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Kapitel 1 - Gegenwart

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Kayla Monigan befand sich auf ihrer täglichen Walking-Strecke. Ihre Stöcke bewegten sich in gleichmäßigem Rhythmus vor und zurück. Sie war tief in Gedanken versunken, registrierte kaum, was sich um sie herum abspielte. Etwas beunruhigte sie, nur kam sie nicht darauf, was sie eigentlich beschäftigte.

Normalerweise konnte sie sich beim Laufen entspannen, egal, wie nervös sie zuvor gewesen war. Das Laufen war immer ein Mittel gewesen, wieder runter zu kommen. Also was war los?

Ein junger Mann auf Inlinern passte ebenfalls nicht auf. Er rannte sie beinahe um. Nur eine rasche Bewegung zur Seite konnte einen Unfall verhindern. Sie musste dazu ihren Weg verlassen. Erst dann bemerkte sie die Bank in der Nähe, auf der zwei junge Männer saßen, beide um die dreißig Jahre alt.

Einer von ihnen, mit blondem Haar, berührte die Schulter des anderen. Dieser hatte schwarze Haare. Kaylas Interesse wurde geweckt, als sie die verzweifelte Stimmung wahrnahm, die die ganze Szene überschattete.

In diesem Augenblick rief der Schwarzhaarige aus: „Gibt es denn niemand, der helfen kann? Gibt es gar nichts, was man tun kann?“

Kayla hielt an und schaute zur Bank hinüber. Sie überlegte. Manchmal war es besser, sich nicht einzumischen und sich aus den Angelegenheiten anderer Leute herauszuhalten. Die Schultern des Schwarzhaarigen zuckten. Irgendetwas hielt sie davon ab, einfach weiterzugehen.

Kaylas Sohn war ungefähr im gleichen Alter. Darren lebte in Denver, zusammen mit seiner Frau Sheila und ihrer kleinen Tochter Annabelle. Kayla konnte sich nicht vorstellen, Darren in einer solchen Situation vorzufinden wie der junge Mann vor ihr.

Aber falls doch, würde er sich nicht freuen, wenn ihm jemand helfen würde? Das gab den Ausschlag. Sie ging zu der Bank hinüber und die Worte kamen ihr fast ohne ihr Zutun aus dem Mund:

„Kann ich Ihnen helfen?“

Zwei Köpfe gingen hoch. Grüne Augen des Blonden und blaue Augen des Schwarzhaarigen musterten sie.

Der Blonde sagte: „Mein Freund hat gerade schlechte Nachrichten von seiner Mutter erhalten. Niemand ist verletzt. Wir kommen allein damit klar. Danke für Ihre Fürsorge.“

Der andere Mann sagte nichts. Er starrte auf das Gras zu seinen Füßen.

„Und, können Sie das?“, fragte Kayla, indem sie ihn direkt ansprach.

„Tut mir leid, Lady, ich glaube nicht, dass Sie mir helfen können“, antwortete er mit einem Seitenblick.

„Manchmal hilft es, darüber zu reden.“ Wenn Kayla mal an etwas dran war, gab sie nicht so schnell auf. „Was es auch immer ist, spucken Sie es aus. Lassen Sie nicht zu, dass es Sie von innen auffrisst.“

Der Mann sah sie an und wurde wütend. „Sie stirbt! Meine Mutter stirbt! Niemand kann daran etwas ändern! Und ich kriege nicht rechtzeitig einen Flug zu ihr. Das tut so weh, dass ich es kaum aushalte. Also, was können Sie dagegen tun?“

Kayla holte tief Luft. „Es tut mir leid wegen Ihrer Mutter. Sie haben Recht. Niemand kann etwas an dieser Tatsache ändern. Aber ich habe gehört, dass der Schmerz zu viel für Sie ist. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, ihn zu lindern.“

„Sie möchten den Schmerz wegnehmen? Das ist nicht möglich. Wie wollen Sie das machen? Ich glaube nicht an Zauberei.“

„Also wollen Sie nicht, dass der Schmerz weggeht. Denken Sie, dass Sie ihn verdienen?“

Stephen zögerte. Wie konnte sie das wissen, diese Frau da vor ihm? Sie war ungefähr fünfzig Jahre alt, schlank und machte einen sportlichen Eindruck. Wenn er sich neben sie stellte, ging sie ihm wohl gerade bis an die Schultern. Auf dem Kopf trug sie eine Baseballkappe. Ein paar kurze rötliche Haarsträhnen lugten darunter vor. Sie stützte sich auf ihre Wanderstöcke und sah ihn abwartend an.

Auf jeden Fall verdiente er diesen Schmerz. Er war derjenige, der seine Mutter in New York zurückgelassen hatte, weil er Schauspieler werden wollte. Er hatte schon einige Erfolge hier in Los Angeles. Aber das bedeutete, dass die Telefongespräche weniger geworden waren und die Besuche bei ihr ebenfalls. Seine Mutter war immer für ihn dagewesen, hatte ihm versichert, dass er das Richtige tat.

„Mach dir keine Sorgen wegen mir. Mir geht es gut. Ich habe meine Freunde hier. Bau eine Karriere auf und hab Erfolg“, meinte sie immer.

Stephen sah die Frau an, wusste nicht, was er sagen sollte. Sie war eine Fremde. Es war nicht ihre Angelegenheit.

Kayla konnte mitverfolgen, wie sich sein Gesichtsausdruck verschloss. Sie begann, sanft mit ihm zu reden.

„Mein Name ist Kayla Monigan. Ich habe einen Sohn in Ihrem Alter. Und ich weiß. ich würde wollen, dass ihm jemand hilft, wenn er sich in einer Situation wie dieser befinden würde. Also, was brauchen Sie? Wollen Sie reden? Möchten Sie den Schmerz in Ihrem Inneren lindern, gerade so viel, dass er erträglich wird? Ich bin eine Lehrerin für Meditationen und habe schon oft erlebt, wie man sich mit diesen Techniken weiterhelfen kann. Probieren Sie es doch einfach mal aus.“

Stephen sah seinen Freund Luke an. Dieser nickte leicht. Er fühlte sich verzweifelt. Über eine Stunde lang hatte er versucht, seinen Freund zu beruhigen, nicht wirklich mit Erfolg. Tatsächlich war es eher schlimmer geworden.

Stephen sah Kayla an. Da war etwas in ihren Augen. Er hatte das seltsame Gefühl, sie würden ihn zu ihr hinziehen. Er könnte sogar in diese Augen hineinfallen, aber seltsamerweise störte ihn das kein bisschen.

Bevor er überlegen konnte, was er da gerade tat, hörte er sich selbst sprechen:

„Ich versuche es. Alles ist besser als das. Sagen Sie mir, was ich tun soll. Oh, und ich bin Stephen. Und das ist mein Freund Luke.“

Stephen sah Kayla in die Augen, als er mit ihr sprach. Im gleichen Augenblick, als er zustimmte, geschah auch etwas mit Kayla. Plötzlich sahen Stephens Augen vertraut aus. Etwas hatte sich zwischen ihnen verändert. Da gab es eine Gemeinsamkeit, die vorher nicht dagewesen war. Mit Hilfe ihrer besonderen Fähigkeiten nahm sie es wahr, konnte aber im Moment nicht herausfinden, was dahinter steckte. Sie würde dem später nachspüren. Ihr nachdenklicher Blick wurde wieder klar, wanderte zu Stephen.

Sie sah ihn die Stirn runzeln. Er wusste tatsächlich nicht, wozu er sich gerade bereit erklärt hatte. Vielleicht war es nur eine Zerstreuung, die ihn davon abhalten würde, in immer den gleichen Gedanken gefangen zu sein, die sich wieder und wieder im Kreis drehten und ihm keinen Weg aus seiner Lage heraus zeigten.

Auf ein Zeichen von Kayla hin setzte sich Luke auf die nächste Bank.

„Du kannst mich Kayla nennen. So können wir leichter miteinander reden.“

Kayla nahm neben Stephen Platz und forderte ihn auf, ihr seine rechte Hand zu geben.

„Schließe deine Augen und hör nur noch auf meine Stimme.“

Stephen folgte den Aufforderungen, neugierig darauf, was nun folgen würde.

Kayla fuhr fort: „Reduziere alles, was du willst oder brauchst auf eine Sache: Atmen. Folge dem Weg deiner Atemluft in deine Lunge und wieder hinaus. Nichts anderes ist wichtig, nur atmen. Finde deinen eigenen Rhythmus.“

Kayla konnte sehen, wie Stephen sich allmählich entspannte und ließ ihn eine Weile so weiter machen, indem sie ihn mit ihrer Stimme führte.

Als Stephen halb in Trance war, fuhr sie fort.

„Jetzt fühl den Schmerz in dir.“ Stephen schnappte nach Luft.

„Das ist in Ordnung. Alles ist gut. Finde nur den Schmerz in dir. Wo in deinem Körper kannst du ihn sehen? Finde es heraus und sag es mir.“

Stephen runzelte die Stirn und versuchte offensichtlich angestrengt, es zu sehen.

Kayla redete weiter. „Lass mich dir helfen. Ist der Schmerz in deinem Kopf … deinem Herzen … deinem Solarplexus? Sag mir, wo.“

„In meinem Herz.“

„Wie sieht er aus? Welche Form hat er? Welche Farbe?“

„Es ist ein großer Feuerball. Er ist gelb und rot. Und es sind schwarze Flecken drin. Es tut weh. Es verbrennt mich von innen heraus.“

Stephens Stimme klang erstaunt, als ob er nicht erwartet hätte, es tatsächlich zu sehen.

„Fühle meine Hand. Du kannst diesen Feuerball kleiner machen. Leite einen Teil seiner Energie in meine Hand. Wie viel davon möchtest du hergeben?“

„Ich kann nicht!“ Stephen stieß die Worte hervor, sein Atem wurde schneller.

Kayla fragte sanft: „Du kannst nicht oder du willst nicht? Manchmal denken Menschen, dass sie diesen Schmerz verdienen. Dann können sie ihn nicht hergeben.“

Stephen nickte. Er wusste, was sie meinte.

„Stephen, du hast um Hilfe gebeten. Es ist dir erlaubt, den Schmerz zu lindern.“

„Aber wenn ich ihn dir gebe, wird er dir wehtun.“

„Nein. Das ist nicht mein Schmerz. Er wird mir nicht wehtun. Ich kann damit umgehen. Beobachte den goldenen Faden, der von dem Feuerball zu meiner Hand führt. In dem Maße, wie die Energie fließt, wird der Ball kleiner … und kleiner … und kleiner. Sag mir, wann es genug ist.“

Einige Minuten später kam Stephens Antwort: „Genug!“

Kayla fragte: „Wie sieht der Ball jetzt aus?“

„Er ist nicht verschwunden. Er ist jetzt wie ein Tennisball. Er glüht in orange und rot.“

„Wie fühlst du dich jetzt?“

„Der Schmerz ist nicht verschwunden. Aber es ist jetzt einfacher. Ich fühle mich erleichtert.“ Stephen atmete auf. „Wie hast du das gemacht? Es ist erstaunlich!“, rief er aus.

Kayla lächelte. „Ich hab dich nur einen Teil des Schmerzes weggeben lassen. Aber bis jetzt hast du dein Problem noch nicht gelöst. Und solange du das nicht tust, wird der Schmerz wieder kommen. Es ist nur eine Erleichterung für den Augenblick.“

Stephen sah sie schockiert an. „Das kann ich nicht noch einmal durchmachen! Es fühlte sich an, als ob eine große Meereswelle über mich hereinbrechen würde. Ich hatte das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Was kann ich tun? Wie kann ich mein Problem lösen?“

„Du fühlst dich schuldig wegen deiner Mutter. Sei dir dessen bewusst. Und löse dich von dieser Schuld. Du kannst das mit Meditation tun. Aber es braucht einige Zeit, zu erlernen, wie man es macht.“

Stephen wollte wissen: „Wo kann ich das lernen?“

Kayla meinte: „Wie ich schon sagte, ich unterrichte Meditationstechniken. Doch für den Augenblick ist es genug. Wenn du mehr tun möchtest, wirst du zu mir nach Hause kommen müssen. Dort kann ich es dir Schritt für Schritt beibringen. Und wenn dein Freund es auch lernen will, ist er eingeladen, mitzukommen.“

Stephen hatte völlig vergessen, dass Luke immer noch auf der anderen Bank saß. Er sah zu ihm hinüber. Luke schaute zurück, aber er schien verwirrt zu sein, als ob er nicht glauben könnte, was er gerade miterlebt hatte.

Kayla gab Stephen ihre Adresse und verabschiedete sich. Der Rest lag bei Stephen. Er brauchte Zeit, um über alles nachzudenken. Wenn er bereit war, würde er kommen. Wenn nicht, konnte Kayla nichts daran ändern.




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