Читать книгу Magie aus Tod und Kupfer - Lisa Rosenbecker - Страница 8
Kapitel Zwei
ОглавлениеIm Wohnzimmer warf ich mich auf den mit Kissen bedeckten Boden. Von dem Chaos, das Rya mit ihrer Wassermagie vor einigen Monaten angerichtet hatte, war nichts mehr zu sehen. Das verdankte ich Nick, Linos und Xanthos, die nach Ryas Versteinerung tatkräftig angepackt und aufgeräumt hatten. Bereits damals, noch bevor ich meine Magie geopfert hatte, war mir das Zaubern schwergefallen. Als Rya zur Statue erstarrt und ich davon überzeugt gewesen war, nie wieder mit ihr reden zu können … Das hatte Erinnerungen hervorgerufen, die mich jedes Mal überwältigten, egal wie lange sie schon zurücklagen.
Wieder glitt meine Hand zum Hals, wieder griff ich ins Leere. Ich hätte mich nicht als materialistisch bezeichnet, aber dass eine Kette mir so sehr fehlte …
Du vermisst nicht die Kette, Ilena.
Super, jetzt verhöhnte ich mich schon selbst. Ich rappelte mich auf und ging in die Küche, um mir zu entkommen. Das war unmöglich, aber eine Beschäftigung würde mir dabei helfen, die düsteren Gedanken zu kontrollieren. Ich wollte nicht in dieses Loch fallen, nicht schon wieder. Doch dann erinnerte ich mich an den letzten gescheiterten Kochversuch und mein Magen grummelte warnend. Das Essen war ein Desaster gewesen. Ich hatte mich dafür bisher immer auf Magie verlassen, das war nun das Resultat. Ich versagte beim Kochen. Zauber entsprechend einer Anleitung durchzuführen war überhaupt kein Problem, aber ein Gericht nach Rezept zuzubereiten? Ich scheiterte jedes Mal kläglich daran. Schulterzuckend schob ich eine Tiefkühlpizza in den Ofen. Früher wäre das undenkbar gewesen, da die technischen Geräte der Menschen sich nicht mit meiner starken Magie vertrugen und mit Aussetzern und Kurzschlüssen reagiert hatten. Doch seit Athenes Fluch gebrochen worden war, hatte sich einiges verändert. Nicht nur ich.
Während die Pizza aufbackte, räumte ich die Küche auf und checkte meine Vorräte. Einkaufen gehen musste ich in nächster Zeit zum Glück nicht. Zehn Minuten später war das Essen fertig. Ich machte es mir im Wohnzimmer gemütlich und …
Plötzlich fühlte ich die erwachende Präsenz einer fremden, mächtigen Magie. Das bisschen, was noch in mir lebte, reagierte darauf mit einem Kribbeln. Vergessen war der Hunger und ich sprang auf, gerade in dem Moment, als sie sich lautlos vor mir manifestierte.
Hekate.
Ich hielt den Atem an. Das letzte Mal, als wir uns begegnet waren, war sie in der Gestalt von Mágissa Ora gewesen, eine Verkleidung, die dazu gedient hatte, sich in Athenes Spiel mit den Gorgonen und dem Perseus-Orden einzumischen. Doch ihre Augen verrieten sie, ebenso ihre fast schon leuchtende Aura, die in ihrer wahren Gestalt noch schöner wirkte. Das lange dunkelbraune Haar umspielte weich ihre Schultern und die Brust, es reichte fast bis an die Hüfte und den goldenen Gürtel, den sie zu der purpurvioletten Toga trug. Der Stoff schimmerte und umspielte ihre dünnen Beine. Auf dem Kopf, den sie leicht zur Seite neigte, thronte ein filigranes und scharfkantiges Diadem aus Gold mit einem Halbmond in der Mitte. Sie machte einen Schritt auf mich zu und ihre nackten Füße sanken in die Kissen ein, die den Boden bedeckten.
»Hekate«, presste ich hervor und verneigte mich schnell. Meine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen. Die Göttin der Magie blickte mich an und wartete darauf, dass ich weitersprach. Doch meine Lippen waren vor Überraschung wie versiegelt.
»Bei unserer letzten Unterhaltung warst du weitaus gesprächiger«, sagte sie und schmunzelte.
Ein zaghaftes Lächeln legte sich auf meine Lippen und ich nahm all meinen Mut zusammen. »Damals stand ich unter Zeitdruck, es ging um Leben und Tod. Außerdem habe ich mir vorgestellt, dass Ihr nicht Hekate seid, weil ich sonst sicherlich kein einziges Wort herausgebracht hätte.«
Ihre violettblauen Augen fixierten mich. »Und du wolltest einer Freundin helfen, nicht dir selbst. Das macht uns oft mutiger, als wir es uns zutrauen.«
Ich nickte nur.
Hekate strich sich die Haare über die Schultern und sah sich um. Ihr Blick fiel auf die vollen Regale, die ohne das Zutun meiner Magie leblos wirkten. Nichts blubberte, glimmerte oder regte sich. Sie wandte sich den Schnüren zu, die sich nur noch im hinteren Teil des Raumes durch die Luft spannten, nicht mehr durch das ganze Wohnzimmer. Ohne zu wanken, schritt sie über die Kissen darauf zu. Sie griff nach einem Papier, das ich mit einer Klammer an dem Faden befestigt hatte, dann nach einem Bund Kräuter. Schließlich berührte sie mit dem Finger die Schnur. Ich meinte, sie selbst fühlen zu können, ihre Macht an meiner, doch einen Lidschlag später verschwand dieses Gefühl.
Hekate war hier. Die Göttin. Meine Göttin. Und ich brachte kein weiteres Wort heraus. Als würde sie meine Unsicherheit spüren, drehte sie sich um. Ihr Kleid widerstand der Schwerkraft und wallte wie in Zeitlupe um ihre Beine. Auch ihre Haare trotzten allen irdischen Regeln und schienen immer in Bewegung zu sein.
»Man hat heute versucht, an dir erneut die Berufung durchzuführen«, sagte sie, ohne dass ihre Stimme verriet, was sie darüber dachte. Das Blitzen ihrer Augen zeugte von schlichter Neugierde. Ich zupfte meinen Pullover zurecht, um ein paar Sekunden Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Hekate wartete geduldig, musterte mich genauestens. Ihr Blick glitt an mir herab, ehe sie mir wieder direkt in die Augen sah. Ich reckte das Kinn und ihr Mund verzog sich zu einem fast unscheinbaren Grinsen.
»Die Ischyró Mágo wollte etwas versuchen. Es war töricht. Bitte verzeiht uns.«
Hekate machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du musst dich nicht entschuldigen. Es ist nur natürlich, dass du deine Macht vermisst und eine Mágissa dir helfen möchte. Doch es wird nichts nützen. Magie, die du einmal freiwillig verschenkt oder von dir gewiesen hast, ist für immer verloren. Die Regeln des Olymps verbieten es mir, demselben Menschen zweimal das Geschenk der Magie zu machen, und nach der Sache mit Athenes Fluch wird das Handeln aller Götter streng überwacht. Nephele weiß das, aber ihre Hoffnung in dich – und mich – ist wohl sehr groß. Leider musste ich euch beide enttäuschen.«
»Es bedeutet nicht, dass ich nicht mehr in Eurer Gunst stehe?« Mein Herz klopfte schneller.
»Nein. Ich kann Magie nur verschenken; was eine Mágissa daraus macht, vermag ich nicht zu beeinflussen. Deine Entscheidung hat großen Mut erfordert, und das bewundere ich. Ich selbst wäre vermutlich nicht so weit gegangen.«
Erleichtert atme ich auf. »Danke«, antwortete ich. »Das bedeutet mir sehr viel.«
Langsam kam Hekate auf mich zu. Ich zuckte nicht zurück, als sie eine Hand ausstreckte und mir eine Strähne hinters Ohr strich. Sie fuhr mit dem Daumen über das letzte golden schimmernde Mal auf meiner Stirn. Unter ihrer Berührung glomm die Magie auf, ihr leiser Puls erwachte, doch es war nichts im Vergleich zu früher.
»Es ehrt dich, dass du Ryas Leben gerettet hast«, sagte die Göttin und senkte den Kopf in einer Geste der Anerkennung.
»Ich habe mich auf meine Instinkte verlassen«, erwiderte ich.
Sie nickte und zog die Hand zurück. »Wie man es von einer Mágissa erwartet. Selbst wenn der Preis dafür hoch ist. Du bist weiterhin eine meiner Auserwählten, vergiss das nicht. Du musst lernen, mit der übrigen Magie umzugehen. Passe dich ihr an, bring deine Emotionen unter Kontrolle. Dann wirst du wieder Zauber wirken können.«
»Ist das wirklich möglich?«
»Nach deiner Berufung hast du dich schon einmal mit ihr arrangiert. Die jetzige Situation ist nicht anders. Hör auf deine Instinkte. Mit etwas Geduld und starkem Willen schaffst du es.«
Mein Herz wurde leichter, ich atmete durch und vergaß wieder für eine Sekunde, dass Medeas Kette nicht mehr um meinen Hals hing und griff danach. Hekate folgte der Bewegung mit ihrem Blick und presste die Lippen fest aufeinander, als ich meine Finger in den Stoff des Pullovers bohrte.
Ihre Miene wirkte traurig und sie neigte den Kopf zur Seite. Sie strich mir über die Wange, ihre Magie hüllte mich ein wie eine Umarmung. »Sieh nach vorn und verfolge dein Ziel. Lass es nie aus den Augen.«
»Ich danke Euch.«
Und dann war sie weg. Ohne ein weiteres Wort. Ich taumelte einen Schritt zurück und stützte mich am Tisch ab. Unterschiedlichste Emotionen überrollten mich. Erleichterung. Freude. Ehrfurcht. Und der kleinste Funken Hoffnung. Denn wenn die Göttin der Magie der Meinung war, dass sie ihre Gabe an mich nicht verschwendet hatte, musste doch etwas dran sein.
Ein halb freudiges, halb hysterisches Lachen stieß aus meiner Kehle hervor, als mir die Dimension dieser Begegnung bewusst wurde. Hätte ich vor ihr auf die Knie gehen sollen? In all den Jahren der Ausbildung war nie ein Wort darüber gefallen, welches Verhalten einer Göttin gegenüber angebracht war. Offenbar war niemand davon ausgegangen, dass sie sich dazu herablassen würde, sich jemandem außerhalb des Zirkels zu zeigen. Und nun war ich ihr, wenn man die Gelegenheiten aus der Vergangenheit dazuzählte, bereits drei Mal begegnet. Und ich hatte mich nie besonders ehrfürchtig verhalten.
Mehr Glück als Verstand, lautete wohl die Devise dahinter.
Sie war also noch da, meine Magie. Doch anscheinend stellte nicht sie das Problem dar, sondern ich und meine Emotionen.
Die Pizza war mittlerweile lauwarm, der Hunger erloschen. Ich stieß mich vom Tisch ab und ging zu den Schnüren, die Hekate vorhin berührt hatte. Ich duckte mich unter dem Labyrinth hindurch und setzte mich in die Mitte des Netzes auf den Boden. Mitten ins Herz. Ich hob den Blick und betrachte all die Dinge, die ich an den Fäden befestigt hatte. Pflanzenbüschel, Kristalle, Papiere und allerlei andere magische Utensilien waren darin verwoben. Möglicherweise war darunter etwas, das mir mit den Emotionen helfen konnte.
Ich schloss die Augen und überließ meinem Instinkt die Kontrolle.
Ich legte die Hände auf die Knie und horchte in mich hinein. Das Wohnzimmer lag still da, als würde es den Atem anhalten, nur mein eigener Herzschlag leistete mir Gesellschaft. Und das schwache Kribbeln der Magie, ausgelöst durch Hekates Impuls. Die wahre Gestalt meiner Zauberkraft kannte ich nicht, ich stellte sie mir wie eine flimmernde bunte Sphäre vor. Ihr Grundton war lavendelfarben, dazwischen funkelten blassgelbe Punkte wie Sterne. Seit ich nur einen Bruchteil meiner Kraft besaß, waren die Farben vor meinem inneren Auge verblasst, die hellen Lichter nahezu erloschen.
Trotzdem hielt ich daran fest, streckte meine Sinne aus. Doch die Magie reagierte nicht.
Ich öffnete die Augen und sackte in mich zusammen, als das Netz über mir nicht leuchtete, so wie ich es mir erhofft hatte. Nein, die Magie schwieg nach wie vor. Es brauchte Geduld, hatte Hekate gesagt. Das war noch nie eine meiner Stärken gewesen.
Meine Schultern meldeten sich schmerzhaft. Ich versuchte, sie zu lockern, doch es half nichts. Keine Ahnung, ob es eine Sache der Haltung oder Stresssymptome waren, es nervte jedenfalls. Seit Wochen plagten brennende Schmerzen meine Muskeln und nichts half. Ich hätte eine andere Mágissa um Hilfe bitten können, aber da kaum jemand gut auf mich zu sprechen war, fiel das flach. Ein altmodisches Hilfsmittel musste her, das zumindest vorübergehend Linderung verschaffte.
Ich ließ mir ein Bad ein. Der stetig steigende Wasserpegel erinnerte mich an meine Begegnung mit der Ischyró Mágo und an das Mondbecken im Tempel. Damit verbunden waren die Erinnerungen an Medea …
Ich fuhr herum und starrte in den Spiegel, während die Wanne hinter mir plätschernd volllief. Mit dem Finger deutete ich auf das müde Gesicht, das mir entgegenblickte.
»Stell dich nicht so an!« Mein Spiegelbild taxierte mich mit einem bösen Blick. Die Schatten unter den Augen waren mir mittlerweile vertraut, doch der Anblick des letzten goldenen Symbols auf der Stirn war jedes Mal ein kleiner Schock. Einerseits zeigte es den Mut auf, den es brauchte, um fast alle Macht aufzugeben, andererseits war es ein Zeichen meiner Feigheit. Ich hätte Rya alles geben können, hatte mich aber nicht getraut.
Dieses Symbol sowie die Magiereste in meinem Brusttattoo hatte ich behalten, um mich nicht selbst zu verlieren. Was letzten Endes trotzdem geschehen war.
Ich streifte die Klamotten ab und drehte den Wasserhahn zu. Mit gezielten Bewegungen griff ich nach ein paar Edelsteinen und Kräutern am Wannenrand und ließ sie ins Wasser gleiten. Dann stieg ich hinterher und seufzte wohlig auf, als die Wärme mich bedeckte. Der frische Duft von Eukalyptus stimulierte meine Sinne und fuhr mir belebend in die Nase. Ein Wechselspiel aus Hitze und Kälte entwickelte sich und rüttelte meine Zellen wach. Wie erhofft, entspannten sich meine Muskeln, doch mir war bewusst, dass diese Erleichterung nur von kurzer Dauer war.
Mit den Zehen schob ich einen der Edelsteine unter Wasser hin und her. Ein Buch wäre zur Ablenkung nicht schlecht gewesen. Ich richtete mich auf und betrachtete das Tattoo des Nachtfalters unterhalb meines Brustkorbs.
Es gehörte schon so lange zu mir, dass ich es gar nicht mehr als fremd wahrnahm. Es war ein Teil von mir, ein Teil meiner Geschichte. Der traurigen Seite davon.
Motten, wie diese kleinen Tiere auch genannt wurden, hatten viele Bedeutungen. Unter anderem symbolisierten sie Veränderungen, Transformationen und neue Richtungen.
Medea hatte die Idee dazu damals im dritten Jahr unserer Ausbildung gehabt. Wir hatten gerade die Prüfung zur nächsten Novizinnen-Stufe abgelegt und wollten unseren Erfolg gebührend feiern. Den Zauber hatte ich mir bei dem Schlangentattoo für die Gorgonen abgeschaut, Medea besorgte die Zutaten. Es war verboten, weswegen wir niemals jemandem davon erzählt hatten.
Mageía apó Aíma, Meláni kai Téfra. Magie aus Blut, Tinte und Asche war in den Zauber und uns geflossen. Medeas Nachtfalter war hellbraun gewesen, die kleinen Monde darauf ockerfarben.
Damals hatte uns die Welt zu Füßen gelegen. Bis sie wenig später zerbrach.
Wie um mich an dieses Gefühl zu erinnern und gleichzeitig den Schmerz zu vertreiben, strich ich über die lavendelfarbenen, mit hellgelben Mondsicheln verzierten Flügel der Motte und ihren Rücken mit der Totenkopf-Musterung. Anschließend sank ich unter Wasser und fuhr mir durch die Haare. Als ich wieder auftauchte, lehnte ich den Kopf auf den Wannenrand und versuchte, meine Gedanken zu klären. Ich stellte mir einen Schwarm voller wunderschöner, flauschiger Motten vor, der durch das Badezimmer flog. Eine nach der anderen zählte ich sie und endlich, endlich gab mein Körper sich der Entspannung hin.
Dann klingelte es an der Haustür.