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Kapitel Fünf

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So gut es ging, stützte ich mich mit beiden Händen am Wannenrand ab und drückte mich hoch.

Auch die freie Sicht auf die Motte änderte nichts an der Tatsache, dass deren Farbe gewechselt hatte. Es war keine optische Täuschung, keine Verzerrung durch das Wasser oder die Badezusätze.

Die Flügel der Motte waren nicht mehr lavendelfarben, sie strahlten nun in einem dunklen Kupferton. Wunderschön, und ebenso beängstigend. So schnell wie möglich, aber langsam genug, um nicht vornüber auszurutschen, stieg ich aus der Wanne und lief ins Schlafzimmer, eine Spur aus Tropfen hinterlassend. Ich stellte mich vor den Wandspiegel und betrachtete das Tattoo in Gänze. Es hatte sich wahrhaftig verfärbt. Mein Brustkorb bebte, als mein Puls sich beschleunigte. Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Ich strich mir die nassen Strähnen aus der Stirn und atmete tief ein und aus, bis ich nicht mehr das Gefühl hatte, mein Herz würde mir gleich durch die Rippen springen.

Mit zitternden Fingern tastete ich das Bild unter meiner Haut ab. Es fühlte sich an wie immer, nicht mehr oder weniger erhaben. Mit dem Daumen rieb ich etwas fester über eine Stelle, doch auch das änderte nichts an der Farbe oder Beschaffenheit. Die Mondsichel und der Kristall waren wie zuvor, ebenso die Musterung der Motte. Nur die Färbung nicht.

Ich betrachtete mein Spiegelbild.

»Was hast du jetzt schon wieder angestellt?«

Die Nacht war reine Folter. Meine Gedanken waren ein pulsierendes Wirrwarr, das mich immer wieder aus dem Schlaf riss, wenn ich gerade dabei war, wegzudämmern. Jedes Mal wurde ich mit hämmerndem Herzen und rasselndem Atem zurück in die Realität geholt und fuhr hoch. Jedes Mal fluchte ich laut, schlug auf mein Kissen ein und ließ mich auf die Matratze sinken. Doch das Spiel wiederholte sich, bis ich einsah, dass ich nicht würde gewinnen können.

Mit brennenden Augen und fürchterlichen Kopfschmerzen trat ich den Rückzug ins Wohnzimmer an. Ich entzündete ein paar Kerzen und machte es mir mit einem Buch aus meinem Arbeitszimmer auf den Kissen gemütlich. Die Zeilen flogen an mir vorbei, ohne dass ich ihren Sinn verstand, doch mein Geist war beschäftigt und verhielt sich still. Von all den Informationen überschüttet, gönnte er mir einen Moment Ruhe, und zum Morgengrauen hin kam ich zu etwas Schlaf.

Als auch der jäh durch ein Klingeln unterbrochen wurde, stand ich entnervt auf. Ich war eine wandelnde Katastrophe auf zwei Beinen. Dass ich auch so aussehen musste, zeigte mir Ryas Reaktion, als ich die Tür öffnete.

Sie riss die Augen auf und ihr wären fast zwei Kaffeebecher aus der Hand gefallen. »Was ist denn mit dir passiert?«

Erst da entdeckte ich Nick und Xanthos. Meine Sicht war verschwommen und erst nach mehrmaligem Blinzeln konnte ich sie vom Hintergrund unterscheiden. Silberne Stickereien auf ihren dunkelblauen Pullovern funkelten im fahlen Licht des anbrechenden Tages. Zu genau wollte ich gar nicht hinsehen, denn Xanthos zog eine Augenbraue hoch, während Nicks Ausdruck irgendwo zwischen Mitleid und Belustigung lag. Für einen Schlagabtausch fehlte mir die Energie. Die beiden Krieger sagten irgendetwas, ich blendete es aus. Mein Hirn hatte noch nicht so viele Kapazitäten frei.

Ich schüttelte den Kopf, gähnte und winkte sie herein. Der Duft von Kaffee umwehte Rya und mein Magen grummelte. Lächelnd hielt sie mir einen der Becher entgegen und ich nahm ihn mit einem Grunzen an mich.

»Danke.« Schlurfend lief ich ins Wohnzimmer voraus. Ich nahm einen Schluck aus dem Becher und – bei den Göttern – Koffein war das Ambrosia der Menschheit. Der Kaffee war schwarz und stark, und ich fühlte mich nicht mehr ganz so tot. »Danke«, sagte ich erneut, diesmal mit mehr Kraft in der Stimme.

Plötzlich war Xanthos neben mir. Er griff nach meinem Kinn und klemmte es zwischen seinem Daumen und Zeigefinger ein. Mit sanftem, aber unnachgiebigem Druck brachte er mich dazu, ihn anzusehen.

»Was ist los?«

Ich zog den Kopf zurück. Nur widerwillig ließ er mich los, das Blau seiner Iriden strahlte vor Kälte. »Nichts, worum du dir Sorgen machen müsstest«, erwiderte ich. »Sag mir lieber, wie es dir geht.«

»Gut«, murmelte er und sah mich an, als hätte ich ihm etwas getan. So eine Reaktion hätte ich gestern erwartet. Aber heute? Ich schüttelte den Kopf.

Wortlos übergab er mir ein zusammengelegtes Kleidungsstück. Es war dasselbe, was die drei trugen. Das Oberteil gehörte zu der Ausrüstung des Perseus-Ordens, es schützte den Träger vor Waffenangriffen und überzog ihn gleichzeitig mit einem magischen Schleier, der ihn vor den Augen anderer Menschen versteckte. Ein Relikt aus Kriegszeiten, die doch noch nicht hinter uns zu liegen schienen. Ich nahm das Bündel entgegen.

»Hilfst du mir beim Umziehen, Rya?«

Sie betrachtete mich skeptisch, dann ging ihr auf, was ich von ihr wollte. Sie nickte und folgte mir nach oben in mein Schlafzimmer. Während ich die Tür hinter uns schloss, setzte sie sich auf mein Bett.

»Geht es Xanthos wirklich gut?«, fragte ich und stellte den Kaffeebecher auf die Kommode.

»Ja. Er hat die ganze Nacht geschlafen wie ein Stein. Aber das ist nicht das, weshalb du mich hierhaben wolltest, oder?«

»Nein.« Ich zog mir erst meinen Pullover, dann mein T-Shirt über den Kopf und warf beides auf einen Stuhl neben dem Bett. »Es geht um das hier.« Ich deutete auf mein Tattoo, das man trotz des BHs gut sah.

Rya musterte es interessiert. Sie wollte etwas sagen, doch dann hielt sie inne. Ein trauriger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht und ich wusste genau, woher dieser rührte. Ich biss mir auf die Lippe, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Rya vermisste Amaris sehr und mein Tattoo erinnerte sie daran, dass sie nicht mehr da war.

Rya rang sich ein Lächeln ab. »Es ist wirklich schön. Oder sie? Oder er?«

Ich winkte ab. »Die Motte kann nicht lebendig werden. Es ist nur ein Tattoo. Ein magisches zwar, aber nichts im Vergleich zu euren. Das Problem ist nur … die Farbe hat sich verändert.«

»Oh. Wann? Gestern?«

Ich nickte. »Das ist kein Zufall, oder? Könnte es eine andere Erklärung geben?«

Rya legte den Kopf schief, betrachtete die Motte. »Amaris und die anderen Schlangen haben ihre Farbe gewechselt, wenn wir sehr starke Emotionen hatten. Das war immer nur vorübergehend. Ansonsten hatten sie die Farbe, die am ehesten zu uns passte. Fühlst du dich seit gestern anders?«

»Nein. Ich meine, ich bin leicht verwirrt wegen dieser ganzen Sache mit der Feder, aber grundsätzlich fühle ich mich nicht besser oder schlechter als sonst.«

»Welche Farbe hatte sie vorher?«

»Lavendel.«

»Passt zu dir. Kupfer irgendwie auch.«

»Okay. Danke.«

»Ich war ja nicht wirklich eine Hilfe.«

»Du hast mir zugehört, das …«

Die Tür wurde aufgerissen und Xanthos stürmte herein. Hinter ihm eilte Nick ins Zimmer und versuchte, ihn am Arm zurückzu­halten. Doch vergeblich, der Krieger war zu sehr in Rage, um darauf zu achten. Zielsicher deutete er mit dem Finger auf mich, als ich herumwirbelte. Rya sprang auf und stellte sich neben mich, als er zu zetern anfing.

»Hör zu, ich habe keine Lust mehr auf diese Spielchen. Wenn etwas passiert ist, will ich es wissen«, donnerte er. »Ich habe genug von Lügen und …«

Sein Blick fiel auf mein Dekolleté. Er stockte, ließ den Arm aber nicht sinken. Nick sah Hilfe suchend zu Rya neben mir.

»Raus hier«, zischte ich. Ich schämte mich nicht, aber ich konnte es nicht ausstehen, wenn jemand Grenzen nicht respektierte.

»Was ist los?«, fragte Xanthos, seine Stimme rau vor unterdrückter Wut und noch etwas anderem, was seine Augen dunkel werden ließ. Rya schob sich vor mich, Nick stellte sich Xanthos in den Weg.

»Wir sollten in Ruhe darüber reden, Xanthos.«

Dessen Blick bohrte sich in den von Nick. »Weißt du auch Bescheid?« Wir alle hörten sie, die unterschwellige Drohung, die in diesen Worten mitschwang. Nicks Schultern versteiften sich, er reckte das Kinn. Die beiden ehemaligen Krieger standen sich gegenüber, fast Nase an Nase, die Spannung in der Luft war kurz vor dem Zerreißen.

»Lass uns runtergehen«, bat Nick, hörbar um einen ruhigen Ton bemüht. Doch Xanthos schnaubte nur. Was bitte passte ihm nun denn nicht? Ich hatte wirklich geglaubt, dass er sich geändert hatte und nicht mehr der impulsive Berserker von früher war.

Ich atmete tief durch. »Ich sage es nur noch ein Mal. Raus hier.« Xanthos trat einen Schritt zur Seite, seine Kiefermuskeln zuckten vor Anspannung. Über Nicks Schulter hinweg warf er mir einen bittenden Blick zu. Hitze wallte in mir auf, als meine Wut zu kochen begann. Rya drehte sich erschrocken zu mir um. Sie riss die Augen auf.

»Xanthos, verschwinde!«, befahl sie ihm. »Ilena, du musst dich beruhigen!«

»Ich soll mich beruhigen?«, keifte ich. »Er ist doch hier reingestürmt und …«

Rya packte mich am Arm. »Du musst dich beruhigen.«

Ich wollte widersprechen und mich aufregen, als ich es bemerkte. Das Kribbeln in meinen Fingern, das heiße Prickeln in meinen Handflächen. Ich sah hinunter. Oh, verdammt. In meinen Händen bildeten sich helle Lichtflecken, die mich blendeten. Sie wuchsen stetig an, ich spürte ihren Puls auf meiner Haut. Schweiß bildete sich in meinem Nacken. Die Magie entzog sich meiner Kontrolle. Xanthos bemerkte es. Er wollte Nick zur Seite drücken, doch sowohl Rya als auch Nick stellten sich ihm erneut in den Weg.

»Ich will ihr helfen«, zischte Xanthos.

Die Lichtkugeln in meinen Händen wuchsen immer weiter an. Lange würde ich sie nicht mehr halten können.

»Ihr solltet alle gehen«, krächzte ich. »Jetzt.« Nick und Rya zögerten nicht lange, sie schoben Xanthos, der endlich nachgab, aus dem Zimmer. Ihre Schritte auf der Treppe verhallten, während das Schlagen meines Herzens immer lauter wurde. Ich schloss die Augen, suchte nach innerer Ruhe, doch da war nichts.

Ich stieß einen Laut der Verzweiflung aus, als ich die Magie nicht mehr halten konnte. Ich richtete meine Hände auf das Fenster und das Licht explodierte. Licht, Feuer und Funken sprühten aus meinen Fingerspitzen hervor und schossen auf das Glas zu. Die Fensterscheibe zersprang, der Vorhang fing Feuer. Von dem Rückstoß schwankte ich und konnte mich noch am Bett festhalten, ehe ich hintenübergekippt wäre. Sobald die Magie frei war, erlosch das Prickeln meiner Finger. Dafür brannte der Vorhang lichterloh. Ich stolperte, als ich zur Tür rannte. Rya kam mir bereits auf der Treppe entgegen und stürmte an mir vorbei in mein Zimmer. Blinzelnd hielt ich inne, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und lief ihr hinterher. Der Rauch quoll bereits aus dem Zimmer hervor, ich hielt mir eine Hand vor den Mund.

Rya hingegen stellte sich dem Feuer breitbeinig entgegen und hob die Arme. Aus dem Badezimmer war ein Knacken zu hören, dann ein metallisches Scheppern, als wäre etwas Großes auf den Boden gefallen. Dann rauschte es.

Im nächsten Augenblick strömte das Wasser auf uns zu. Nein. Es flog. Ich duckte mich gerade noch rechtzeitig, als es auch schon über mich hinwegsauste, sich in Ryas Rücken teilte, nur um dann auf der anderen Seite wieder zusammenzulaufen und auf das Feuer einzuprasseln. Die Flammen kämpften, wehrten sich gegen den Feind, doch dann gaben sie sich mit einem Zischen geschlagen. Als Rya die Arme sinken ließ, blieben nur noch qualmende Fetzen des Vorhangs zurück. Auch Teile der Tapete und des Bodens waren angekokelt, ohne Rya hätte es weitaus schlimmer geendet. Rauch, Qualm und Asche waberten durch die Luft und durch das zerstörte Fenster hinaus in den Garten.

Im Bad plätscherte das Wasser weiter munter vor sich hin.

»Nicht schon wieder«, murmelte ich. Dann setzte die Erleichterung ein und ich musste lachen. So sehr, dass ich mir den Bauch hielt und nicht mehr stehen konnte. Ich lehnte mich an den Tür­rahmen, ließ mich daran herabgleiten und lachte aus vollem Hals. Rya, die zunächst nicht wusste, wie sie reagieren sollte, stieg letzten Endes doch mit ein. Es überraschte mich zunächst, dass die Männer sich nicht blicken ließen, doch ich hätte mich vermutlich auch von zwei möglicherweise verrückten, zumindest teilweise magisch begabten Frauen ferngehalten.

Rya rang nach Atem, als das Gelächter verklang. »Ich bringe es sofort in Ordnung.« Sie verließ das Schlafzimmer, um ins Bad zu gehen. Auf dem Weg dahin rief sie nach Nick, vermutlich weil er bereits beim letzten Unfall Erfahrungen in Sachen Handwerkskunst gesammelt hatte. Anfangs war er keine große Hilfe gewesen, aber mit der Zeit hatte er den Dreh rausbekommen. Der Krieger erschien auf der Treppe und zog die Brauen nach oben, als er mich auf dem Boden sitzen sah.

»Alles in Ordnung?«

»Ja, jetzt wieder. Wo ist Xanthos?«

»Ich habe ihn rausgeschickt. Er soll erst mal eine Runde um den Block rennen und sich abreagieren.«

»Was ist los mit ihm?«

Nick seufzte und warf einen Blick zum Bad, in dem man Rya herumwuseln hörte. »Später, okay? Ich will ihr erst mal helfen. Sonst steht nachher wieder alles unter Wasser. Du solltest dich in der Zwischen­zeit umziehen.«

Oh, richtig. Ich trug obenrum noch immer nichts außer meinen BH, und meine Hose stank nach Rauch und war mit Asche bedeckt. Großartig. Das Bad war gerade eine Tabuzone, also mussten frische Kleidung und eine Katzenwäsche in der Küche reichen.

Zum Glück war der Rauch nicht bis in meine Kommode vorgedrungen und ein paar der Klamotten rochen noch frisch, auch das Oberteil des Ordens war immun. Da es durch das offene Fenster zog, ging ich ins Wohnzimmer, um mich umzuziehen. Von Xanthos war weit und breit nichts zu sehen. Ob er überhaupt wiederkommen würde? Nachdem ich frische Kleidung angezogen und mein Gesicht mit Wasser gereinigt hatte, schnappte ich mir eine Rolle Paket­klebeband und ein paar der Müllbeutel unter meiner Spüle. Auch eine Schere schob ich in meinen Hosenbund und damit bewaffnet ging ich ins Schlafzimmer. Rya und Nick hantierten immer noch im Bad, offensichtlich war der Schaden dieses Mal doch etwas komplizierter. Ich wusste es besser, als mich einzumischen, also machte ich mich an der anderen Baustelle ans Werk. Mein Ziel war es, das Fenster notdürftig mit dem Tape sowie den aufgeschnittenen Tüten zu überkleben, damit das Zimmer nicht Wind und Wetter ausgesetzt war. Mit nur zwei Händen war das allerdings ein schwieriges Unter­fangen, außerdem war ich zu klein, um ohne Hilfe auch an den oberen Rahmen heranzukommen. Ein Stuhl musste her.

Mit der Schere im Mund und dem Tape in der einen, den Tüten in der anderen Hand mühte ich mich lautstark ab, als mir auf einmal eine dritte Hand zu Hilfe kam. Vor Schreck spuckte ich die Schere aus, die klappernd zu Boden viel.

»So wird das nichts«, brummte Xanthos, der nun ein T-Shirt trug, und nahm mir die Rolle Klebeband ab. Er brauchte keine Schere, er riss einfach mit reiner Körperkraft einen Streifen ab und platzierte ihn genau dort, wo ich ihn haben wollte. Verdammter Angeber.

»Gib her«, sagte er tonlos.

Ich händigte ihm die Tüten aus und er nickte zufrieden. Zwar kniff er kurz die Augen zusammen, als ich ihm dabei half, das Plastik über den Rahmen zu spannen, aber er sagte nichts weiter. So dauerte es nur ein paar Minuten, bis das Fenster provisorisch und weitest­gehend luftdicht geflickt war. Minuten, in denen keiner von uns ein Wort sagte und die Spannung mit jeder Sekunde stieg. So stark, dass es mir im Nacken kribbelte, als wir unser Werk begutachteten. Xanthos fuhr mit den Fingern die Kanten nach und überprüfte ein letztes Mal, ob alles korrekt saß.

»Danke«, sagte ich, ehe ich es mir anders überlegte. Das hier war seine Art, sich zu entschuldigen und ich wollte ihm zeigen, dass ich sie akzeptierte.

Xanthos zuckte nur mit den Schultern. Von seiner Wut, seiner Rage war nichts mehr übrig. Als er sich umdrehte und aus dem Raum schritt, sah ich, dass der Stoff seines Shirts zwischen seinen Schulter­blättern regelrecht auf der Haut klebte. Er hatte geschwitzt. Ich sprang ihm hinterher und hielt ihn am Oberteil zurück.

»Geht es dir gut?«, fragte ich ihn und zog am Stoff, bis er sich umdrehte. »Oder macht deine Verletzung Probleme?«

Ich ließ ihn los und er trat einen Schritt nach hinten. »Ich war joggen.« Mehr kam nicht aus ihm heraus und mir fiel keine passende Erwiderung ein. Xanthos ließ die Schultern hängen und steckte die Hände in die Hosentaschen.

»Es tut mir leid, dass ich so überreagiert habe und einfach rein­geplatzt bin«, sagte er leise. »Das war unangebracht.«

»Was war los?«

»Das frage ich dich. Etwas stimmt nicht. Abgesehen von der Sache mit dem Feuer. Was ist es?« In seinen Augen lag keine Wut mehr, nur Sorge.

»Nichts Schlimmes«, erwiderte ich, obwohl ich mir selbst nicht sicher war. »Und bestimmt nicht schlimmer als dein Fluch«, schob ich hinterher. Ertappt wandte er den Blick ab, dann schüttelte er langsam den Kopf und lächelte bitter.

»Wir sollten gehen.« Er drehte sich um und ging ins Erdgeschoss. Ich folgte ihm schweigend, auch wenn das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen war.

Rya und Nick erwarteten uns im Wohnzimmer, bereit zum Aufbruch. Beide warfen einen Blick zwischen Xanthos und mir hin und her. Der Krieger ignorierte sie, ich rollte mit den Augen.

»Lasst uns gehen«, sagte ich. »Bevor Xanthos mich wieder aufregt und ich mein Haus abfackele.«

Kalte eisblaue Augen blitzten mich reuevoll an. Oha, da hatte jemand keinen Humor mehr. Und ein schlechtes Gewissen? Ich hob entschuldigend die Arme, seufzte in Ryas Richtung und ging dann voraus zur Haustür.

»Du kannst hier parken«, wies ich Nick zwanzig Minuten später an. Er lenkte den schwarzen SUV auf den Schotterplatz mit den ausgewiesenen Parkplätzen. Diese gehörten zum botanischen Garten von Bellmont, mitten in der Stadt. So früh am Tag kamen unter der Woche zum Glück nicht viele Leute her und es war noch fast alles frei.

Der Kies knirschte unter meinen Schuhen, als ich aus dem Wagen ausstieg und die frische Luft in mich aufsog. Ich war schon einmal auf diesem Weg auf das Gelände gekommen. Damals hatte ich dieses Anwesen zum ersten Mal besucht und war noch nicht im Besitz meiner magischen Kräfte gewesen. Danach hatte ich mich ganz einfach herteleportieren können und auch Nephele hatte mich vorgestern auf magische Weise hergebracht.

»Von hier aus sind es noch fünf Minuten zu Fuß«, erklärte ich und lief vorneweg. Rya gesellte sich an meine Seite, während Nick und Xanthos in ein paar Metern Abstand hinter uns folgten.

»Wieso liegt der Unterschlupf der Mageía Mésa ausgerechnet hier?«, wollte Rya wissen. Sie sah sich aufmerksam in der Parkanlage um.

»In dieser Umgebung gibt es nicht so viel moderne Technik, die bei der Anwendung von Magie verrücktspielen könnte«, erklärte ich.

»Wieso leben sie dann nicht in den Wäldern, abseits einer Stadt?«

Ich warf Rya einen Seitenblick zu und konnte mir einen sarkastischen, aber liebevoll gemeinten Unterton in meiner nächsten Bemerkung nicht verkneifen. »Irgendjemand hat sie wohl gezwungen, ihren Lebensmittelpunkt hierherzuverlegen, in das Herz des Krieges.«

Rya wirkte verwirrt. Dann dämmerte es ihr. »Oh.«

»Richtig. Sie sind dem Krieg nach Bellmont gefolgt.«

»Und jetzt, da er vorbei ist? Könnten sie sich nicht anderswo niederlassen?«

Ich wiegte den Kopf hin und her. »So einfach ist das nicht. Sagt zumindest die Ischyró Mágo. Und solange nicht geklärt ist, welcher Aufgabe sich die Mageía Mésa als Nächstes widmen, wird keine von ihnen allein aufbrechen dürfen. Selbst die aussätzigen Magierinnen stehen unter andauernder Beobachtung.«

Rya nagte an ihrer Unterlippe und sah aus, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. Ich stieß sie mit der Schulter an. »Das ist weder deine Schuld noch dein Problem. Hekate hat uns auf diesen Krieg angesetzt, sie wird sicherlich eine neue Aufgabe für uns finden. Und bis dahin wird niemand im Regen stehen gelassen, dafür wird Nephele sorgen.« Zumindest hoffte ich, dass sie ihre Idee mit dem Geist von Lagina weiterverfolgte und allen, die es wollten, eine Zuflucht bot.

»Ich hoffe, du hast recht.«

Hinter der nächsten Abbiegung kam das kleinere der beiden Gewächshäuser des botanischen Gartens zum Vorschein, dem Aus­sehen nach im letzten Jahrhundert gebaut. Weiße Metallstreben fassten riesige Fensterscheiben ein und verliehen dem Gebäude trotz seiner beeindruckenden Größe einen zierlichen Charakter, es wirkte luftig, hell und einladend. Im Inneren leuchteten unzählige Schattierungen von Grün, die ausgestellten Pflanzen stammten aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt. Ein kleines Café lud zum Verweilen ein, während man die Natur vor und hinter dem Glas genoss.

Zumindest ließ man die Leute das glauben. Das ganze Gebäude war mittlerweile eine einzige Tarnung, alles bestand aus Trugbildern und ein Zauber hielt Menschen davon ab, diesem zu nah zu kommen. Die Mageía Mésa hatten das Gewächshaus, das ursprünglich wirklich zur Unterhaltung der Menschen errichtet und genutzt worden war, ausgehöhlt und für ihre Zwecke umgestaltet, weil es der einzige naturnahe Platz inmitten der Stadt war. Niemand außer den Magierinnen konnte hinter die Fassade blicken. Es war ein aufwendiger Zauber, den der Zirkel gemeinsam aufrechterhielt.

Je näher wir dem Gebäude kamen, desto unwohler fühlten sich meine Freunde. Sie verlangsamten ihre Schritte, sahen sich suchend um und Rya hielt sich den Bauch, als wäre ihr schlecht. Das waren die Nebenwirkungen des Zaubers.

»Wo genau müssen wir hin?«, fragte Xanthos, dessen Blick immer wieder Richtung Gewächshaus huschte und dann davon weg, als stoße ihn etwas daran ab. Ich nahm Rya an die Hand.

»Folgt mir.«

Ich führte meine Freunde zum Eingang, wo die nächste Hürde auf mich wartete. Einfach durch die Tür zu gehen war keine Option, die Mageía Mésa sicherten sich doppelt ab. Es bedurfte Magie, um in das Innere zu gelangen.

Mein Blick glitt über die gläserne Eingangstür und ich wurde immer nervöser. Ich wischte mir meine schweißnasse Hand an der Hose ab, mit der anderen hielt ich nach wie vor Rya fest. Sie schwitzte mehr als ich. Auch Nick und Xanthos atmeten schwer, während sich ihre Körper gegen den Zauber wehrten. Sie kannten Magie, in ihnen floss auch ein wenig davon, weswegen sie überhaupt erst bis hierhergekommen waren. Aber der Widerstand setzte ihnen zu, ich musste mich beeilen, bevor mir einer von ihnen vor die Füße kotzte.

Hektisch suchte ich die Glastür ab, das Zeichen für den Übergang wechselte öfter seine Position.

»Ich hab’s!«, rief ich erleichtert. Links unten in der Ecke war ein Symbol eingeritzt, ein schematisch skizzierter Kristall und darauf ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte.

Ich streckte die Hand aus. Kurz vor der Scheibe hielt ich inne. Funktionierte es bei mir überhaupt noch? Sollte ich das Kribbeln in den Fingern nicht jetzt schon spüren?

Wieder einmal griff ich nach meiner Kette. Wie oft würde mir das passieren, bis ich endlich begriff, dass sie nicht mehr da war? Schnaubend überbrückte ich die letzten Zentimeter. Ich legte die Spitze meines Zeigefingers auf den Kreis. Dann schloss ich die Augen und rief nach meiner Magie. Sie antwortete jedoch nicht mir, sondern der verzauberten Tür und das Mal auf meiner Stirn erwärmte sich. Von einem Kribbeln auf meiner Haut keine Spur.

Trotzdem gab die feste Struktur unter meinen Fingern nach. Wie die Oberfläche einer Seifenblase spannte sich nun eine wabernde und schillernde Materie zwischen den Streben. Sie reflektierte das Licht der Sonne und brach es in seine bunten Einzelteile. Ich trat zurück und grinste.

»Nach euch«, forderte ich die anderen auf. Niemand regte sich. Ich verschränkte Ryas Hand mit der von Nick, dann schob ich sie beide hindurch. Sobald sie auf der anderen Seite waren, sahen wir sie nicht mehr. Xanthos musterte den Durchgang argwöhnisch, es überraschte mich, wie klar er in dem Moment wirkte, auch wenn sein Blick sich noch immer nicht vollkommen auf das Gebäude fokussierte.

»Ich sollte hierbleiben und warten«, meinte er.

Ich zog die Stirn kraus. »Wieso?«

Seine Hand zuckte nach oben, doch er hielt sie zurück und drehte den Kopf weg. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, blieb vor ihm stehen und imitierte seine Haltung. Mit dem Kinn deutete ich auf die helle Strähne, die seinen Haarschopf durchzog.

»Hast du Angst, dass dich noch mal jemand verflucht? Ich gebe dir einen Tipp: Halt einfach die Klappe, dann wird das nicht passieren.«

»Ich habe keine Angst.«

»Glaube ich dir nicht.«

»Ich lüge nicht.«

»Warum willst du dann nicht mitkommen?«

Xanthos betrachtete mich durchdringend. Erst meine Augen, dann meine Nase, meinen Mund, was mich zu meiner Überraschung schlucken ließ, und zum Schluss das Mal auf meiner Stirn. Kopfschüttelnd strich er sich mit einer Hand über den Nacken.

»Also gut«, lenkte er ein. »Lass uns gehen.« Mit einem triumphierenden Lächeln wandte ich mich ab und ging auf den Durchgang zu. Kurz bevor ich den schillernden Vorhang berührte, spürte ich Xanthos’ Finger an meinem Handgelenk. Ich sah über meine Schulter.

»Wenn wir wieder zu Hause sind, müssen wir reden«, sagte Xanthos mit Nachdruck. Er wich meinem Blick aus, was mich verwunderte. Sonst bot er doch auch alles und jedem die Stirn. Ich drehte meine Hand und umfasste meinerseits sein Handgelenk. Meine Fingerspitzen berührten sich gerade so. Auf Xanthos’ Gesicht spiegelte sich ein Hauch Erleichterung.

»Einverstanden.« Damit war die Absprache getroffen. Ich packte noch ein bisschen fester zu und zog den Krieger dann hinter mir her in den Unterschlupf der Mageía Mésa. Es kitzelte etwas, als der durchsichtige Schimmer meine Haut berührte und im Vorbeigehen darüberstrich. Unwillkürlich schmunzelte ich. Trotzdem bekam ich mit, wie sich Xanthos’ Griff um mein Handgelenk verkrampfte, als er an der Reihe war. Er presste die Lippen zusammen, als er mit einem großen Schritt die Barriere überwand. Kaum war er auf der anderen Seite angekommen, ließ er mich los und steckte die Hände in die Hosentaschen.

Rya und Nick würdigten uns keines Blickes, als wir neben ihnen auftauchten.

Das hätte ich ebenfalls nicht, wenn ich das vor uns liegende Innere des Glashauses wie sie zum ersten Mal zu Gesicht bekäme. Ähnlich wie in meinem Haus stimmte auch hier nicht alles mit dem äußeren Erscheinungsbild überein. Statt Pflanzen, Bäumen und anderen grünen Kuriositäten, die man von außen gesehen hatte, erwartete uns im Inneren des Gebäudes ein riesiges Becken mit schwarzem Wasser, auf dessen Oberfläche tausend glitzernde Partikel zu schwimmen schienen. Nur ein schmaler Weg, der mit weißen Fliesen verziert war, führte rechts und links daran vorbei. Es erinnerte von seiner Gestaltung her an ein Hallenbad, nur dass die Luft hier nicht nach Chlor, sondern nach Magie roch, die in der Nase prickelte.

Und die Luft schimmerte in allen nur erdenklichen Farben. Die Fensterscheiben brachen das Licht in Regenbogen, die auf den Fliesen und dem Wasser widergespiegelt wurden. Sprenkel erfüllten den gesamten Raum, bedeckten uns und unsere Kleidung. Als hätten wir uns eine Farbpulver-Schlacht geliefert wie auf einem Holi-Farbenfestival.

»Wow«, entfuhr es Rya. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass sowohl sie als auch die Männer wieder ganz bei Sinnen waren. Einmal drinnen, wirkte der Abschreckungszauber nicht mehr.

Rya stand mit offenem Mund da und betrachtete das Becken vor ihr. Wasser war ihr Element. Und dieses hier war etwas ganz Besonderes, es musste sie geradezu anziehen. Grüne Lichtflecken schwammen über ihr Gesicht, als sie sich niederkniete und die Hand nach dem Wasser ausstreckte.

»Das würde ich nicht tun«, warnte ich sie. Sie zuckte sofort zurück, Nick fasste sie erschrocken an der Schulter und zog sie an sich. Fragend sahen beide zu mir. »Dieser Raum ist Iris gewidmet, der Göttin des Regenbogens, die zwischen den Göttern und den Menschen vermittelt. Das Wasser stammt aus dem Fluss Styx, der die Menschenwelt mit dem Olymp und der Unterwelt verbindet. Er ist die Brücke zwischen den Mageía Mésa und Hekate. Solange wir das Wasser nicht berühren und nur mit guten Absichten dieses Gebäude betreten, wird uns nichts passieren.« In gebührendem Abstand lief ich den Weg am Rande des Beckens entlang. »Und an eurer Stelle würde ich nicht zu lange hineinsehen, auch wenn es bildhübsch ist und glitzert.«

Die Schritte der anderen hallten durch den Raum, als sie mir folgten. Ich ließ den Blick nach vorn gerichtet und hielt unwillkürlich den Atem an, bis ich das Becken umrundet hatte. Zwar war ich erst vor ein paar Tagen mit dem Styxwasser in Berührung gekommen, trotzdem wollte ich mein Glück nicht zu sehr herausfordern.

»Mágissa Ilena!« Eine Stimme dröhnte über unsere Köpfe hinweg und brachte das Wasser dazu, sich zu kräuseln. Ein unangenehmer Schauer lief meine Wirbelsäule hinunter und meine Muskeln zuckten. Ich drückte die Schultern durch und atmete tief ein. Rya, Nick und Xanthos sahen sich alarmiert um und rückten näher an mich heran. Die Sprecherin würden sie nicht finden, diese saß auf ihrem steinernen Thron und rief mich von dort aus. Mit einem vorwurfsvollen Ton in der Stimme. Der Boden schien vor Wut zu vibrieren. Wunderbar. Die Ischyró Mágo war in hervorragender Stimmung.

»Überlasst das Reden mir«, wies ich meine Freunde an, dann ging ich weiter zum anderen Ende der funkelnden Halle. Dort war eine Tür in das Glas eingelassen, dahinter war nichts zu sehen, nur buntes Licht. Ich drückte sie auf und trat hindurch. Der Tempel, in dem ich erst vorgestern vor dem Thron gestanden hatte, erstreckte sich vor uns. Ich hielt meinen Freunden die Tür auf und ließ sie passieren. Rya strich mir im Vorbeigehen über meinen Arm, um mich zu ermutigen. Ich rang mir ein halbwegs zuversichtliches Lächeln ab. Xanthos, der als Letzter durch die Tür trat, hatte die Brauen misstrauisch zusammengezogen.

Mágissa Nephele erwartete uns bereits. Mit hoch erhobenem Haupt und wachen Augen beobachtete sie jede unserer Bewegungen, als wir auf den Thron zuliefen. Das Becken vor ihr war leer und an den Seiten, zwischen den Säulen saßen und redeten an die zwanzig Magierinnen. Einige von ihnen kannte ich, andere sah ich zum ersten Mal. Sie hielten in ihren Bewegungen inne, flüsterten leise weiter, als wir sie passierten, und warteten auf einen Befehl der Ischyró Mágo. Diese schickte sie allerdings nicht weg, wie ich erwartet hätte, sondern bat mit einer Handbewegung lediglich um Ruhe. Publikum. Groß­artig. Die Magie kitzelte mich im Nacken. Normalerweise hätte ich es genossen, gerade machte es mich eher nervös.

»Ilena«, seufzte die Ischyró Mágo angestrengt. Heute trug sie ein reinweißes Kleid, ähnlich einer Toga, und eine Kette, an der große Edelsteine funkelten. Ihre Male loderten auf und in ihren Augen flammte Provokation. »Noch nie hat eine Mágissa, die kurz vor einem Etymigoría steht, vorher freiwillig diese heiligen Hallen betreten. Kannst du es nicht erwarten oder willst du bereits jetzt um Vergebung betteln?«

Im Hintergrund breitete sich Stille aus. Niemand schien dieses Wort, das schwer und bedrohlich in der Luft hing, einatmen zu wollen. Etymigoría. Urteil.

Ich machte eine kurze Verbeugung, die die Ischyró Mágo wohl­wollend zur Kenntnis nahm. Meine nächsten Worte überlegte ich mir gut. Die lockere Stimmung, die bei unserer privaten Unterredung geherrscht hatte, gehörte wohl der Vergangenheit an, das musste ich hinnehmen und mich anpassen. Mit Trotz und falschem Stolz half ich niemandem weiter.

»Es steht mir nicht zu, Euer Vorgehen zu hinterfragen. Deswegen werde ich sowohl die von Euch gesetzte Zeit als auch das von Euch ausgesprochene Urteil annehmen. So wie es von einer Dienerin Hekates erwartet wird.«

Mágissa Nephele legte den Kopf schief. »Was führt dich statt­dessen her?«

»Drei meiner Freunde bedürfen Eurer Hilfe. Es handelt sich um Rya, deren voller Name Euryale Euch sicherlich geläufig ist. Und um zwei Krieger, Nick und Xanthos, die sich für das Ende des Krieges zwischen dem Orden und den Gorgonen eingesetzt haben.«

Unsere Anführerin hob den Blick und betrachtete die drei ungebetenen Gäste. Die Krieger interessierten sie kaum, nur Rya musterte sie eingehend. Ihre Miene verriet nichts, doch die metallischen Symbole auf ihrer Haut flackerten. Dann spürte ich plötzlich, wie sie ihre Magie nach den dreien ausstreckte. Wie ein kalter Hauch zog sie an mir vorbei und auf die anderen zu. Ich biss mir auf die Lippen, um sie nicht zu warnen. Das wäre der Ischyró Mágo nur sauer aufgestoßen.

Rya merkte ebenfalls, dass etwas sich veränderte, und sie griff nach Nicks Hand. Xanthos ließ die Prozedur stoisch über sich ergehen, nicht aber, ohne die Mágissa böse anzufunkeln. Es dauerte nur ein paar Sekunden, ehe Nephele meine Freunde zu sich winkte. Auch ich ging näher an sie heran.

Aus dieser Entfernung konnte ich die schwachen Schatten sehen, die unter den Augen der Ischyró Mágo lagen. Es war das erste Mal, dass ich Anzeichen von Erschöpfung an ihr bemerkte, und mit Sicherheit waren sie vor zwei Tagen noch nicht da gewesen.

»Ihre Anwesenheit hier werde ich auf die wachsende Liste deiner Verstöße setzen, Mágissa Ilena.«

»Wenn Ihr Euch im Gegenzug anhört, was sie zu sagen haben, ist das kein Problem.«

Mágissa Nephele schnalzte mit der Zunge und warf mir einen warnenden Blick zu. Dann forderte sie Rya mit einer Handbewegung zum Sprechen auf.

Als würde sie spüren, wie man mit der Ischyró Mágo umgehen musste, verbeugte sie sich vor dem Thron, was Nephele mit einem anerkennenden Nicken kommentierte. Rya räusperte sich und streckte Nick die Hand hin. Er förderte die Feder zutage, die er unter seiner Jacke versteckt hatte, und überreichte sie ihr. Dann trat er einen Schritt zurück und überließ seiner Freundin das Feld. Weise Entscheidung. Die Mageía Mésa unterhielten sich lieber mit Personen vom gleichen Geschlecht, auch wenn das rückständig und total daneben war.

»Vor ein paar Tagen verschwand ein Mann des Ordens. Diese Feder haben wir an jenem Abend auf der Dachterrasse des Hauptquartiers gefunden. Sie scheint von keinem normalen irdischen Wesen zu stammen. Wir haben gehofft, dass Ihr uns vielleicht sagen könnt, von welchem Tier diese Feder stammt und ob sie in Zusammenhang mit dem Verschwinden des Mannes stehen könnte.«

Alle Augen waren auf die wunderschöne Feder in Ryas Fingern gerichtet. Nur meine nicht. Außer mir schien niemand zu bemerken, wie sich die Finger der Ischyró Mágo beim Anblick der schwarzen Feder um die Lehnen ihres Throns verkrampften. Es dauerte nur eine Sekunde, dann fing sie sich. Doch in ihren Augen las ich Überraschung und Schreck. Die anderen Magierinnen betrachteten die Feder zwar mit unverhohlener Neugierde, aber bei keiner von ihnen zeigte sich dieselbe Reaktion. Als ich wieder zu Nephele sah, durchbohrte diese mich mit ihrem Blick. Ein dunkler Ausdruck legte sich über ihr Gesicht. Sie richtete sich auf.

»Bring mir die Feder, Ilena.«

Meine Hände wurden klatschnass und ich wischte sie mir möglichst unauffällig an meinem Pullover ab. Ich durfte ihrem Befehl nicht widersprechen, die Feder anzufassen kam allerdings auch nicht infrage, selbst wenn sie geschützt in einem Tuch lag. Rya nahm mir die Entscheidung ab, indem sie die verbliebenen Meter zwischen sich und der Ischyró Mágo überbrückte und ihr die Feder entgegenstreckte.

Ein Raunen ging durch die Reihen der Magierinnen und mir wurde flau im Magen. Mágissa Nephele lachte in sich hinein und streckte ihre Finger nach der Feder aus. »Ich verstehe, warum ihr Freundinnen seid«, sagte sie. Ich hielt den Atem an, als ihre Haut den Kiel berührte, doch sie zeigte keinerlei außergewöhnliche Regung, als sie die Feder durch ihre Finger gleiten ließ. Sie roch daran, drehte die schimmernde Spitze aus Silber im Licht und betrachtete sie ganz genau.

»Was sagst du dazu, Ilena?«, fragte sie plötzlich. Alle Augen richteten sich auf mich. Ich musste den Impuls unterdrücken, einen Schritt nach hinten, außer der Reichweite der Feder, zu machen.

»Leider habe ich nicht herausgefunden, woher oder von wem diese Feder stammt«, gab ich zu. »Ich kann mich auch nicht daran erinnern, etwas darüber gelesen zu haben.«

»Vielleicht«, säuselte Nephele, »kann ich da etwas nachhelfen.« Die Temperatur im Tempel fiel mit einem Mal um mehrere Grade. Kälte kroch meine Glieder hinauf und brachte mich zum Zittern. Mein Atem, der stoßweise ging, manifestierte sich als weiße Wolke vor meinem Mund. Bei keinem der anderen Anwesenden zeigten sich die Symptome der Kälte, nur bei mir. Das hieß … oh nein.

»Deíxe mou to Styló«, raunte Nephele und ihre Augen begannen zu leuchten. Zeig mir die Feder.

Eiskalte Finger griffen nach meinem Geist und krallten sich darin fest. Mein Körper war wie gelähmt, ich konnte mich nicht rühren. Ich schaffte es nur noch, die Augen aufzureißen und fassungslos auf die Ischyró Mágo zu blicken. Gegen meinen Willen drang sie in meine Gedanken ein, wühlte darin herum und es gab nichts, absolut gar nichts, was ich dagegen tun konnte.

Ich sehnte mich nach Wut, nach dem Prickeln meiner Finger und der Hitze, die bereits zwei Mal in mir explodiert war. Denn in diesem Moment hätte ich Nephele gern eine Kostprobe davon gegeben. Doch stattdessen empfand ich nichts als Leere.

Die anderen starrten mich an. Rya, Nick und Xanthos machte ich keinen Vorwurf, sie wussten nicht, was vor sich ging. Doch die Magierinnen sahen einfach dabei zu, wie ihre Anführerin eine unserer heiligsten Regeln brach.

Niemals drangen wir ohne Zustimmung in den Geist eines anderen ein!

Nun fühlte ich doch etwas. Enttäuschung. Verrat. Scham.

Dann hörte ich sie – die Violine. Sie spielte dieselbe Melodie wie am Tag zuvor, nur versank ich nicht in der Dunkelheit. Eine Träne rollte mir aus dem linken Auge, über meine Wange und am Hals hinab. Und das war der Moment, in dem alle aus ihrer Starre erwachten.

Rya verstand es als Erste. Sie schrie die Ischyró Mágo an, die daraufhin träge blinzelte. Das Leuchten ihrer Augen verebbte und einen Herzschlag später ließ die magische Kälte von mir ab, die eisigen Finger fielen in sich zusammen und ließen mich frei. Doch ich war mir nicht sicher, ob mir jemals wieder warm werden würde. Meine Knie zitterten und meine Beine gaben unter mir nach. Nick und Xanthos waren gleichzeitig an meiner Seite und stützten mich, damit ich nicht auf den Marmorboden fiel.

Alles an mir bebte, nicht mal das Atmen funktionierte richtig. Meine Gedanken sortierten sich, klaubten sich wieder zusammen, nachdem sie von der Magie durcheinandergewirbelt worden waren. Es war so kalt.

Rya zeterte weiter.

Und auf dem Gesicht der Ischyró Mágo lag zum ersten Mal, seit ich sie kannte, so etwas wie Angst.

Der Boden bebte. Nick und Xanthos packten mich fester und hievten mich höher. Sie sagten irgendwas, doch ich verstand sie nicht. Da war ein Rauschen. Ein Grollen, als würde sich über unseren Köpfen ein Gewitter zusammenbrauen. Die Magierinnen bemerkten es ebenfalls und fingen an, ihre Sachen zusammenzupacken. Feiglinge. Keine scherte sich um uns oder Mágissa Nephele.

Etwas zersprang mit einem Klirren. Eine Sekunde später ertönte ein gurgelndes Geräusch aus Richtung des Beckens. Der Styx kochte vor Wut.

Ich griff nach Nicks Kragen und zog ihn nahe an mich heran. Ich traute meiner Stimme nicht, doch er musste mich hören. »Du … Du musst sie beruhigen. Sonst wird er uns ertränken.« Meine Stimme klang brüchig, aber er verstand mich. Nick warf einen Blick auf das Becken, erkannte die lauernde Gefahr darin und fackelte nicht lange. Er ließ mich los und rannte zu Rya. Ich hatte das Gefühl zu kippen, doch Xanthos legte einen Arm um meine Taille und presste mich an sich. Mit der freien Hand wischte er wie beiläufig die nasse Spur von meiner Wange.

Nick erreichte Rya, packte sie an der Schulter und zwang sie dazu, ihn anzusehen. Als ihre Blicke sich ineinander verhakten, hielt sie fast sofort inne, auch wenn er laut auf sie einreden musste, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Er deutete auf das Becken, sie nickte. Dann nahm Nick sie bei der Hand und zog sie in unsere Richtung.

»Was jetzt?«, wollte er wissen.

Ich hatte keine Antwort für ihn. Mir war so kalt.

Mágissa Nephele schien endgültig zu sich zu kommen. Sie sah den flüchtenden Magierinnen hinterher, wurde des sich füllenden Beckens gewahr und schüttelte den Kopf, als könnte sie das alles nicht begreifen.

Dann waren wir schon zwei. Als hätte sie meinen bohrenden Blick gespürt, drehte sie sich zu mir um. Entsetzen verzerrte ihre Züge, ebenso unterschwellig brodelnde Wut und besagte Angst, die vollkommen neu an ihr war.

Sie sagte keinen Ton dazu, was sie gesehen hatte. Kein Wort darüber, was sie mir aufgezwungen hatte. Stattdessen bewegte sie die Hand durch die Luft, um einen Teleportationszauber zu wirken. Sie ließ mich fallen, wieder einmal. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch die Brust.

»Wir sehen uns bei deinem Etymigoría, Ilena«, presste die Ischyró Mágo hervor. Das war alles, was sie mir zu sagen hatte?

Ich knurrte. Verdammte Götter, ich knurrte wie ein wildes Tier, dem man gerade einen Pfeil ins Bein geschossen hatte.

»Passt auf«, zischte ich, »dass Eure eigene Liste bis dahin nicht länger wird.«

Etwas in Nephele zerbrach. Man sah es in ihren Augen, aus denen für den Bruchteil einer Sekunde aller Glanz, alles Leben entwich. Die Symbole auf ihrer Haut flackerten, dann leuchteten sie mit all ihrer Kraft. Ich legte eine Hand auf Xanthos’ Arm, mit der anderen griff ich nach Rya, die sich regelrecht an Nick klammerte. Dann schleuderte die mächtigste Frau der Mageía Mésa ihre Magie auf uns und beförderte uns in die Dunkelheit.

Magie aus Tod und Kupfer

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