Читать книгу Magie aus Tod und Kupfer - Lisa Rosenbecker - Страница 10
Kapitel Vier
ОглавлениеRya und Nick rückten nicht damit raus, was genau der Fluch bei Xanthos bewirkte. Wäre ich im Besitz all meiner Kräfte, hätte ich es herausfinden können, aber so … Ich grummelte leise in meine Tasse und ließ mir den wirklich hervorragenden Tee schmecken. Dann kniff ich mir in die Nasenwurzel und schob den Gedanken an Xanthos’ Fluch beiseite … wenn er nicht darüber reden wollte, bitte schön. Eins nach dem anderen.
»Wobei braucht ihr meine Hilfe?«
Nick wechselte einen Blick mit Rya, dann zog er eine lange schwarze Feder aus der Innentasche seiner Jacke hervor. Ihre Spitze war silbern, als hätte sie jemand in Farbe getaucht. Er streckte sie mir hin und ich griff danach. Sie war überraschend schwer und weich und ich ließ sie durch meine Finger gleiten. Bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass sie keinesfalls rein schwarz war, die Oberfläche schimmerte ganz leicht bläulich, wenn man sie im Licht wendete. Sie war wunderschön.
»Wo habt ihr die her?«, wollte ich wissen.
»Sie lag auf der Dachterrasse unseres Hauptsitzes«, antwortete Nick. »Hast du so eine Feder schon mal gesehen?«
Ich drehte den außergewöhnlichen Fund hin und her und musterte ihn genau. »Nein. Bei den Mageía Mésa wird zwar auch mit Federn gearbeitet und gezaubert, doch so ein Exemplar ist mir noch nicht untergekommen.«
»Schade.«
»Wieso glaubt ihr, dass die Feder wichtig ist?«
Xanthos beugte sich vor und übernahm das Wort. »Wir sind uns nicht sicher, ob es einen Zusammenhang gibt, aber einer unserer Ordensbrüder ist wie vom Erdboden verschluckt. Und am Tag seines Verschwindens haben wir diese Feder im Kies auf dem Dach entdeckt.«
»Glaubt ihr, dass er entführt wurde? Von etwas mit Flügeln?«
»Möglich.«
Ein Schauder lief mir über den Rücken. »Und dass er einfach nur abgehauen ist, weil er jetzt selbst über sein Leben bestimmen kann? Wäre das eine Option?«
Nick trommelte mit den Fingern auf seinem Bein herum. »Theoretisch. Aber da sich die mysteriösen Zwischenfälle in der Stadt in letzter Zeit häufen, gehen wir nicht davon aus.«
»Wieso, was ist passiert?«
Er beugte sich vor. »Es treten vermehrt Überfälle auf, bei denen Menschen auf brutale Weise ermordet werden. Es gibt keine Spuren, keine Zeugen. Die Wunden sind meistens gleich: Aufgerissene Brustkörbe und Verletzungen, die von Krallen stammen könnten. Die Organe im Inneren sind intakt, nur Haut, Muskeln und die Rippen sind betroffen. Wir glauben schon seit dem ersten Vorfall vor ein paar Wochen, dass etwas Magisches dahinterstecken muss, denn normal ist das nicht.«
Ich strich mit dem Daumen über den Federkiel. »Ob magisch normal ist, ist eine Frage der Perspektive«, antwortete ich und Rya nickte verständnisvoll. »Für mich bedeutet Magie Normalität. Aber ich weiß, was du meinst.«
Während ich die Feder genauer betrachtete, breitete sich erneut Stille im Raum aus. Ich wusste, was sie von mir erwarteten. Was sie sich erhofften. Ich wollte ihnen helfen, von Herzen gern, nur ob ich das schaffte …
»Warum habt ihr mir nicht früher davon erzählt?«, fragte ich.
Nick warf einen Blick zu Xanthos, der mir antwortete. »Wir waren nicht dafür zuständig, da wir wegen der Ágalmas unterwegs waren. Es gab keinerlei Beweise, nur Theorien. Mit dem Fund der Feder hat sich das geändert und wir haben den Fall, wenn du es so nennen willst, freiwillig übernommen. Du bist die einzige Mágissa, der wir auch nach dem Ende des Krieges vollkommen vertrauen.«
Ich erhob mich. »Mal sehen, ob ich etwas herausfinden kann.« Es bedeutete mir viel, dass sie so große Hoffnungen in mich setzten, nur vereinfachte es das nicht.
Mit der Feder in der Hand ging ich zu dem Netz aus Fäden. Vielleicht fand sich in dem Geflecht ein Hinweis und meine Magie würde sich endlich einmal wieder nützlich machen. Wenn sie es schon nicht für mich tat, dann vielleicht für meine Freunde, die Hilfe brauchten. Immerhin hatte ich all die Jahre nach der Devise gelebt, anderen zu helfen, und meine Macht hatte mitgespielt. Das konnte sie doch nicht vergessen haben.
»Streng dich an«, sagte ich sowohl zu ihr als auch zu mir. Fürs Erste schloss ich nur die Augen und ließ die Feder durch meine Finger gleiten. Doch außer einem flüchtigen Prickeln fühlte ich nichts. Da war etwas, nur versteckte es sich gut vor mir. Oder meine Kraft reichte nicht aus, um es an die Oberfläche zu holen. »Komm schon.«
Ich versuchte es erneut, doch das Resultat blieb dasselbe.
»Ilena …« Rya war aufgestanden und kam auf mich zu.
»Schon gut. Ich will euch helfen. Ich brauche nur etwas Zeit.« Und ein Wunder, fügte ich in Gedanken hinzu. Ich ließ die Schultern kreisen und fasste nach meiner … nicht mehr vorhandenen Kette. Ob ich es irgendwann endlich lernen würde?
Ich trat einen Schritt auf das Netz zu und streckte die freie Hand aus. In diesem Netz bewahrte ich all die Zaubersprüche und Informationen auf, die ich mir nicht merken konnte. Wenn ich bereits etwas über so eine Feder gehört hatte, würde ich dieses Wissen hier finden. Und wenn nicht hier, dann gab es immer noch andere Möglichkeiten und Orte, um danach zu suchen.
Ich zupfte an einer der Schnüre, die mit einem summenden Geräusch nachgab, dachte an die Feder und …
hörte eine Violine, die eine zauberhafte Melodie spielte.
Sie gab zaghafte Töne von sich, als wollte sie zunächst sichergehen, dass ich ihr zuhörte. Dann wurde ihr Spiel lauter, schneller, noch immer beruhigend, wie eine Begrüßung. Wie eine Einladung. Ich folgte ihr und ließ mich fallen. Die Musik trug mich weiter, trug mich fort. In einen Zustand, in dem es nichts mehr gab und in dem dennoch alles wunderschön war. Es war hell und dunkel zugleich, traurig und fröhlich, schwer und leicht. Mein Herz erhitzte sich, nur um im nächsten Moment kalt in sich zusammenzufallen. Die Klänge der Saiten strichen über meine Haut, durch mein Haar; hielten mich fest und stießen mich weg. Eine Träne rann über meine Wange, aus Freude und Leid zugleich. Dann wurde mein ganzer Körper warm und ich ließ mich weiter in dieses bittersüße Nichts tragen. Es nahm mich bei der Hand und zog mich mit sich …
Jemand schlug mir ins Gesicht und ich riss die Augen auf. Mein Kopf flog zur Seite und ein höllisch brennender Schmerz überzog meine linke Gesichtshälfte bis runter zu meiner Brust. Wie von selbst schoss mein rechter Arm nach oben, ich breitete die Finger aus und überließ meinen Instinkten das Handeln. Dunkel wabernde Schatten bündelten sich auf dem Inneren meiner Handfläche, nur um im Bruchteil einer Sekunde später auf meinen Angreifer loszugehen. Mit einer Druckwelle entlud sich die Spannung, und der Ball aus Magie bohrte sich in den Torso von …
Xanthos.
»Nein!«, schrie ich, doch es war zu spät. Xanthos wurde von dem Zauber fortgeschleudert und flog in einem hohen Bogen durch den Raum. Meine Knie zitterten, als ich seinen Flug mit dem Blick verfolgte. Mein Hirn war wie leer gefegt, ich stand einfach nur da und sah zu. Im nächsten Moment kam er mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf, sein Sturz wurde von den Hunderten Kissen abgefedert.
Doch er blieb reglos liegen.
Meine Beine gaben unter mir nach, dann war Rya an meiner Seite und fing mich auf. Sie ließ mich vorsichtig zu Boden gleiten, wo ich mich hinkniete. Nick rannte zu Xanthos hinüber und fluchte, als er sich durch die Kissen kämpfte.
Ich starrte auf meine leeren Hände. Die Feder war fort, dafür bedeckten dicke Ascheflocken meine Finger. Blinzelnd sah ich auf und wurde mir des Rauchgeruchs bewusst, der in der Luft lag. Rya neben mir hustete. Auch in ihren Haaren hatten sich graue Flocken verfangen, ihre Augen waren gerötet.
Aus der Ecke, in der Xanthos gelandet war, ertönte ein gequältes Stöhnen.
»Er lebt«, rief Nick und mein Herz setzte vor Erleichterung einen Schlag aus.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
Rya deutete hinter mich.
Ich traute mich fast gar nicht, mich umzudrehen. Ein gepresstes Schluchzen entfuhr mir, als ich sah, was ich angerichtet hatte. Das Netz aus den schillernden Schnüren war zerstört. Nur ein paar einzelne Fäden spannten sich noch durch den Raum, der Rest lag verkohlt und rauchend auf dem Boden. Auch die Kräuter, Papiere und andere Utensilien waren Feuer zum Opfer gefallen. Ihre Überreste ruhten rußgeschwärzt auf dem Boden. Wie war das möglich?
Erst auf den zweiten Blick entdeckte ich das Funkeln von Wasser, das die gesamte Ecke des Raumes überzog.
»Ich habe es löschen müssen, sonst wäre das ganze Haus abgebrannt«, sagte Rya entschuldigend.
»Immerhin hattest du dieses Mal einen guten Grund, um es unter Wasser zu setzen«, murmelte ich. Ryas Antwort war halb Lachen, halb erleichtertes Schluchzen.
Meine schmerzende Wange meldete sich. Vorsichtig fuhr ich mit den Fingern darüber und zuckte zurück, als es brannte. Rya strich meine Haare zur Seite und begutachtete den Schaden.
»Du warst wie in Trance. Wir haben versucht, dich aufzuwecken. Als es dann angefangen hat zu brennen, wollte Xanthos deinen Griff um die Feder lockern, doch du hast nicht losgelassen. Dann hat er dich aus lauter Verzweiflung geohrfeigt. Tut es sehr weh?«
»Bestimmt nicht so sehr wie das, was sie mir angetan hat.« Xanthos kam unterstützt von Nick auf uns zugehumpelt. Er presste sich Nicks Jacke gegen die Brust und verzog das Gesicht vor Schmerzen. Da ich noch immer saß und meinen Beinen nicht traute, griff ich nach dem Stoff seiner Hose. Ich legte meine Hand auf seine Wade und krallte mich in der Jeans fest, ohne ihm dabei wehzutun.
»Es tut mir so leid«, sagte ich. Xanthos schnaubte. Er ließ sich neben mir auf den Boden gleiten. Die Geräusche, die er dabei von sich gab, taten mir mehr weh als mein eigener Schmerz.
»Mir auch«, knurrte er und bemühte sich um ein klägliches Grinsen. »Mir scheint, wir sind schon wieder quitt.«
Nick fragte mich: »Ilena, hast du Verbandsmaterial im Haus? Und irgendein richtig gutes Zeug, um die Heilung von Wunden zu unterstützen?«
»Oben im Bad, im Wandschrank neben der Badewanne. Da ist so ein schwarzer Tiegel. Daneben sollten auch Mullbinden und so was liegen.«
Er nickte und eilte aus dem Wohnzimmer. Rya stand auf und öffnete die Fenster, damit Rauch und Qualm abziehen konnten. Xanthos zog zischend die Luft ein. Mein Blick fiel auf Nicks Jacke, die er noch immer vor der Brust hielt. Seine Haut war blutverschmiert.
»Ist nur eine Schürfwunde«, brummte Xanthos.
»Zeig sie mir«, befahl ich.
»Nein.«
»Xanthos!«
Leise schimpfend hob er die Jacke an, die sich mit einem schmatzenden Geräusch von dem verkohlten Fleisch darunter löste. Ein übler Geruch stieg mir in die Nase, mir wurde schlecht und ich würgte.
»Fang jetzt bloß nicht an zu kotzen«, murmelte der Krieger.
»Idiot«, presste ich hervor und atmete nur durch den Mund. Xanthos wollte die Jacke wieder auf die Wunde pressen, doch ich hielt ihn davon ab. »Es blutet nicht mehr, lass lieber etwas Luft dran. Ich bin gleich wieder da.« Bei dieser Verletzung würde die Salbe aus Türkis nichts helfen. Es brauchte etwas Stärkeres.
»Rya«, rief ich, und meine Freundin war sofort an meiner Seite. Sie half mir beim Aufstehen und folgte mir in die Küche.
»Was brauchst du?«, fragte sie.
»In dem Regal neben dem Ofen müsste eine Flasche mit einem Glasdeckel stehen. Darin ist eine bernsteinfarbene Flüssigkeit. Nimm die mit. Ich brauche etwas aus dem Kühlschrank.«
Sie wirkte skeptisch, suchte aber nach der Flasche. Mittlerweile trugen meine Beine mich wieder und ich schaffte es allein, die Tür zum Kühlschrank und das kleine Gefrierfach ganz oben zu öffnen. Das Räucherbündel mit Beinwell, Minze und Eukalyptus lag noch da, wo ich es vor gefühlt ewigen Zeiten abgelegt hatte. Damit ich mir keine Frostbeulen an den Fingern holte, wickelte ich es in den Saum meines Pullovers. Rya hatte die Flasche gefunden und wir eilten zu Xanthos. Auch Nick war zurück und war schon dabei, das Verbandsmaterial bereitzulegen.
Ich kniete mich neben ihn und deutete auf Xanthos.
»Rya, mach bitte den Deckel ab und gib ihm die Flasche.« Sie kam der Aufforderung nach und Xanthos griff zu meiner Verwunderung ohne Widerrede nach dem Gefäß. Es zitterte leicht, als Rya losließ.
»Was genau …«
»Frag nicht, trink es einfach. Und du, Nick, setz dich bitte hinter Xanthos und halte ihn fest.« Die Krieger sahen mich skeptisch an. »Muss ich es euch aufmalen?«
Xanthos lachte in sich hinein und setzte die Flasche an. Seine Augen wurden groß, als die Flüssigkeit seinen Mund erreichte. In weiser Voraussicht hielt ich meine Hand gegen das Gefäß, damit er es nicht frühzeitig absetzte. Xanthos’ Augen wurden dunkel und er warf mir düstere Blicke zu, während er Schluck um Schluck hinunterwürge. Nach vier ließ ich los und er schleuderte die Flasche fast von sich. Rya bekam sie gerade noch so zu fassen, bevor sie auf dem Boden zerschellte.
Xanthos hustete stark und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »So stelle ich es mir vor, wenn du etwas mit deiner Spucke verfeinerst.« Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Es blieb nicht mehr viel Zeit.
»Nick, zieh ihm den Pullover aus.« Dieses Mal gehorchte der Krieger sofort und griff nach dem Saum des Oberteils. Xanthos blinzelte träge und wehrte sich nicht, seine Augen wurden glasig.
»Willst du das nicht lieber selbst machen, Mágissa?«, säuselte er, die Zunge schwer von dem Trank. Endlich setzte die Wirkung ein. Wenn alles glattlief, dann würde er gleich nichts mehr spüren. Sein Kopf sackte zur Seite und er bekam nicht mehr mit, dass ich seine Frage nicht beantwortete.
Rya half Nick dabei, das Kleidungsstück über Xanthos’ Arme und Kopf zu ziehen, während ich das Räucherbündel aus meinem Pullover wickelte und neben mich legte. Meine Finger zitterten und ich sah wieder vor mir, wie ich diesen schimmernden Ball aus Magie abgegeben hatte. Wie hatte so etwas passieren können?
Xanthos jaulte auf, als Nick den Stoff von den Wundrändern löste. Rya hatte den Blick abgewandt, sie war etwas blass um die Nase.
Ich zog scharf die Luft ein, als ich das ganze Ausmaß der Verletzung betrachtete. Es sah schlimmer aus, als es war. Die Wunde war nicht sehr tief und blutete nicht mehr, das war gut. Der Stoß hatte augenscheinlich eher der Abschreckung und Verteidigung gedient, nicht einem Angriff. Wobei es mir immer noch ein Rätsel war, wie ich das zustande gebracht hatte. So etwas hatte ich nicht mal beherrscht, als ich noch im Besitz all meiner Macht gewesen war. Doch das musste warten. Jetzt musste ich Xanthos heilen.
Ich rutschte näher an ihn heran und konnte es nicht verhindern, dass mein Blick über seine nackte Haut glitt. Seine Bauchmuskeln waren angespannt, obwohl er nicht mehr bei vollem Bewusstsein war. Die feinen Haare, die vom Bauchnabel aus in einer dünnen Linie bis unter den Bund seiner Hose führten, klebten nass auf seiner Haut. Ich streckte meine Finger nach ihm aus und er zuckte leicht zurück, als ich ihn an der Taille berührte. Er kochte. Das wiederum war nicht gut. Wir mussten uns beeilen. Ich hob das Bündel an und löste die Schnüre, um an alle Bestandteile heranzukommen.
»Rya, setz dich auf seine Beine. Er darf nicht so viel Bewegungsspielraum haben. Nick, du musst ihn gut festhalten. Trotz der Bewusstlosigkeit wird sein Körper darauf reagieren. Und er muss etwas flacher liegen.«
Beide kamen meiner Aufforderung nach. Mit ein paar geübten Handgriffen umschloss Nick Xanthos’ Oberkörper und fixierte seine Arme. Nur der Kopf in seinem Schoß hatte noch Spiel, doch darum würde ich mich gleich kümmern. Fürs Erste zog ich aus dem Räucherbündel einen dünnen Stock aus Sandelholz, den ich Xanthos quer in den Mund steckte, damit er sich nicht auf die Zunge biss. Dann breitete ich den Rest der Materialien auf der Wunde aus. Sie war in etwa so groß wie meine beiden Handflächen und erstreckte sich vom Brustbein aus in alle Richtungen. Ich legte die Kristalle darauf, dann die restlichen Zweige, die Kräuter und Blüten, und ganz zum Schluss platzierte ich die Schnur obenauf. Sie war einst Teil meines Netzes gewesen, bis ich sie für diesen Zauber daraus entfernt hatte. Es steckte hoffentlich noch genug Magie darin, um den Schaden, den ich angerichtet hatte, zu beheben. Denn so lauteten die Regeln: Was von Magie zerstört wurde, vermochte auch nur Magie wieder richtig zu heilen. Wie gut, dass ich noch fertige Zauber-Vorräte aus der aktiven Zeit des Krieges hatte. Diese hatte ich immer wieder aufgestockt, für den Fall, dass akut etwas gebraucht wurde.
Das halb getrocknete Blut in der Wunde fing an zu zischen. Sobald die Kristalle und Pflanzenteile eine gewisse Temperatur überschritten, ging es los. Ich rutschte näher an Xanthos heran, neben seinen Kopf, der schlaff auf Nicks Schoß lag. Ich strich ihm die Haare aus der Stirn und seine Augenlider flackerten.
»Es wird alles gut.« Ich legte die Hände auf seine Wangen und schob die Finger in seinen Nacken. Mit den Daumen strich ich ihm über die Wangenknochen, dann packte ich etwas fester zu.
Keine Sekunde zu spät, denn im nächsten Moment verkrampfte er sich. Mit einem goldschimmernden Leuchten entfalteten die Steine auf Xanthos’ Brust ihre Wirkung. Ein schwacher Windhauch glitt über uns hinweg, dann zerfielen die Kräuter und Blüten, lösten sich auf und wurden Teil des Fleisches um sie herum. Ihnen folgen die Edelsteine, dann der dünne Faden, bis von den Materialien nicht mehr als feines Pulver übrig blieb. Eine wabernde Masse formte und legte sich wie eine beschützende Decke über die offene Stelle. Das alles geschah nahezu lautlos, nur Xanthos’ Keuchen war zu hören. Sein Körper bäumte sich auf, und wir hielten ihn mit vereinten Kräften zurück. Da erst kam mir in den Sinn, dass es vielleicht keine gute Idee war, die Hände, mit denen ich ihn so verletzt hatte, direkt an sein Gesicht zu pressen. Doch ich spürte kein magisches Prickeln unter der Haut und hoffte, dass es auch so bleiben würde, bis die Heilung abgeschlossen war.
Es dauerte nur ein paar Minuten, die sich wie Stunden anfühlten. Doch dann, endlich, trocknete und löste sich die magische Substanz auf seiner Brust auf und rieselte zu Boden. Darunter kam unversehrte Haut zum Vorschein, die zwar leicht gerötet, darüber hinaus aber vollkommen in Ordnung war. Es war endgültig vorbei, als Xanthos in Nicks Armen erschlaffte und reglos liegen blieb. Ich nahm ihm den Stock aus dem Mund und strich ihm erneut das Haar aus der Stirn. Er fühlte sich kühler an. Die verheilte Haut war ebenso normal temperiert, was ich als gutes Zeichen deutete.
»Ich hole ihm etwas Wasser. Er muss in den nächsten Stunden viel trinken.«
Rya hielt mich am Arm zurück, als ich aufstehen wollte. »Warte, lass mich das machen.« Wenige Sekunden später formte sich in der Luft eine Kugel aus reinem Wasser. Rya fixierte sie mit dem Blick und führte sie allein mit der Kraft ihrer Gedanken zu Xanthos’ Mund. Erst benetzte sie seine leicht geöffneten, schön geschwungenen Lippen. Dann drang das Wasser in seinen Mund. Nick hielt Xanthos’ Kopf, als dieser blinzelte und intuitiv ein paar Schlucke trank.
Rya lächelte stolz. Ihre Magie war nach ihrer zweiten Versteinerung zeitweise so schwach gewesen wie meine, doch im Gegensatz zu mir zeigte sich bei ihr eine Regeneration. Vermutlich lag es daran, dass ihre Magie angeboren war und durch ihre Adern floss, während meine nur ein temporäres Geschenk einer Göttin gewesen war.
»Es wird von Tag zu Tag einfacher«, sagte sie, als sie meinen Blick auffing. »Ich verdanke das dir. Ohne dein Geschenk wäre ich nicht hier.«
Anfangs hatte es Rya Schwierigkeiten bereitet, die vielen verschiedenen Kräfte in ihr zu kontrollieren. Doch das Wirken von Magie war ihr in die Wiege gelegt worden, und so fand sie schnell ihren Weg, um die neuen Kräfte auf ihre Weise anzuwenden. Neue Grenzen hatten sich aufgetan, in der Blutmagie beispielsweise, aber Rya trauerte nicht darum. Sie war froh, diese Form der Magie mitsamt den Erinnerungen daran hinter sich gelassen zu haben.
»Ich finde es cool, dass ein bisschen meiner Magie jetzt in dir steckt«, sagte ich. »Wenn ich sie schon nicht nutzen kann, dann zumindest jemand anderes.«
Rya nickte gedankenverloren. Gespräche wie diese hatten wir nicht erst einmal geführt. Sie schwankte zwischen Dankbarkeit und Reue, obwohl ich ihr immer wieder versicherte, dass sie mir nichts schuldig war. Jedes Mal, wenn ich sie lächeln sah, oder wenn ihre Augen vor Freude funkelten, fühlte ich nichts als Erleichterung darüber, dass ich ihr hatte helfen können. Meine einzige Sorge war, dass ich nicht wusste, ob ich das auch in Zukunft konnte.
Xanthos zitterte.
Ich stand auf, um eine Decke zu holen. »Ihr solltet ihn jetzt nach Hause bringen. Er muss sich ausschlafen und wieder zu Kräften kommen.«
Nick zog eine Augenbraue nach oben. »Wie sollen wir ihn in den Wagen bekommen? Er ist viel zu …«
»Wenn du jetzt fett sagst, haue ich dir eine rein«, knurrte Xanthos. Er hatte die Lider halb geöffnet. Die Wirkung des Tranks ließ wohl schon nach. Er musste einen sehr guten Stoffwechsel haben. Schwerfällig hob er die Hand und tastete seine Brust ab. »Ich bin rosa«, brummte er.
»Soll ich noch etwas Glitzer drüberstreuen?«
Xanthos blinzelte träge und sah zu mir auf. Er wirkte verwirrt, musterte mich genau, als sähe er mich zum ersten Mal. Ich klaubte die Decke vom Sofa und übergab sie Nick, der sie Xanthos um die Schultern legte. Letzterer konnte schon wieder allein sitzen. In wenigen Minuten würde er sicherlich allein zum Auto laufen können.
»Was ist mit der Feder?«, fragte er plötzlich. Wir anderen sahen uns an. Wir hatten total vergessen, worum es ursprünglich gegangen war.
»Wo ist sie überhaupt?«, wollte Nick wissen. Xanthos deutete in die Richtung des Netzes, von dem nichts mehr übrig war.
»Ich glaube, sie ist runtergefallen, als Ilena mich umbringen wollte.«
Nick eilte los, um die Feder zu finden.
»Fass sie nicht mit bloßen Händen an«, warnte ich ihn. »Wickel sie in irgendwas ein. In den Regalen müssten ein paar Stofffetzen herumliegen. Sofern sie nicht verbrannt sind.«
»In Ordnung.«
Rya stand auf. »Was genau ist passiert, als du die Feder berührt hast?«
»Zunächst gar nichts. Erst als ich auch gleichzeitig die Fäden angefasst habe, war da plötzlich eine Melodie, gespielt von einer Violine oder etwas Ähnlichem. Ich kenne das Stück nicht, es war wunderschön und traurig zugleich. Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Die Feder könnte verzaubert oder verflucht sein, ähnlich wie damals deine Phiole. Nur …« Ich schluckte schwer. Rya legte mir eine Hand auf den Arm und drückte sanft zu.
»Du kannst es nicht spüren.«
Nickend wandte ich den Blick ab. »Ich bin keine große Hilfe, oder?«
»Du hast getan, was du konntest, und das zählt.«
»Habt ihr denn gar nichts bemerkt, als ihr die Feder berührt habt?«, fragte ich. Rya verneinte.
Xanthos sah auf seine Hände hinab. »Ich hab sie nicht angefasst, wenn überhaupt, dann nur mit den Knöcheln gestreift.«
Nick kehrte zurück, er schob sich die Feder, die er in ein rotes Stück Stoff gewickelt hatte, wieder in die Jacke.
»Niemand, der die Feder bisher in den Fingern hatte, hat etwas wahrgenommen. Das waren zwei Krieger, Rya und ich.« Er warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Bist du sicher, dass diese Reaktion etwas mit der Feder zu tun hatte? Oder könnte es auch sein, dass das von dir kam?«
»Nick«, zischte Rya, doch ich hob die Hand und ließ nicht zu, dass sie ihn tadelte.
»Er könnte recht haben«, sagte ich. »Vielleicht war die Feder schuld, vielleicht auch meine eigene Magie. So etwas ist mir vorher noch nie passiert. Wir sollten die Mageía Mésa um Hilfe bitten.«
Xanthos erhob sich. »Dann mal los.«
»Du gehst heute nirgendwo mehr hin«, erwiderte ich. »Dich will ich frühestens morgen Mittag wieder sehen, dann können wir zusammen Nephele besuchen.«
»Es geht mir gut«, murrte er und schmiss die Decke weg. Das Spiel seiner definierten Muskeln zog meinen Blick sofort auf sich. Bei Hekate, diese Krieger waren wirklich schön anzusehen. Selbst verschwitzt und mit fiebrig glänzenden Augen wirkte Xanthos anziehend. Wenn da nicht dieser Ausdruck völliger Selbstüberschätzung gewesen wäre.
»Du siehst schrecklich aus«, sagte ich und wandte den Blick ab. Er sollte mir nicht am Gesicht ablesen, dass das eine Lüge war. »In dem Zustand schmeißt die Ischyró Mágo dich sofort wieder raus. Geh nach Hause und schlaf dich aus. Morgen sehen wir weiter.«
»Aber …«
»Xanthos«, sagte Rya ruhig und tatsächlich verstummte er. »Bitte, geh mit Nick nach Hause.«
Nick legte den Kopf schief und musterte seine Freundin fragend. »Und was hast du vor?«
Sie legte ihm einen Arm um die Hüfte und gab ihm einen Kuss auf die Nase. »Ich werde noch etwas hierbleiben und Ilena beim Aufräumen helfen.«
»Das ist nicht nötig«, warf ich ein.
»Doch, ist es. Das letzte Mal habe ich mich vor dem Saubermachen aus dem Staub gemacht. Lass es mich jetzt nachholen.«
Ich sah mich in dem Raum um. Etwas Hilfe würde nicht schaden. »In Ordnung.«
Rya lächelte und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Nick einen Abschiedskuss zu geben. »Holst du mich später wieder ab?«
»Natürlich«, antwortete er und strich ihr mit den Fingern über die Wange.
»Je schneller wir anfangen, desto eher könnt ihr euch nachher ein Zimmer nehmen«, sagte ich schmunzelnd. Ich wandte mich ab, um den beiden einen Moment lang so etwas wie Privatsphäre zu geben, und fand mich vor Xanthos’ Brust wieder. Aus dieser Nähe roch ich seinen Schweiß, und den Duft der Kräuter und Pflanzen, die bei dem Zauber zum Einsatz gekommen waren. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und fixierte mich. Ich konzentrierte mich auf seine Augen, damit mein Blick und meine Gedanken nicht zu anderen Dingen wanderten.
Er mochte nach außen hin so tun, als fühle er sich blendend, seine Augen verrieten mir etwas anderes.
»Nimm die Decke mit«, sagte ich. Seine Lider verengten sich minimal und wir lieferten uns ein Blickduell. Mit einem Knurren gab er ein paar Herzschläge später auf, bückte sich nach der Decke und schlang sie um seine Schultern. Zufrieden sah ich ihm hinterher, als er sich Nick schnappte und die beiden das Haus verließen.
Rya und ich blieben in der Stille zurück. Ich atmete auf und betrachtete zum ersten Mal das Durcheinander in meinem Wohnzimmer. Mittlerweile roch es wieder frisch, aber die verkohlten Überreste des Netzes sowie die überall verstreuten Ascheflocken zeugten eindeutig von dem … Zwischenfall.
»Ich weiß, wie es dir geht. Glaube ich.« Rya trat neben mich. »Als ich damals auf der Polizeistation den Mann versteinert habe … Das war ein Schock. Und du hast vorhin genau so ausgesehen, wie ich mich damals gefühlt habe.«
»Ich sollte das nicht können. So etwas steht nicht in meiner Macht. Zumal ich … zumal ich nie jemanden mit meiner Magie verletzen wollte. Im schlimmsten Fall hätte er sterben können.«
»Dann wäre er wiederauferstanden, nur um es dir heimzuzahlen«, sagte Rya und lächelte schief.
»Ja«, antwortete ich leise. »Vielleicht.«
Stille. Jene Stille, in der man die Worte, die gerade sorgfältig gewählt wurden, schon spürte, ehe sie ausgesprochen waren. Rya atmete einmal tief ein, dann sagte sie endlich, was ihr auf der Seele brannte.
»Es tut mir leid, dass du das meinetwegen durchmachen musst.«
Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Wie oft haben wir das schon durchgekaut? Zehn Mal? Hundert Mal? Du musst dich nicht entschuldigen. Meine Magie, meine Entscheidung.« Bei Hekate, jetzt eiferte ich schon dem Wortlaut eines Kriegers nach.
»Wir werden es vermutlich noch tausend Mal besprechen müssen, ehe ich es dir glaube. Und bis du verstanden hast, wie dankbar ich dir bin.«
Ich rollte mit den Augen. »Ich habe es verstanden. Nur du stellst dich stur«, brummte ich. »Können wir jetzt aufräumen?«
Sie nickte. Dann breitete sie die Arme aus und drückte mich kurz an sich. »Du bist die beste Freundin, die ich je hatte«, sagte sie.
»Ich bin auch die einzige Freundin, die du je hattest«, ergänzte ich und erwiderte die Geste. Sie schob mich von sich und stöhnte.
»Du bist echt anstrengend.«
»Du auch.«
»Sollen wir loslegen?«
Viel konnten wir nicht mehr retten. Die Fäden meines Netzes waren vollständig verkohlt oder verbrannt, der Rest der Materialien bis auf ein paar der Edelsteine ebenfalls. Wir klaubten alles noch Brauchbare zusammen, den Rest packten wir in eine Pappkiste. Bei Gelegenheit würde ich die Überreste verbrennen und versuchen, noch etwas Magie daraus hervorzuziehen, auch wenn es sicherlich schwierig werden würde. Es einfach wegzuschmeißen brachte ich nicht über mich.
Die noch intakten Steine reinigten wir mit Wasser und einem Schwamm und stellten sie dann zu den anderen ins Regal. Der Teppichboden, der unter dem Netz gelegen hatte, war nicht mehr zu retten. An einer Stelle war er vollständig verkohlt, an anderen schwer angesengt. Ich würde ihn rausreißen und neu verlegen lassen müssen. Mit einem Fingerschnippen war es nicht mehr getan.
Es klingelte an der Tür.
»Das wird Nick sein«, meinte Rya und ihre Augen strahlten vor Vorfreude.
Ich schob sie sanft in Richtung Tür. »Fahrt nach Hause, den Rest schaffe ich schon.«
»Bist du dir ganz sicher?«
»Ja.«
»Und bleibt es dabei, dass du die Mageía Mésa aufsuchen willst?«
»Noch mal Ja.«
»Okay. Dann sehen wir uns morgen. Wann sollen wir vorbeikommen?«
»Wenn ihr irgendwas mit Koffein mitbringt, ist mir die Uhrzeit egal. Und denkt an die Feder.«
»Geht klar.«
Ich öffnete die Haustür, winkte Nick nur kurz zu, ehe ich ihm Rya in die Arme drückte. »Pass gut auf sie auf«, warnte ich ihn und schmiss die Tür zu. Die beiden lachten leise, als sie sich entfernten.
Ich lehnte meine Stirn gegen das Holz. Ein paar Sekunden verharrte ich dort, ehe ich die Stille nicht mehr aushielt. Im Wohnzimmer ließ ich mich in die Kissen fallen.
Was, bei allen Göttern, war heute hier geschehen? Es musste eine logische Erklärung geben. Die gab es immer. Selbst in einer Welt, in der Magie existierte. Nur würde ich sie mit Sicherheit nicht allein finden. Aber mit der Suche anfangen, das konnte ich auch allein.
Ehe es mir zu gemütlich wurde, stemmte ich mich hoch. Ich nahm mir die Kiste mit den kläglichen Überresten meines magischen Netzes und ging in den ersten Stock. Auf der anderen Seite des Flurs öffnete ich die Tür, die zu meinem Arbeitszimmer führte. Wobei ich den Raum viel lieber als Bibliothek bezeichnete, obwohl er mit einer solchen nicht viel gemeinsam hatte, außer dass sich in jeder Ecke, auf jedem Regalfach und auch auf den Fensterbrettern Bücher, Folianten und Papyrusrollen stapelten. Hier lag alles kreuz und quer – Fachliteratur, Belletristik, Comics und was die Buchhandlungen meines Vertrauens noch so auf Lager hatten. Einen Teil des Bestandes dürfte es allerdings eigentlich gar nicht geben. Zumindest nicht in meiner Wohnung … aber wenn die Mageía Mésa so schlecht auf ihre Unterlagen achteten, riefen sie doch quasi dazu auf, dass man sich diverse Dokumente auslieh. Ich würde jedes einzelne Blatt Papier zurück an Ort und Stelle bringen, sobald ich es studiert hatte. Angesichts der noch ausstehenden Berge ein langwieriges Unterfangen, doch es gab fast nichts Schöneres, als sich zwischen den Buchstaben zu verkriechen.
Ich stellte die Kiste unter den Schreibtisch. In einer ruhigen Minute würde ich die Sachen sichten, und dann noch mal überlegen, was ich damit machen sollte. Mein Blick glitt über die Regale. Ein paar der hier verstauten Bücher handelten von mystischen Wesen, vielleicht war eines davon hilfreich. Ich suchte sie zusammen und packte sie auf einen Stapel auf dem Tisch. Einige Titel waren mit Zaubersprüchen belegt, sodass nur eine Mágissa sie würde öffnen können. Hoffentlich reichte meine Macht aus, um diese Hürde zu überwinden.
Ich vermied es, die Tür zum Nebenraum zu betrachten. Zu viel Schmerz lauerte dahinter, zu viele Erinnerungen. Selbst nach all den Jahren bildete ich mir ein, dass sie jeden Moment unter dem Türspalt hindurchsickern könnten.
Um mich abzulenken, griff ich nach dem ersten Buch und blätterte darin herum. Wesen aller Arten und Herkunftsorte waren auf die Seiten gebannt worden, manche so realistisch, dass ich fürchtete, sie würden mir gleich entgegenspringen. Die Ischyró Mágo behauptete immer, dass außer den Gorgonen keine Kreaturen aus der alten Welt, wie sie es nannte, in der heutigen Zeit noch existierten. Sie waren allesamt vernichtet worden. Angeblich. Doch wer konnte schon sagen, ob sich nicht doch etwas in den Schatten verbarg, die es überall auf der Welt gab? Wieso sollten wir die einzigen verbliebenen Träger eines mythischen Erbes sein? Das war anmaßend. Arrogant. Und die Feder möglicherweise ein erster Kratzer in unserem Ego.
Denn auch wenn ich nicht viel hatte spüren können, so war ich mir sicher, dass diese Feder zu etwas Lebendigem gehörte und nicht künstlich erschaffen worden war. Und die Tatsache, dass ich diese Musik gehört und mir bis dahin ungeahnte Kräfte entwickelt hatte, sprach ebenfalls dafür, dass es nichts Stinknormales war.
Eine gute Stunde überflog ich die Seiten der Bücher, die ich zu meiner Freude alle öffnen konnte. Ein paar geflügelte Wesen stachen mir ins Auge und ich notierte sie auf einem Blatt Papier. Bei keinem waren die Federn derart gefärbt wie bei dem Exemplar, das die anderen mir gebracht hatten. Das mochte jedoch eine neuere Erscheinung sein und deswegen sortierte ich zunächst nichts aus, was von der Körpergröße her passte. Die Liste würde ich mit zu den Mageía Mésa nehmen und sie dazu befragen.
Meine Augen brannten, und als ich mir mit dem Ärmel meines Pullovers übers Gesicht wischte, musste ich husten, als der Gestank von Rauch mir in Nase und Rachen stieg. Als hätte ich den Abend in einer übelsten Spelunke verbracht, in der allerhand gequalmt wurde und dazu noch ein Kaminfeuer brannte. Widerlich.
Zum zweiten Mal innerhalb eines Tages ließ ich mir ein Bad ein. Während das Wasser die Wanne füllte, schälte ich mich aus den Klamotten und stopfte sie in den Wäschekorb. Den hatte ich früher nie gebraucht, jetzt suchte ich ab und an einen Waschsalon auf, damit ich mir nicht alle paar Tage neue Klamotten kaufen musste.
Haushalt.
Das Wort hatte es in meinem Sprachgebrauch lange nicht gegeben. Nun war es eines, das ich leise fluchte, wenn ich die dazugehörigen Arbeiten erledigte. Mehr schlecht als recht, aber es reichte. Sobald ich die Kontrolle über meine Magie zurückhatte, würde sich das ändern.
Wenn.
Falls.
Während das Wasser rauschend in die Wanne floss, betrachtete ich erneut meine Hände. Ich rieb die Fingerspitzen aneinander und versuchte, mich an das Gefühl zu erinnern, wenn die prickelnde Magie durch sie floss. Jene Magie, die mir vertraut war, nicht diese unbändige Macht, die heute durch meine Adern geflossen war. Doch es fiel mir schwer. Wie das Atmen, war das Wirken meiner Gabe ein Reflex gewesen, auf den ich nicht weiter geachtet hatte. Etwas, was ich beherrschte, ohne darüber nachzudenken. Und heute half mir keinerlei Grübeln dabei, wieder einen Funken Magie aus mir zu locken.
Hoffentlich hatte Hekate recht. Hoffentlich würde ich mich erneut anpassen können.
Ich sah aus dem Badfenster nach draußen. Der Mond, eines ihrer Wahrzeichen, hing strahlend hell am Nachthimmel, nur ein kleiner Teil hing noch im Erdschatten. Noch deutete nichts darauf hin, dass er uns in knapp drei Wochen, am Jahrestag der Gründung Laginas, ein Schauspiel liefern würde. Er würde sich in den Super-Blau-Blutmond verwandeln. Dahinter steckte eine Mondfinsternis, gepaart mit einem Supermond und dem zweiten Vollmond in einem Monat. Jedes für sich waren diese Spektakel nicht selten, aber diese Kombination an genau diesem Tag – das gab es nur ein Mal in einem Jahrtausend.
Ich öffnete das Fenster und ließ das Licht herein, in der Hoffnung, dass seine Magie ein wenig auf mich abfärbte.
Nachdem ich allerlei Steine, Blätter und Badesalze im Wasser versenkt hatte, ließ ich mich hineingleiten. Vermutlich würde ich acht Mal am Tag baden können, ohne dass ich dessen überdrüssig wurde.
Seufzend ließ ich mich treiben und wusch mir den Gestank vom Körper. Ich rieb mir über die Arme, die Schultern, die …
Mein Blick fiel auf meine Brust. Genauer gesagt, das Tattoo.
Die Farbe der Motte hatte sich verändert.