im Jahresablauf.

Beide Tempel hatten Vorteile davon, nicht als Konkurenz aufzutreten. Die Spenden flossen an diesem Tag immer reichlich, denn nicht nur das einfache Volk sondern auch die Adligen und der Pharao nahmen daran teil, sofern er gerade in der Stadt war.

Die Anwärter würden ebenfalls anwesend sein, mit einfachen Aufgaben betraut. Für ihre Familien bestand somit die Gelegenheit, ihre Söhne einmal zu sehen.

Nach dem wie immer einfachen Mittagsmahl fanden sich die drei Lehrer mit ihren Schülern zusammen in einem der üblichen Lehrräume ein, um die Rituale zu besprechen, die die Schüler gemeinsam an dem bevorstehenden Fest durchführen sollten.

Unter strenger Aufsicht mussten die Anwärter immer wieder das gleiche Ritual zelebrieren, damit sicher war, dass sie es fehlerlos durchführen konnten. Ein Fehler in der Ausführung würde dem Tempel und besonders den Lehrern große Schande bereiten.

Shokar führte geduldig seinen Teil der Handlungen durch und ließ keine Müdigkeit erkennen, wenn wieder eine neue Wiederholung verlangt wurde.

Farik war sehr bemüht, seinen guten Willen zu zeigen. Er trauerte noch immer um Noala, ließ dies aber nicht nach außen hin erkennen. Er strengte sich an, alles richtig zu machen.

Bei Kerlak sah es anders aus. Er führte zwar die verlangten Wiederholungen durch, aber an gelegentlich hart ausgestoßenem Atem konnte man erkennen, dass ihn dies bereits langweilte. Ein strenger Blick seines Lehrers Sunit bewirkte dann, dass er sich zusammennahm und das Geforderte ausführte.

Als die Lehrer endlich zufrieden waren und ihre Schützlinge am Abend entließen, machten diese sich auf den Weg in ihre Unterkünfte. Kerlak war wütend. Er wagte aber erst sich zu äußern, nachdem er sich versichert hatte, dass keiner der Priester ihn mehr hören konnte.

„Denken die, wir sind dumm, weil wir immer das Gleiche tun mussten? Ich habe meine Aufgabe sofort begriffen. Das kann ich jetzt schon im Halbschlaf. Bestimmt träume ich heute Nacht noch davon. Dann muss ich es wieder und wieder tun.“

Farik machte den Fehler, ihm zu antworten: „Wir sollen doch auch zusammen handeln. Es geht ja nicht nur um jeden von uns allein.“

Kerlak regte sich noch mehr auf. „Sei du bloß still! Wenn du so viele Wiederholungen brauchst, bis du es kannst, müssen bloß wir anderen darunter leiden. Im Übrigen wirst du wohl heute Nacht nicht davon träumen. Hängst wohl immer noch deiner Dienerin nach. Lass es die Priester nur nicht merken, wovon du träumst.“

Fariks Miene verschloss sich und Kerlak bemerkte zufrieden, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Vielleicht konnte er das einmal ausnutzen.

Shokar fuhr ihn an: „Lass Farik in Ruhe! Du weißt genau, dass es nicht an ihm lag, warum wir die Rituale so oft wiederholen mussten. Wir sollen alles mit Geduld ausführen, was man von uns verlangt. Das gehört zur Ausbildung.“

„Du brauchst gar nicht so edel zu tun!“ Jetzt legte Kerlak richtig los in seinem Zorn.

„Du bist der Einzige, der sich heute Nacht noch vergnügen kann. Wir anderen sind ja nicht würdig, eine eigene Dienerin zu haben, die uns jeden Wunsch von den Augen abliest.“

Shokar konnte sich nicht zurückhalten mit seiner nächsten Bemerkung: “Auch du hattest eine Dienerin. Leider hast du sie nicht so behandelt, dass man sie dir lassen konnte. Du hast deine jetzige Lage selbst verursacht.“

Kerlak wurde rot im Gesicht. Seine Adern traten hervor. Wenn er sich noch mehr aufregte, würde bestimmt bald eine platzen. Shokar bemerkte nur am Rande, dass es vielleicht nicht ratsam war, Kerlak so zu reizen. Doch als er Merit in der Tür seiner Unterkunft stehen sah, vergaß er das sofort. Er sah nur noch sie. Dabei nahm er sich sehr zusammen. Kerlak durfte nie erfahren, wie viel sie ihm inzwischen bedeutete.

Vor den anderen beiden Türen standen die Tabletts mit den Abendmahlzeiten. Farik nahm schweigend sein Tablett auf und betrat seinen Raum.

Kerlak warf Merit einen wilden Blick zu, der sie sofort in der Unterkunft verschwinden ließ.

Er schnappte sich sein Tablett und stapfte in seinen Raum.

Shokar sah ihm nachdenklich hinterher. Wie konnte er verhindern, dass Kerlak Merit allein antraf? Er hegte keinen Zweifel daran, dass es Merit dann schlecht ergehen würde.

Seufzend betrat er seinen Raum. Seine Miene erhellte sich, als er Merit sah. Sie sah besorgt aus. Ihr war die Stimmung draußen nicht entgangen. Als Dienerin befand sie sich nicht gerade in einer Position, um sich im Ernstfall wirklich wehren zu können.

Shokar trat zu ihr und küsste sie.

„An jedem Tag freue ich mich auf den Abend, wenn ich mit dir zusammen sein kann. Lass nicht zu, dass Sorgen uns diese Zeit verderben.“

Shokars Stimme klang sanft und beruhigend. Merit lag in seinen Armen und er konnte fühlen, wie sie sich bei seinen Worten entspannte.

Sein Magen knurrte vernehmlich. Sie lachten und Merit wies auf das Tablett. Inzwischen aßen sie beide gleichzeitig. Allerdings horchte Merit dabei immer nach außen, ob sich jemand näherte. Dann konnte sie rasch aufspringen und sich von Shokar entfernen, um den Anschein zu erwecken, dass sie erst später essen würde.

So viele Regeln und Gesetze, die es im Umgang miteinander zu befolgen gab. Leider betrachtete die Gesellschaft, in der sie lebten, nicht alle Menschen als gleichwertig. Auch außerhalb des Tempels wäre es für Shokar und Merit nie möglich gewesen, in gemeinsames Leben aufzubauen. Die einzige Möglichkeit, dennoch zusammen zu sein, bestand in Heimlichkeiten. Deshalb hatte keiner von ihnen ein schlechtes Gewissen, dass sie sich eine Nische geschaffen hatten, in der sie etwas Glück finden konnten. Beiden war jedoch bewusst, dass dieses Glück sehr zerbrechlich war. Es blieb ihnen nichts weiter, als jeden Moment davon auszunutzen.




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