Читать книгу Magie aus Tod und Kupfer - Lisa Rosenbecker - Страница 7
Kapitel Eins
ОглавлениеIch bin enttäuscht von dir, Ilena.«
Mágissa Nephele verzog bei diesen Worten keine Miene, ihre Stimme aber zeugte von erschöpfter Ratlosigkeit und schlecht unterdrückter Ungeduld. Mit dieser Reaktion hatte ich gerechnet. Immerhin kannte ich die Ischyró Mágo, die Anführerin der Mageía Mésa, schon lange genug, und es war nicht meine erste Vorladung in den Tempel der Magierinnen.
Nephele hatte ihr Gefolge bei meiner Ankunft fortgeschickt. Wir waren allein in dem Bau, der vom Olymp direkt hierherversetzt zu sein schien und dem Hekate-Tempel aus der antiken Stadt Lagina nachempfunden war, dem ersten und bisher einzigen Ort auf der Welt, an dem der Göttin zu Ehren ein solches Gebäude errichtet worden war. Marmorsäulen reckten sich zwei Stockwerke nach oben und trugen ein reich verziertes Dach auf ihren Schultern, das heute bedrohlich und dunkel über uns schwebte. Normalerweise genoss ich es, die von schwebenden Kristallen beleuchteten und stuckverzierten Decken und Wände zu betrachten, die üppig gefüllten Blumenamphoren zu bewundern und durch die Gärten außerhalb der Tempelmauern zu streifen. Heute fehlten der Glanz und das Licht. Nur das Prickeln der Magie in der Luft war gleich geblieben. Sie tastete meinen Körper ab, berührte jeden Fleck nackter Haut, um zu testen, ob ich diejenige war, für die ich mich ausgab. Die Antwort auf diese Frage interessierte mich, denn ich war mir dessen selbst nicht sicher.
Nepheles graublaue Iriden flackerten verräterisch, ihre Magie brodelte unter der Oberfläche. Die goldenen Symbole auf ihrer Haut leuchteten kurz auf und ich machte einen Schritt zurück.
»Weshalb genau?«, hakte ich nach und erkannte im selben Moment, dass diese Erwiderung ein Fehler gewesen war. Nephele hatte meinen Sarkasmus nie verstanden und heute war nicht der Tag, an dem sich das ändern würde. Sie presste die Lippen aufeinander und ihre Finger verkrampften sich um die Lehne des steinernen Throns, auf dem sie saß. Ihre Knöchel wurden weiß wie der Marmor unter ihren Händen. Ich kniff die Augen zusammen, weil ich fürchtete, dass das Material jeden Moment ihrer Wut nachgeben und zersplittern würde. Sie richtete sich im Sessel auf und der Stoff ihrer hellen Toga raschelte.
Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus und schloss die Augen. Ihre Muskeln entspannten sich, als sie sich kurz sammelte. Ich warf einen Blick auf die Statue, die hinter ihr über dem Thron aufragte. Es war ein Abbild Hekates, die ich mir in diesem Moment an meine Seite wünschte. Die Statue fing nur eines der drei Gesichter ein, mit denen die Göttin heutzutage assoziiert wurde. Sie zeigte die wunderschöne Version einer Frau Mitte dreißig, die ich kennengelernt hatte. Die anderen Gesichter, eines jünger, eines älter, welche die Wegkreuzungen hinüber zur Magie- und Götterwelt symbolisierten, waren zu Lebzeiten der Künstlerin noch nicht geläufig gewesen und daher nicht dargestellt. Doch egal welche Version von Hekate gerade durch den Olymp wandelte, nur ein Wort von ihr und die Mageía Mésa hätten mir alle Ausrutscher vergeben. Doch seit sie uns dabei geholfen hatte, Athenes Fluch zu brechen und die Gorgonen sowie den Perseus-Orden zu befreien, hatte niemand mehr die Göttin der Magie zu Gesicht bekommen.
Ich schluckte schwer und es war so still im Tempelsaal, dass das Geräusch sich in jeden Winkel ausbreitete. Zumindest bildete ich mir das ein.
Nephele hob den Blick. »Die Liste deiner Verstöße ist lang. Du hast dich im Krieg auf eine Seite gestellt. Du hast verbotene Blutmagie angewandt, um den Orden des Perseus zu unterstützen. Du hast einen Großteil deiner Magie geopfert, um eine Gorgone zu retten.«
»Du hast dabei geholfen, eine jahrtausendealte Fehde zu beenden?«, schob ich hinterher. Die Mágissa ballte die rechte Hand zur Faust und knallte sie auf die Lehne. Eine durch Magie ausgelöste Erschütterung ließ den Tempel erzittern und riss mich fast von den Füßen. Bei Hekate, wieso konnte ich nicht einmal den Mund halten? Aber warum erkannte die Ischyró Mágo nicht, dass es für alle von Vorteil war, wenn sich die Gorgonen und der Orden nicht mehr an die Gurgel gingen?
Als das Gebäude sich beruhigte, zupfte ich meinen dunkelgrauen Pullover zurecht, bevor mir weitere Dummheiten über die Lippen kamen.
»Ilena«, sagte die Mágissa mahnend. Ich verschränkte die Hände hinter dem Rücken und zwang mich, zu ihr aufzusehen. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich glaube, dir ist der Ernst der Lage nicht bewusst. Du hast nicht nur gegen unsere Regeln verstoßen, mit deinen Handlungen hast du zudem vielen Frauen der Mageía Mésa die Lebensgrundlage entzogen. Ohne den Krieg gibt es niemanden mehr, der ihnen Aufträge erteilt.«
Ich verkniff mir die Erwiderung, dass es in der Welt da draußen genug normale Jobs gab, die man würde annehmen können, um das Geld für jene Sachen zu verdienen, die sich nicht zaubern ließen. Doch die Arbeit von Normalsterblichen war angeblich unter unserer Würde und nicht Sinn und Zweck unseres Daseins. Wir sollten Hekates Magie in die Welt hinaustragen und am Leben erhalten. Ich verstand diesen Gedanken, befürwortete ihn sogar, doch wenn die Menschen weder für unsere Magie noch das dazugehörige Wissen sowie dessen Bürde bereit waren, gab es kaum Alternativen.
Ich drückte die Schultern durch und sah mit allem mir möglichen Selbstbewusstsein zur Mágissa auf.
»Es tut mir leid für sie. Aber es war mir wichtiger, diesen Krieg zu beenden und meinen Freunden zu helfen. Ich bereue es nicht, ich würde es jederzeit wieder tun.«
Nephele zog eine Augenbraue nach oben.
»Wirklich? Dann ist es für dich sicherlich kein Problem, das Mondbecken mit Wasser zu füllen, oder?« Sie hob eine Hand und deutete über meine Schulter in den Saal hinein. Auch ohne mich umzudrehen wusste ich, wovon sie sprach. In der Mitte des Tempels, zwischen zwei Reihen griechischer Säulen, war in den Marmorboden ein circa zehn Quadratmeter großes, knietiefes Becken eingelassen. Dunkelblaue Fliesen aus Lapislazuli mit eingelegten Halbmonden aus Citrin kleideten es aus und schimmerten im trüben Schein der mystischen Lichter. Allein bei der Vorstellung zog sich eine Gänsehaut über meine Arme.
Das Becken des Mondes war jeder Mágissa bekannt, es war so alt wie die Mageía Mésa selbst und das einzige Artefakt aus Lagina, das die Zeit überlebt hatte. Es war jener Ort, an dem die Novizinnen ihre Magie erhielten und sie sich in Form der goldenen Symbole auf unserem Körper manifestierte. Dort, auf diesem kleinen Fleck Erde, entschied sich, ob Hekate jemandem ihre Gunst schenkte, damals wie heute. Jedes Mal, wenn ich herkam, lockte es mich zu sich. Seine intensive Aura fuhr über meinen Rücken, meine Schultern, als wollte sie mich packen und umdrehen. Mein Körper reagierte darauf, das letzte magische Zeichen auf meiner Stirn, bestehend aus einem Kreis, einem Pfeil und einigen filigranen geometrischen Strukturen, erwärmte sich.
Aber meine Macht reichte nicht, um der Aufforderung von Nephele nachzukommen. Nicht mehr.
Wie jetzt reagierte meine Magie hin und wieder auf äußere Impulse und erwachte aus ihrem Dämmerschlaf, doch wirken ließ sie sich nicht. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Trotzdem hoffte ich weiter und wurde jedes Mal enttäuscht.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, als mein Herzschlag sich beschleunigte. Aus Verzweiflung, aus Wut und ein bisschen aus Angst. Trotz meiner Bemühungen um eine ruhige Atmung merkte die Ischyró Mágo, was in mir vorging. Mit einem milden Lächeln erhob sie sich von ihrem Thron und stieg die drei Stufen herab. Im Vorbeigehen legte sie mir eine Hand auf den Arm und drehte mich zum Mondbecken um. Ihre Berührung sandte beruhigende Wellen meine Haut hinauf.
Nephele fuhr fort, ohne mich anzusehen. Mitgefühl schwang in ihrer Stimme mit. »Man hat mir zugetragen, dass du nach wie vor Probleme damit hast, deine Magie zu nutzen. Es schmerzt mich, dich so schwach zu sehen, wo du doch eine der Mächtigsten von uns warst.«
Meine Brust schnürte sich zusammen. Nephele war nicht die Erste, die sich mir gegenüber so äußerte, trotzdem traf es mich. Das Mal auf meiner Stirn prickelte unangenehm. Ob aus Protest oder Zustimmung, ließ sich nicht deuten.
Wie von selbst glitt meine Hand zu der Stelle auf meinem Dekolleté, an der ich den Rosenquarz-Anhänger von Medea getragen hatte. Doch meine Finger griffen ins Leere, die Kette war ebenfalls fort, zusammen mit der Magie hatte ich sie Rya überlassen. Ich hatte ihr beides freiwillig gegeben, das würde ich jederzeit wieder. Aber es wäre gelogen, zu behaupten, dass ich meine Magie nicht vermisste.
Dass ich mich nicht mehr wie ich selbst fühlte.
Eine warme Brise wehte zwischen den Säulen hindurch und legte sich wie eine Decke um uns.
Nephele musterte mich und richtete den Blick dann auf das Mondbecken.
»Es wird eine Anhörung vor dem Kýklos ton Dekatrión geben«, sagte sie. Der Zirkel der Dreizehn, bestehend aus der Ischyró Mágo und zwölf ihrer engsten Vertrauten, würde mich mit allerhand Fragen zu meinen Vergehen löchern und im Anschluss ein Urteil fällen, das meinen weiteren Lebensweg bestimmen würde.
»Ich habe es befürchtet.«
»Wir müssen die Regeln befolgen, Ilena. Wir alle. Normalweise hätte ich den Zirkel schon einberufen, aber wir haben allerhand zu tun, um den Scherbenhaufen aufzuräumen, den der Krieg hinterlassen hat. Deswegen wird es eine Weile dauern. Bis dahin solltest du dich bedeckt halten.«
»Ich bin die Zurückhaltung in Person«, murrte ich und fing mir damit einen tadelnden Blick der Mágissa ein. Ihre Augen glitzerten verschwörerisch, sie kannte mich schon fast mein ganzes Leben lang und wusste, was für eine dreiste Lüge das war. Dabei stimmte es im Moment sogar. Nur dass ich mich nicht freiwillig von den Missionen fernhielt, zu denen meine Freunde aufgebrochen waren. Gern hätte ich Rya, Nick und Xanthos bei der Suche nach den ehemaligen Ágalmas geholfen, doch ohne meine Macht nützte ich ihnen nichts. Zunächst hatte ich mehrere Wochen gebraucht, um mich von den Nachwirkungen der Magie-Opferung zu erholen, und danach waren mir nicht mal die einfachsten Zauber gelungen. Ich hatte es immer wieder versucht und war jedes Mal gescheitert, bis Rya mich nach Hause schickte und mir Ruhe verordnete.
Ich hatte sie im Stich gelassen. Ich biss mir auf die Lippe, als ich von der Enttäuschung über mich selbst übermannt wurde.
Nephele seufzte. »Steig in das Becken.«
Sie gab mir einen sanften Stups nach vorn. Ich riss die Augen auf und starrte sie an.
»Es wird nicht klappen«, sagte ich mit zitternder Stimme und hasste es, wie flehend ich klang. »Ich kann das Mondbecken nicht füllen.«
»Darum geht es nicht. Steig hinein. Ich möchte etwas ausprobieren.«
Die Ischyró Mágo schloss die Augen und eine Welle aus Magie überrollte mich. Die zahlreichen Male auf ihrer Haut leuchteten auf, hüllten sie und mich in einen goldfarbenen Schimmer. Sie errichtete eine magische Barriere um uns, einen Schleier, der uns vor den Augen anderer abschirmen würde, sollte sich doch jemand in die Tempelhalle verirren. Es war mir schon immer leichtgefallen, in Magie zu lesen. Zu erfühlen, welcher Natur sie war und welches Ziel sie verfolgte. Das schien mir als Einziges geblieben zu sein, wenn auch eingeschränkt und nicht immer zuverlässig.
Es lohnte sich nicht, der Mágissa zu widersprechen. Ihren Befehlen zu folgen war unsere Pflicht. Ich nickte und streifte die Klamotten ab, da man das Becken nur völlig entkleidet betreten durfte. Als ich mit nackten Füßen die mit Mondsicheln verzierten Fliesen betrat, erinnerte mich das Gefühl des glatt polierten Steins an den Tag der Éfesi, der Berufung durch Hekate.
Nach dem ersten Novizinnen-Jahr musste sich jede junge Frau diesem Ritual stellen. Dadurch leitete man die nächste Stufe der Ausbildung ein, an deren Ende man sich Mágissa nennen durfte. Im Zuge der Berufung erhielt man seine Gabe von Hekate und mit ihr die für immer sichtbaren goldenen Symbole auf der Haut. Wenn das Ritual erfolgreich abgeschlossen wurde, stand man von da an in der Gunst und im Dienst der Göttin der Magie. Damals war ich aufgeregt gewesen, voller Vorfreude auf all das, was kommen würde.
Ich drehte mich um und sah zu der Statue von Hekate auf. Sie schien übermächtig, riesengroß und kalt. Mittlerweile wusste ich, dass sie in Wirklichkeit nicht so angsteinflößend aussah und ihre Gestalt wandeln konnte, wenn sie wollte. Dennoch hatte ich nicht weniger Respekt vor ihr; wenn überhaupt, fürchtete ich mich umso mehr vor ihrem Urteil.
Rya, die anderen und ich hatten mit der Beendigung des Krieges auch ihre Wünsche erfüllt, aber ob das reichte, um die weiteren Vergehen aufzuwiegen, vermochte ich nicht beurteilen. Ich bat die Göttin im Stillen um ihre Vergebung.
Mein Blick schweifte zum Sockel der Statue. Dort hatte Medea gestanden, als ich zum ersten Mal in das Becken gestiegen war, kurz vor ihrer eigenen Berufung. Unsere Herzen hatten vor Aufregung gebebt, doch nur ein Lächeln von ihr und ich hatte mich beruhigt. Mit Entschlossenheit hatten wir beide dem Ritual entgegengeblickt. Zwei Waisenmädchen, die endlich ihre Rollen in der Welt gefunden hatten.
Heute war der Platz leer.
Mit starrer Miene wartete Nephele darauf, dass ich bereit war.
Ich wandte mich dem Becken zu, nickte und die Ischyró Mágo hob die Arme. Ihre Male leuchteten heller, wie Sonnenstrahlen, die ihre Haut durchbrachen. Ein onyxfarbener Schimmer überzog ihre Augen und verdeckte das Graublau ihrer Iriden. Messingfarbene Sprenkel blitzten darin auf, ähnlich Sternen im Nachthimmel.
»Dóste tis ti mageía. Alláxte ti mageía. Deíxte mas ti mageía.«
Schenk ihr Magie. Verwandele sie. Zeig sie uns.
Nepheles Zauber stob über mich hinweg, brachte meinen Körper zum Zittern.
Ich sah hinunter zu meinen Füßen. Aus den mondförmigen Verzierungen aus Citrin quoll eiskaltes, nachtfarbenes Wasser hervor und schlängelte sich durch die Fugen der dunkelblauen Fliesen bis hin zu meinen Zehen. Ich zuckte zusammen, als die Kälte mich traf. Bibbernd verschränkte ich die Arme vor dem Oberkörper und beobachtete das Wasser dabei, wie es das Becken Stück für Stück eroberte.
Als es mich kniehoch umspielte, kam es zur Ruhe. Ich spürte die Zehen nicht mehr, der Rest meines Körpers kribbelte voller Erwartung. Schwer atmend ließ ich die Arme sinken. Sich vor der Magie oder der Kälte verstecken zu wollen war aussichtslos.
Und gleich würde es warm werden. Heißer, als mir lieb war. Zwei Worte von mir und das Ritual würde beginnen. Jenes, das ich vor etlichen Jahren schon einmal hinter mich gebracht hatte. Jenes, das eigentlich keine Mágissa zwei Mal durchlebte. Aber wenn Nephele es so wollte …
Ich lächelte schwach, als ich mich an die erste Begegnung mit Rya erinnerte, in der sie sich in einer ähnlichen Position befunden hatte wie ich jetzt. Sie hatte sich meiner Magie hingeben müssen, keines ihrer Geheimnisse war mehr sicher gewesen.
»Eímai étoimos.« Ich bin bereit.
Zunächst war da nur ein verspieltes Blubbern, das in große Blasen überging wie bei kochendem Wasser. Verzögert breitete sich die Hitze aus, die meine Zehen zum Kribbeln brachte. Der Drang, die Füße aus dem Wasser zu ziehen, wurde übermächtig, doch ich kämpfte dagegen an, auch wenn es sich anfühlte, als würde ich bei lebendigem Leibe gekocht. Schweißperlen liefen mir vom Nacken auf den Rücken und kitzelten mich. Der Dampf des heißen Wassers erschwerte das Atmen. Doch ich musste still halten.
Das Toben ebbte ab. Meine Mundwinkel zuckten, als der nächste Schritt folgte. Wie Fäden, die jemand aus der glatten Oberfläche zog, bahnte sich das Wasser seinen Weg meine Beine empor. Es kitzelte, als die dünnen Gebilde an meiner Haut hinaufkrochen, sie umschlossen. Es gefiel mir, wie die Stränge meinen Körper überzogen, jeder für sich, und wie sie am Ende doch eine Einheit, ein Netz formten, das mächtiger war, als es den Anschein hatte. Schon damals hatte es mich fasziniert, weswegen meine Zauber davon inspiriert waren.
Wabernde Fäden aus Licht, ein verzauberter roter Faden, an dem ich mein Wissen aufbewahrte … Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Das letzte Mal, dass ich meine Magie in dieser Form gesehen oder genutzt hatte, war viel zu lange her.
Die Wasserstränge krochen über meinen Bauch und meine Muskeln zuckten zusammen. Je näher sie dem Herzen kamen, umso langsamer wurden sie, als wollten sie meinen Puls nicht verschrecken. Als lauschten sie darauf, was mein Innerstes ihnen zu sagen hatte. Die flüssigen Fäden wuchsen weiter. Sie erreichten mein Tattoo und hielten einen Moment inne. Mir stockte der Atem.
Nach kurzem Zögern floss das Wasser an den Konturen des lavendelfarbenen Totenkopffalters entlang, der knapp unterhalb meiner Brüste seine Flügel ausbreitete. Der Kopf des Insekts ruhte auf dem unteren Brustbein, darüber leuchteten eine Mondsichel, ein Kristall sowie filigrane geometrische Symbole, die dank Tinte und Magie meine Haut verzierten.
Jede Linie wurde vom Wasser erobert und abgetastet, bevor es sich auf dem Rest meines Körpers ausbreitete. Wenig später bedeckte es meine Haare und hielt mich von Kopf bis Fuß gefangen. Ich hatte die Augen geschlossen und lauschte auf meinen Herzschlag, neben dem ich das Pulsieren einer fremden Macht spürte.
Bei meiner ersten Berufung waren zu diesem Zeitpunkt die goldenen Symbole auf meiner Haut erschienen, das untrügliche Zeichen dafür, dass Hekate mir Magie schenkte. Ein Kribbeln hatte mich damals bis in die Zehenspitzen erfüllt.
Heute geschah nichts.
Ich öffnete die Augen nicht, als das Wasser sich zurückzog und mich freigab. Ich öffnete sie auch dann nicht, als es wieder in den mondförmigen Vertiefungen versickerte.
Ich zitterte. Vor Kälte, vor Wut und Enttäuschung. Es schien so, als wäre ich Hekates Gabe nicht mehr würdig. Ich schluckte, um die Tränen zu bezwingen, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnten.
Ein sanfter Schwall prickelnder Wärme deutete an, dass die Ischyró Mágo einen Zauber wirkte. Im nächsten Moment schmiegte sich ein weiches Handtuch um meinen Körper. Ich griff danach und zog es enger, ehe ich mich endlich dazu durchrang, zu Nephele aufzusehen.
Sie hatte den Kopf schief gelegt und lächelte traurig. Großartig. Wenn sie so viel Mitleid zeigte, dann stand es schlimm um mich. Doch sie entschuldigte sich nicht. Wieso auch, nichts von alledem war ihre Schuld.
Nur wusste sie jetzt, dass ich vermutlich auch in Hekates Augen eine Versagerin war. Jemand, der es nicht verdiente, eine Mágissa genannt zu werden. Wie sich das auf die Entscheidung des Zirkels auswirkte, konnte ich mir vorstellen.
Ich trocknete mich ab und schlüpfte in meine Klamotten.
Mit einem Wink ihrer Hand ließ Nephele das nasse Handtuch verschwinden. »Ilena, ich werde dich rufen lassen, sobald der Zirkel für deine Anhörung bereit ist.«
Ich schnaubte. »Wozu? Ihr könnt mich auch gleich verstoßen.«
Nephele zog verärgert die Brauen zusammen. »Das ist nicht die einzige Option, und das weißt du.«
»Entschuldigt«, erwiderte ich zerknirscht, was mich genauso überraschte wie die Mágissa. Sie blinzelte heftig, ehe sie sich fing. Sie löste den magischen Schleier auf, den sie um uns errichtet hatte. Eine kalte Böe erfasste mich und bescherte mir eine Gänsehaut.
Nephele faltete die Hände vor dem Schoß ineinander. »Ich will ehrlich zu dir sein. Ich denke nicht, dass der Zirkel dich verstoßen wird, zumal ich ein Wörtchen mitzureden habe. Allerdings befürchte ich, dass dein Traum, selbst einmal Ischyró Mágo zu werden, in unerreichbare Ferne gerückt ist. Ich bedaure das sehr.«
»Wirklich?«
»Du bist intelligent, kreativ, stur und loyal. Und du hast Magie auf eine Art beherrscht, von der andere nur träumen können. Du wärst eine hervorragende Anführerin gewesen.«
»Mit der Betonung auf gewesen«, erwiderte ich kraftlos. Der Gedanke war mir selbst schon gekommen, es überraschte mich nicht, das Nephele ebenfalls so dachte. Dass es ihr leidtat, das allerdings war unerwartet und tröstete mich mehr, als ich zugeben wollte. Sie hatte mir gegenüber nie etwas Vergleichbares geäußert, mir war nicht klar gewesen, dass sie meinen Traum nicht lächerlich fand. Umso härter traf es mich, dass er niemals wahr werden würde.
Ich verneigte mich vor ihr. »Ich danke Euch.«
Als ich aufsah, hatte Nephele den Kopf zur Seite gedreht und blickte mit zusammengezogenen Brauen in einen entfernten Winkel des Tempels. Ihre Augen zuckten umher, schienen in den Marmorschatten zu lesen.
Ihr Mund verzog sich, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie die Gedanken, die ihr gerade durch den Kopf gingen, laut aussprechen sollte. Ich wartete, bis sie sich einen Ruck gab.
»Dieses Jahr könnte alles für uns verändern«, begann sie mit schwacher Stimme, in der ein Funken Aufregung mitschwang, das Hochgefühl einer neuen Erkenntnis. »Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit dienen wir in keinem Krieg mehr und sind nicht an die Schicksale anderer gebunden.«
Ich schluckte ein »Habe ich Euch doch gesagt« hinunter und wartete geduldig auf weitere Ausführungen. Trotzdem sah Nephele mir die Genugtuung an und warnte mich mit messingblitzenden Augen und einem kaum wahrnehmbaren Mundwinkelzucken vor zu viel Übermut.
Doch stumme Duelle lagen mir nicht.
Ich tippte mir spielerisch ans Kinn. »Und das ausgerechnet in diesem für die Mageía Mésa bedeutsamen Jahr. Zufall? Oder Schicksal?« Die Ischyró Mágo so offensichtlich zu necken brachte mir keine Pluspunkte ein, aber ich konnte nicht anders. Sie ließ sich zu einem gequälten Grinsen hinreißen.
»Du hast es also nicht vergessen«, sagte sie und ging an mir vorbei zu ihrem Thron, um sich zu setzen.
»Wie könnte ich?« Seit einem Jahr war bei den Mageía Mésa kaum ein anderes Thema so präsent wie die Feierlichkeiten zum Gedenken an den Gründungstag Laginas vor dreitausend Jahren. Die Stadt war vor einer Ewigkeit von der Menschheit in Vergessenheit geraten, doch ihr Erbe und ihre Ehre lebte in uns weiter, uns gab es nur dank ihr.
Nicht dass ich daran gedacht hätte, als ich mich auf Ryas Seite stellte, es war nicht von Belang für mich gewesen. Aber vielleicht stimmte es den Zirkel milde, wenn er es als Schicksal auslegte, dass ausgerechnet in diesem Jahr etwas so Unvorhergesehenes passiert war.
Nephele drohte mir mit dem Zeigefinger. »Du solltest über unsere Geschichte weder spotten noch sie zu deinen Gunsten verbiegen. Schon gar nicht in Anwesenheit des Zirkels.«
»Das werde ich nicht. Ich werde nur die Wahrheit sagen.« Etwas anderes war ohnehin nicht möglich, sie würden mich bis auf den Grund meiner Seele ausleuchten, wenn sie wollten, und jede Lüge aufdecken.
Zufrieden nickend und mit den Fingern auf die Marmorlehne tippend musterte Nephele mich. »In jedem Ende steckt auch ein Neuanfang. Es ist ein schöner Gedanke, gerade in diesem Jahr den Geist von Lagina wieder stärker aufleben zu lassen. Es ist sogar notwendig. Viele Mädchen und Frauen wissen derzeit nicht wohin. Damals wurden sie in der Tempelstadt willkommen geheißen und beschützt, nun müssen wir in Bellmont dasselbe tun. Wir müssen die Mageía Mésa zusammenhalten. Aber du solltest dich erst mal nur um dich kümmern und auf die Anhörung vor dem Zirkel vorbereiten.« Ihr Mund blieb einen Spalt offen stehen. Als wollte sie noch hinterherschieben: Und mach dich auf das Schlimmste gefasst. Sie rang stattdessen nach anderen Worten, fand sie. »Auch du wirst immer willkommen sein, Ilena. Wenn du es möchtest.« Nephele neigte den Kopf zum Abschied. Sie drehte ihre Handflächen nach oben und darin begann es zu leuchten. Gerade noch schnell genug kniff ich die Augen zusammen, ehe ein gleißend helles Licht erstrahlte. Als es erlosch und ich die Lider hob, war ich zu Hause.