Читать книгу Poet auf zwei Rädern - Lisa Schoeps - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеTom fuhr mit mir nach Hause. Keiner konnte etwas sagen. Tief in meinem Herzen spürte ich die grausame Wahrheit, sie brachte mich fast um. Ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Alles hatte sich in einer Sekunde verändert. Zu Hause angekommen verkroch ich mich an Michaels und meinem Lieblingsplatz, auf unsere Dachterrasse. Mit dem T-Shirt, das Michael zuletzt an hatte und einer Decke. Ich starrte in die Dunkelheit der Nacht. Alles, was stark in mir war, sehnte sich danach, ihn in den Arm zunehmen, ihn zu beschützen. Doch ich konnte nichts tun.
In der Stadt brannten um diese Zeit nur wenige Lichter. Das Geschehene war so unglaublich. Wieso? Nur wenige Geräusche drangen wie aus weiter Ferne gedämpft durch den Nebel. Stille umgab mich. Es war kalt, die Feuchte legte sich über alles wie ein Schleier.
Es waren keine Sterne zu sehen, ich fragte mich ob es einen Gott gibt. Wenn ja warum tut er so etwas, wie kann er so etwas zulassen. Gibt es Schutzengel, wenn ja, hatte der gerade Pause. Wut und Verzweiflung mischten sich. Warum bin ich nicht im Krankenhaus geblieben? Was wenn er ganz allein stirbt?
Nein er darf nicht sterben, wenn es einen Gott gibt, dann lässt er es nicht zu. Irgendwann fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Als ich aufwachte, war es kalt und der Morgen graute bereits. Vielleicht war alles nur ein böser Traum.
Die Stadt sah aus wie immer, das gleiche Bild, die gleichen Häuser. Die gleichen Gerüche und Geräusche. Als wenn nichts gewesen wäre. Es war Samstag. Die Decke in die ich mich gewickelt hatte, war ganz durchfeuchtet vom Nebel. Unangenehme Kälte hatte von meinem Körper Besitz ergriffen.
Ich streckte meine steifen Glieder, massierte meine Hände und Füße, sie waren wie Eisklumpen. Mein Körper fühlte sich seltsam tot an, es störte mich nicht. Es fühlte sich an als wäre eine Dampfwalze darüber gerollt. In meinem Kopf pochte ein gemeiner Schmerz, mein Nacken war so steif, dass ich Schwierigkeiten hatte den Kopf zu drehen. Langsam stand ich auf, blickte starr auf die Umgebung und fragte mich zum tausendsten Mal: Warum?
Rastlos wanderte ich durch das Haus, alles erinnerte mich an Michael. Das ganze Haus war für mich voller Erinnerungen, ich konnte nichts auswählen, sie stürmten auf mich ein. Ich dachte, gleich geht die Tür auf und eine vertraute Stimme ruft „Hallo Kleines“. Aber es kam niemand.
Solange ich im Haus war, war er auch da, in diesem Haus war etwas das uns liebte. Tausend Gedanken jagten mir durch den Kopf, schöne, schmerzliche, wie Lichtblitze, sich im Nichts wieder auflösend.
Ich sah aus dem Fenster, die gegenüberliegende Häuserfront lag noch im Dunkeln. In unserem Schlafzimmer standen Farbeimer herum. Das Bett war leer und unbenutzt, Michael hatte am gestrigen Morgen noch aufgeräumt. Auf dem Stuhl neben dem Bett lagen ordentlich zusammengefaltet seine Lieblingsjeans und der blaue Pullover. Michael war sehr ordentlich, er ließ seine Sachen selten herumliegen. Er war stets darauf bedacht, dass alles seinen Platz hatte und angemessen behandelt wurde. Er war direkt aus der Kaserne in seiner Arbeitsuniform zu Oma Helene gefahren.
Mein Blick schweifte weiter umher. Da lagen neben dem Sessel der Gedichtband von Lord Byron aus dem er mir oft vorlas, James Joyce Ulysses und ein Reiseführer über Norwegen. Meine Augen füllten sich erneut mit Tränen, ich strich zärtlich über den schon etwas abgegriffenen Einband des Gedichtbands. Tief in mir konnte ich seine sanfte, tiefe Stimme hören mit einem Zitat von Lord Byron hören:
„Die Liebe ist im Leben des Mannes eine Sache für sich, für die Frau ist sie das ganze Leben.“
Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut, ich fröstelte, spürte wie mir das Atmen schwer fiel, ich eine nicht gekannte Enge in der Brust fühlte. Ich drückte das Buch fest an mich. In meinem Kopf hörte ich ihn, er war da.
Der Schmerz der Trennung hielt mich gefangen, schärfte meine Wahrnehmung, so dass sie fast über real wirkte. In der Stille hörte ich in meinen Gedanken vertraute Geräusche, Lachen, Hämmern, Summen, Musik. Jetzt drehe ich durch.
Im Bad standen seine Sachen, es roch nach ihm. Ich sog die Luft ein, wie ein Ertrinkender, ich wollte einen Teil von ihm für mich retten.
Ich blickte zu Boden, der Fußboden im Bad war noch immer nicht verfugt. Mein schönes Rosenmuster. Wie hatte er sich über mich lustig gemacht, ich, die noch nie in ihrem Leben gefliest hatte und von einem Rosenmosaik als Fußboden im Badezimmer träumte.
Er hatte mir gesagt, wenn ich es unbedingt so haben wollte, soll ich es bitte selber machen. Wenn er Fliesen verlege, dann ganz Normale, ich hätte die Wahl. Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt und dann damit angefangen. Ich hab’s gelegt, aus vielen kleinen Fliesenscherben in verschiedenen rosa und roten Tönen. Es war ein langwieriges Projekt, ich musste immer wieder etwas verändern um das Bild, das in meinem Kopf existierte in die Realität umzusetzen. Es sah etwas eigenwillig aus. Es war fast fertig, jetzt hätte es verfugt werden können.
Ich lief weiter durchs Haus, in unserer Küche war Tom auf einem Küchenstuhl eingeschlafen. Sein Kopf lag auf zum Kopfkissen verschränkten Armen. Die Haltung musste schrecklich unbequem sein. Ich holte eine Decke aus dem Wohnzimmer. Ich drückte mein Gesicht in den weichen Stoff, Micha und ich hatten oft auf dem Sofa unter ihr zusammen gekuschelt.
Wie soll das nur weiter gehen? Alles und jedes führte mir vor Augen, wie schmerzlich ich ihn vermisste. Es war als wäre ein Teil aus mir herausgerissen. Der Schmerz fühlte sich wie eine große, klaffende Wunde an, die sich nicht schließen will.
Zurück in der Küche legte ich die gelb-orange gestreifte Baumwolldecke behutsam über Toms breite Schultern. Er rührte sich nicht, er schien tief zu schlafen.
Von der anderen Seite des Raums an den kleinen Schrank aus Kiefernholz, auf dem die Kochplatten standen gelehnt, betrachte ich ihn. Michael und Tom waren sich auch äußerlich sehr ähnlich, nachdem sie auch nur elf Monate auseinander waren konnte man sie glatt für Zwillinge halten. Toms Haar war einen Tick dunkler und weniger störrisch. Er hatte dieselben feinen Gesichtszüge, hohe Wangenknochen, große mandelförmige Augen. Nur dass seine dunkel waren. Dichte Wimpern umkreisten sie. Die Brauen formten einen ebenmäßigen Bogen. Seine Lippen waren schmäler, er hatte dieselben Grübchen, die sich vor allem beim Lachen abzeichneten. Seine Haut war gleichmäßiger, er hatte keine Sommersprossen. Er sah so friedlich aus.
Er trug wie immer die Kette mit dem Medaillon um den Hals, sie verlieh ihm etwas Feminines, passte nicht wirklich zu ihm, aber er legte sie nie ab. Er hatte den Anhänger mit der Hand fest umfasst, als wollte er etwas festhalten, bewahren. Seine Schultern bewegten sich im Rhythmus seiner gleichmäßigen Atemzüge. An was er jetzt wohl dachte, träumte er? Hoffentlich ein guter Traum. Seine langen Beine reichten bis zum anderen Ende des Tisches.
Er war noch athletischer als Michael, machte mehr Sport. Spielte Basketball, lief Langstrecke in einem Tempo bei dem keiner von uns mithalten konnte und war genauso wie seine Brüder ein guter Schwimmer.
Die perfektere Ausgabe von den beiden. Tom machte alles in seinem Leben ein Stück perfekter als alle anderen. Nur zu Frauen hatte er ein etwas eigentümliches Verhältnis, er behandelte sie wie Wegwerfartikel, warum war mir schleierhaft. Er war mein bester Freund. Ich war sehr dankbar, dass er da war.
Zurück im Wohnzimmer, suchte ich nach unserem medizinischen Lexikon, ich wollte einige Begriffe nachzuschlagen. Begriffe die der Arzt gestern Abend gebraucht hatte, in meinem Kopf bildeten sie bislang nur leere Worthülsen. Ich konnte mich an jeden einzelnen erinnern, mein Gedächtnis war schon immer exzellent. Das lag an den Spielen die ich schon seit frühester Kindheit machte, alles zu zählen, mir Dinge ganz genau einzuprägen und sie mir dann vor mein geistiges Auge zurückzuholen. Ich machte das um meiner Angst Herr zu werden und um mich aus dem Hier und Jetzt zu verabschieden, in meine Feenwelt zu flüchten. Halt zu finden.
In der Schule hatte mein außerordentlich gutes Gedächtnis mir viele Vorteile eröffnet, ich lernte schnell, konnte mir Dinge, die ich wissen musste kurzfristig exzellent merken und wie aus einem photographischen Gedächtnis abrufen.
In der Ecke des Raumes waren noch viele nicht ausgepackte Kisten gestapelt. Ich suchte weiter nach dem Buch, es musste irgendwo sein. Wir müssen unbedingt dieses Kistendurcheinander in den Griff bekommen dachte ich, man findet nichts auf Anhieb. Ich suchte eine nach der anderen systematisch durch. ‚Wir könnten einen eigenen Bücherladen eröffnen‘, ging es mir durch den Kopf. Bislang hatten wir nur einen Bruchteil unserer Bücher ausgepackt. Diese füllten jedoch bereits eine ganze Wand.
Wir wollten, sobald die Küche im ersten Stock fertig war, dort eine weitere Bücherwand installieren und eine weitere entlang der Treppe. Im Schlafzimmer lagen unsere Lieblingsbücher gestapelt auf dem Boden. Wir hatten vor, auch dort noch ein Regal zubauen. Endlich fand ich es in der vorletzten Kiste. Das Gesundheitslexikon war ein dickes Buch mit vielen Illustrationen und in blauem Leder gebunden. Es fasste sich schön an.
Die Liebe zu Büchern war ein weiterer Punkt, der uns verband.
Ich schlug den Begriff Polytrauma nach und fand folgendes:“ Definition nach TSCHERNE, 1978; ‚Unter einem Polytrauma versteht man ein gleichzeitig entstandenes Verletzungsmuster mehrerer Körperregionen oder Organsysteme, von denen mindestens eine Verletzung oder die Kombination mehrerer lebensbedrohlich sein müssen.‘
Klang nichtssagend, das wusste ich schon, es folgte eine Abhandlung der einzelnen Detailbilder, die ich schnell überflog. Jetzt war ich auch nicht schlauer als vorher. Danach blätterte ich weiter zum Buchstaben S. Der nächste Begriff war Schädelhirntrauma; „Unter einem Schädelhirntrauma (SHT) versteht man eine vorübergehende oder dauerhafte Schädigung des Gehirns als Folge der Einwirkung eines stumpfen oder penetrierenden Traumas. In der klinischen Beurteilung hat sich die 1974 von TEASDALE und JENNETT eingeführte Glasgow Coma Scale (GCS) international durchgesetzt. Sie dient der initialen Bestimmung der Schwere eines Schädelhirntraumas, der Verlaufsbeurteilung und der Prognoseabschätzung. Es erfolgt die Unterscheidung in
- Leichtes SHT: 15-13 Punkte
- Mittelschweres SHT: 12-9 Punkte
- Schweres SHT: 8-3 Punkte“
Ich konnte mir der Erklärung nicht viel anfangen. Klang wie böhmische Dörfer. Ich legte das Buch wieder weg. Irgendwie fehlte mir die innere Ruhe, um mich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Was bedeutete ein Traumawert von 8? War es gut, besorgniserregend, sein Todesurteil? Normalerweise wäre ich jetzt in die nächste Bibliothek und hätte mir sämtliche verfügbare Literatur besorgt, um den Sachverhalt bis ins letzte Detail zu verstehen. Auch eine Macke von mir, ich verspüre den Zwang, Dinge zu verstehen, damit ich sie begreifen kann, damit ich mich sicher fühle.
Wie eine Katze um den hießen Brei schlich ich um das Telefon. Starrte es an, wünschte mir es sollte klingeln, aber bitte nur mit guten Nachrichten. Überlegte ob ich im Krankenhaus anrufe, verwarf den Gedanken wieder. Nahm den Hörer in die Hand, fing an zu wählen, legte wieder auf. Die würden mir sowieso nichts sagen, für die war ich kein Familienmitglied. Wir waren noch nicht verheiratet. Sollte ich Sabine anrufen? Nein sie hätte bestimmt angerufen, wenn es irgendetwas Neues geben würde. Ich hypnotisierte das Telefon, es tat sich nichts. Ich lief hin und her, soll ich oder soll ich nicht? Die Ungewissheit zerfraß mich. Mit weichen Knien wählte ich die so gut bekannte Nummer. Beim ersten Klingeln hatte Sabine schon abgehoben.
„Hallo...“ hörte ich ihre vertraute Stimme in den Hörer hauchen, die Stimme die sonst einen dunklen, festen Klang hatte, klang jetzt zerbrechlich und rau.
„Hallo Sabine, ich bin’s”. Ich nahm einen Seufzer der Erleichterung wahr. „Hast du schon irgendetwas aus der Klinik gehört?“
„Ich hab vorher angerufen, es hat sich nichts verändert. Wir sollten uns darüber freuen, es bedeutet auch, dass es nicht schlimmer geworden ist.“
„Kann es überhaupt noch schlimmer werden?“ fragte ich mit bereits brüchiger Stimme, ich wollte nicht Heulen, aber der Klos in meinem Hals wuchs sekündlich. Ich schluckte ein paar Mal, kniff mich in den Arm.
„Wahrscheinlich nicht, ich begreife das Ganze nicht, irgendwie will ich es nicht wahrhaben. Mein armes Baby.“
Bei dem Gedanken, das sie Michael immer noch als ihr Baby bezeichnete, huschte unwillkürlich ein Lächeln über mein Gesicht, für sie würde er es wohl immer bleiben. Ich war einen Moment unaufmerksam.
„… ich bin nachdem wir aus der Klinik zurückgefahren waren, gleich zu meiner Mutter weiter gefahren. Ich war die ganze Nacht bei ihr. Ramona hat bei uns zu Hause das Telefon bewacht. Sie kann es gar nicht fassen.“
„Wie geht es ihr?“
„Sie ist nur noch ein Häufchen Elend. Micha war schon immer ihr Lieblingsenkel.“
„Ich weiß, sie hängt sehr an ihm, bei ihr ist er immer Kind.“
„Ist Tom bei dir?“
„Ja, er schläft in unserer Küche. Wann fährst Du wieder hin?“
„Ich gehe jetzt Duschen und danach fahre ich los, mich bringt die Warterei noch um. Ich komme mir vor wie ein Tiger im Käfig.“
„Ich komme später mit Tom, wenn irgendetwas ist, ruf mich bitte an.“
„Klar, er ist stark, er wird es schaffen, bis später“, sagte sie mehr zu sich selbst zum Abschied.
Ohne ein Geräusch zu verursachen ging ich zurück auf die Dachterrasse. Dicker Nebel lag noch über dem Fluss, inzwischen war es ganz hell. Hier oben fühlte ich mich ihm nah. Wir hatten uns sofort beide in das Haus verliebt, als wir es das aller erste Mal besichtigt hatten. Es war das einzige weit und breit, das ein flaches Dach hatte. Der grandiose Ausblick hoch über den Dächern der Stadt war unbezahlbar, wenn die Sicht gut war, konnten wir das gesamte Alpenpanorama der Werdenfelser und Allgäuer Alpen sehen. Unser Haus war bereits über zweihundert Jahre alt, es hatte solide dicke Mauern. Es war unser Heim, unsere Burg, in die wir uns zurückziehen konnten. Das Haus steht in Mitten des historischen Hexenviertels. Wir mussten viel Überzeugungsarbeit im Vorjahr bei meinen Eltern leisten bis ich die Erlaubnis bekam, es gemeinsam mit Michael zu kaufen.
Sie hielten es für eine wahnwitzige Idee, ihnen ging die Geschichte mit Michael viel zu schnell. Wieder so sinnlos verschwendete Energie, warum taten wir uns solche Dinge nur gegenseitig an? Wir hatten uns gegenseitig sehr verletzt. Beim Kampf gab es keine Gewinner. Am Ende hatte ich mich durchgesetzt, aber um welchen Preis.
Liebevoll hatten wir es das letzte Jahr über renoviert, waren aber lange noch nicht fertig. Es hatte drei Stockwerke, die Front war schmal mit vielen Fenstern. Nach hinten bot es viel Platz, hatte aber keine Fenster, da die Häuser aneinander gebaut waren wie viele Häuser in der Gegend.
Als wir es kauften hatte es viele lange schmale Zimmer. Michael und ich hatten mit Toms Hilfe einige Wände eingerissen und somit größere Räume geschaffen. Es war noch viel zu tun, im Moment lebten wir hauptsächlich in Provisorien.
Ich musste daran denken, wie lange wir kein fließendes warmes Wasser gehabt hatten. Ein Luxus den ich sehr vermisst hatte. Wenn ich mir die Haare waschen wollte musste ich Wasser in der Küche auf unseren Kochplatten heißmachen. Danach habe ich es töpfeweise ins Bad getragen, na ja, mein Bad war halt nur lauwarm. Den ganzen letzten Sommer lang. Trotzdem erschien mir die Zeit wundervoll. Ich dachte an letzten Sommer.
Draußen war es heiß. Ich hatte mir Bademilch ins Wasser gemixt. Es roch betörend nach Maiglöckchen. Ich wusch meine Haare und rief Micha damit er mir beim Abspülen half. Das ging zu zweit eindeutig besser. Er goss mir aus einem Topf lauwarmes Wasser über den Kopf, um den Schaum aus meinen langen Haaren zu waschen.
Seine Hilfe barg Zärtlichkeit und Fürsorge in sich. Er liebte meine langen Haare, spielte gerne damit, manchmal half er mir auch beim Kämmen. Schon wieder füllten sich meine Augen mit Tränen.
Ich schaute zum Himmel und fragte mich ein weiteres Mal: Warum!?!
Warum konnte dieses Auto nicht 20 cm weiter auf seiner Fahrbahnseite fahren, warum sind wir nicht fünf Minuten früher losgefahren? Warum musste der Mann seine Zigaretten ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt suchen? Warum? Es war so sinnlos. Warum hat Micha selbst nicht früher reagiert? Warum waren wir zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort? Wo war der Sinn in dem Ganzen? Es war unbegreiflich. Warum!
Das Knarzen der Dachbodentreppe, die auf die Dachterrasse hinauf führte, verriet mir, dass Tom wach war. Im nächsten Moment sah ich ihn durch die Luke empor steigen. Ich versuchte ihn anzulächeln. Der Versuch missglückte. Er kam auf mich zu, nahm mich in den Arm, hielt mich fest, sodass es fast schmerzte.
Das Warten lähmte uns, es machte blind und taub, verwandelte die Welt um uns herum in konturlose Schatten. In mir stiegen Gefühle hoch gegen die ich nicht gewappnet war, ich atmete wie bewusstlos, unterbrochen von tiefem Schluchzen. Bilder flimmerten vor meinem inneren Auge vorbei. Ich versuchte sie zu erfassen, ehe sie in der Dunkelheit versanken. Ich sah Michael deutlich, lächelnd, die Gedanken brachten mich fast um. Tom ging es nicht viel besser.
Unser Atem stockte, unsere Herzen pochten schwer, weil die Katastrophe mit jeder Minute realer wurde. Wir standen eine ganze Zeit eng umschlungen da, mir liefen Tränen über das Gesicht. Ich konnte nichts sagen. Ich wollte schreien, aber ich brachte keinen Laut heraus.
Tom hatte auch Tränen in den Augen. Die Erinnerung an das Geschehene war so präsent, sie war so überwältigend, jede Pore meines Herzen zog sich in Panik zusammen bei dem Gedanken, Michael zu verlieren.
Gegen Mittag fuhren wir mit Toms Motorrad ins Krankenhaus. Als wir uns vor dem Haus anzogen fragte er mich, „Ist es wirklich ok für dich oder willst du lieber Auto fahren?“
„Nein, so sind wir schneller.“
Er bestieg sein Motorrad und ich setzte mich hinter ihn. Tom drehte den Zündschlüssel auf Fahrstellung und drückte den Elektrostarter. Mit einem entschiedenen Fauchen erwachte der Motor zum Leben. Im nächsten Moment gab die Kawa das so vertraute dumpfe Röhren von sich, lief mit höheren Touren, da der Choke gezogen war. Tom drehte sich um, “Alles ok?“
Ich nickte und umklammerte seine Taille. Er trat den ersten Gang nach unten, die Kupplung rastete ein. Er verlagerte das Gewicht und schaute sich ganz automatisch um, ob sich ein anderes Fahrzeug nähert bevor er los fuhr. Die Maschine setzte sich kraftvoll in Bewegung. Sicher ließ er sie den Berg hinunter rollen, schaltete in den zweiten Gang, gab Gas und bremste gleich wieder an der nächsten Kreuzung. Ich rutschte ein Stück nach vorn. Um in Richtung Weilheim zu kommen, mussten wir erst den Kern der Altstadt umfahren, alle Straßen waren zu Einbahnstraßen erklärt worden. Das überall vorhandene Kopfsteinpflaster brachte uns und das Motorrad zum Vibrieren.
Tom fuhr gelassen und sicher. Meine Gedanken eilten voraus, was würde uns erwarten? In meinem Inneren hatte sich eine beklemmende Angst festgesetzt. Ich hielt mich an Tom fest, seltsamer Weise beruhigte das Motorradfahren meine Nerven, es fühlte sich an wie ein sanftes hin und her wiegen. Motorradfahren verband ich unbewusst mit vielen guten Erinnerungen.
Die Landstraße schlängelte sich durch die Dörfer. Dazwischen Felder, Wald und Wiesen, saftig grün, Blumen wie bunte Tupfen am Straßenrand, Weizen, der noch grün war, der Mais noch nicht zu seiner vollen Höhe aufgeschossen. Es roch nach Bergwiese und frischem Gras.
Die Sonne schien, es war ein warmer Tag, nur wenige kleine weißen Wölkchen am strahlend blauen Himmel. Die Dörfer sahen so idyllisch aus, ordentliche Gärten, die Häuser gepflegt, mit prächtigen Geranien an den Balkonen. Alles wie vor ein paar Tagen, als wäre nichts gewesen.
Tom überholte einige Autos, fuhr an den wenigen Ampeln, an denen wir halten mussten, immer an die Spitze der wartenden Fahrzeuge. Er stand so sicher mit seinen langen Beinen, er hatte kein Problem den Boden zu erreichen. Ich berührte nur mit den Zehenspitzen den Asphalt wenn ich selber fuhr. Ich fuhr gerne, blieb aber nicht gerne stehen, weil ich dann unsicher war. Ich hielt mich mit beiden Armen an ihm fest, spürte die langen geschmeidigen Muskeln.
Tom erhöhte die Geschwindigkeit, die Kawa dröhnte, ich spürte kaum Fahrtwind hinter seinem breiten Rücken. Ich schloss die Augen.
Ich hatte das Gefühl in die Tiefe zu sinken, im Sog eines Strudels meiner Erinnerungen unterzugehen. Ich stellte mir vor, nichts wäre wahr, Michael und ich machten einen Ausflug. Das kernige Dröhnen des Motorrads vermischte sich mit dem Fahrtwind, zu einer eigenen Melodie. Die Kurven waren nur durch ein sanftes Schwingen von einer zur anderen Seite spürbar. Ich folgte dem vorgegebenen Rhythmus ganz unbewusst, lies mich treiben. Ich hätte unendlich so zwischen Traum und Wirklichkeit dahin gleiten können. Jäh riss mich das Fehlen der beruhigenden Geräuschkulisse aus meinen Gedanken. Tom hatte den Motor abgestellt, wir waren da.
Ich stieg ab, schluckte einige Male, um meine Fassung zurückzuerlangen, setze meinen Helm ab und hängte ihn an den Lenker. Wortlos liefen wir das kurze Stück bis zum Eingang.
Es war, als wäre die Zeit stillgestanden. Alles war noch genauso, wie wir es in der Nacht verlassen hatten. Der einzige Unterschied war, dass auf der Station nun geschäftiges Treiben herrschte. Wir sprachen mit einer jungen Ärztin die Dienst hatte, sie sagte uns, dass es noch keine weitere Stabilisierung gebe, sein Leben hänge immer noch an einem seidenen Faden, man müsse abwarten. Wir fragten ob wir zu ihm dürften, ja aber nur ganz kurz. Sabine hatte ihr Einverständnis gegeben, dass ich ihn jederzeit besuchen konnte.
Wir mussten uns wieder grüne Kittel überziehen. Der Raum hatte noch immer die gleiche gespenstische Ausstrahlung. Michael lag noch genauso im Bett wie wir ihn ein paar Stunden zuvor verlassen hatten. Das normale Klinikbett mit seiner Begrenzung an beiden Enden war zu kurz für ihn, man hatte ihn diagonal gelegt. Er sah, verglichen mit den anderen Patienten, aus, als ob er nicht ins Schema passen würde. Unbeweglich, wie eine Hülle, eine Puppe, die verrutscht war, schoss es durch meine Gedanken.
Sein Gesicht hatte sich verändert, seine Züge wirkten eingefallen. Seine Augen waren immer noch fest geschlossen und inzwischen blutunterlaufen, er sah aus wie eine Eule.
Ich hätte ihn gerne umarmt, festgehalten, so wie wir es immer machten. Ich weinte still. Auf dem Monitor war die gleiche Kurve wie in der Nacht zu sehen, springende grüne Punkte, die miteinander verbunden waren. Das war gut so. Er piepte monoton vor sich hin. Diese kleinen Ausschläge am Monitor sollten in den nächsten Wochen noch zu etwas sehr Beruhigendem für mich werden. Solange die Ausschläge da waren bedeutete das, dass er noch lebte. Sein Herz schlug noch.
Ich nahm seine Hand und redete still mit ihm. Sie fühlte sich kalt an. Ich strich über sein Gesicht. Das Beatmungsgerät gab zischende Geräusche von sich. Tom stand da und beobachtete uns beide. Tom und ich tauschten ein kurzes schmerzliches Lächeln aus.
Ich konnte Michaels Nähe spüren. Hell wach und gleichzeitig wie in Trance spürte ich die völlige Andersartigkeit der Situation durchwebt von dem surrealen Gedanken, dass es sich nur um einen bösen Traum handelte. Die Empfindung war verwirrend, es war wie ein Schock, verbunden mit dem fast kindlichen Glauben, dass es eine heile Welt geben musste.
Ich sehnte mich nach ihm, hatte das Gefühl an meinem Kummer zu ersticken. Jeglichen Halt zu verlieren und vom Strom meiner nicht mehr kontrollierbaren Gefühle mitgerissen zu werden. Meine Knie wurden weich, Tom hielt mich fest. Er löste meine Hand aus Michaels und sagte, es sei besser wenn wir wieder gingen. Ich folgte ihm stumm. Konzentrierte mich darauf, ein Bein vor das andere zu setzen. Es kostete mich fast übermenschliche Kraft nicht loszulassen und zusammenzubrechen.
Auf diese Weise vergingen endlose Tage. Einer wie der andere, alle jedoch irgendwie gleichförmig, voller Verzweiflung, immer geklammert an den zarten Strohhalm, das er es schon schaffen würde.
Michael war jung, athletisch und gesund. Vielleicht morgen, vielleicht wacht er dann auf. Nach einer Woche hatte sich sein Zustand soweit stabilisiert, dass er außer Lebensgefahr war, nur wollte er nicht aufwachen. Die Stationsärztin versuchte uns zu beruhigen, sie erklärte uns, dass es bei derart schweren Verletzungen öfters zu einer länger anhaltenden Bewusstlosigkeit kommen könne. Wir sollten versuchen die positiven Aspekte zu sehen, sein Kreislauf sei nun stabil, er atme selbstständig und das EEG sähe gut aus. Und er hatte die erste Folgeoperation den Umständen entsprechend gut verkraftet.
Ich hatte trotzdem Angst, es war wie ein einziges Meer voll dunkler Wolken. Die schreckliche Angst ihn zu verlieren überlagerte alles. Sie lähmte mich. Ich redete mir immer wieder selbst gut zu. Nur nicht den Glauben verlieren, der Kampf sei noch nicht verloren. Mein Leben lief wie ferngesteuert. Ich konnte die Situation nur ertragen, indem ich alle Gefühle verbannte. Indem ich das verletzliche Kind in mir ganz weit weg sperrte, es in einen dunklen Kerker schloss, nur um nicht verrückt zu werden. Panik wuchs von allen Seiten hoch, wie schwarze Wände. Aber noch Schrecklicher konnte es nicht mehr werden, bestimmt nicht. Denk nicht daran. Das Einzige was ich wollte war bei ihm sein, ganz nah, ich wollte ihn nicht gehen lassen. In stillen Gesprächen habe ich ihn gebeten, ihn angefleht zurückzukommen. Nicht aufzugeben, weiter zu kämpfen.
Die Nächte waren am schlimmsten, Nacht für Nacht wachte ich mit denselben Alpträumen auf. Konnte erst nicht einschlafen, spielte in Gedanken das Was-Wäre-Wenn-Spiel. Versuchte, die in mir aufsteigende Panik zu unterdrücken, meinen Verstand die Oberhand gewinnen zu lassen. Zählte Gegenstände, spielte mit Zahlenreihen um mich abzulenken.
Doch das alles beherrschende Gefühl war Angst, bodenlose, panische Angst, die mich langsam von innen auffraß. Was wird sein, wenn Micha nicht mehr aufwacht, was, wenn diese kleine Maschine nicht mehr piept. Ich besuchte ihn jeden Tag, redete mit ihm, las ihm aus unserem Lieblingsband von Lord Byron oder aus dem Ulysses vor, hielt seine Hand, und hatte jeden Tag, wenn ich die Station betrat Angst, dass das Bett leer sein könnte.