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Kapitel 4

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Im Juli wurde die Fußball WM in Spanien immer spannender. Die Spiele waren eine willkommene Ablenkung und Deutschland war wie durch ein Wunder durch alle Vorrundenspiele gelangt. Am Vorabend hatte Deutschland im Halbfinale der WM in einem Fußballkrimi Frankreich im Elfmeterschießen besiegt.

Eigentlich interessierte mich Fußball nicht sonderlich. Tom hatte darauf bestanden, dass ich mitkomme und mir das Spiel mit den anderen in unserer Stammkneipe anschaue. Er wollte nicht, dass ich Abend für Abend allein zuhause sitze und grüble.

Es war verblüffend, wie sehr sich die Volksseele anlässlich eines Fußballspiels verbrüdern konnte. Und wie nah Freude und abgrundtiefe Enttäuschung beieinander lagen.

Während Frankreich sich nach einer 3:1 Führung in der Verlängerung bereits im Finale wähnte, schaffte es die deutsche Mannschaft nochmals, sich zurück ins Spiel zu kämpfen und erzielte den Ausgleich.

Nach 120 Minuten stand es 3:3 und die Partie ging ins Elfmeterschießen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Alle hielten den Atem an, schauten gebannt auf die Mattscheibe in der Ecke des Raums. Bei jedem Schuss der deutschen Mannschaft aufs Tor die Hoffnung, dass der Ball hinein geht. Immer abwechselnd. Schlimmer konnte kein Thriller sein.

Auch im Stadion herrschte kurz vor jedem Schuss eine Grabesstille. Dann, nach jedem Tor, lauter und unbändiger Jubel. Wie lange sollte das noch so weiter gehen?

Maxime Bossis legte sich den Ball zurecht, trat an und scheiterte beim letzten Elfmeter. Der Jubel in der Kneipe und bei den deutschen Fans im Stadion kannte keine Grenzen, alle lagen sich in den Armen. Er brachte Frankreich damit um das Finale.

Deutschland, das mit einem Bein bereits ausgeschieden war, war zurück wie der Phönix aus der Asche. Finale! Wer hatte daran noch geglaubt! Die ganze deutsche Fußballnation schwebte im siebten Himmel.

In der Zusammenfassung des Spiels wurde die brutale Attacke von Toni Schumacher, dem deutschen Torhüter, gegen Patrick Battiston wiederholt. Er wurde dabei so schwer verletzt, dass er bewusstlos vom Platz getragen werden musste. Die Szene hatte für zusätzliche Frustration gesorgt und dafür, dass sich die Franzosen ungerecht behandelt fühlten.

Die Szene mit dem Torhüter verfolgte mich im Schlaf. Sofort waren die Gespenster wieder präsent. In dieser Nacht träumte ich einen sehr verworrenen Traum, eine neue Variante, ein Mix aus dem Fußballspiel und dem Unfall.

Ich wälzte mich in dem großen, doch so leeren Bett umher. Schreckte immer wieder hoch, stand auf, lief etwas umher. Holte mir Michas Lieblingspulli, rollte ihn zusammen und legte meinen Kopf darauf. Sog den vertrauten Geruch ein. Und weinte. Er fehlte mir so sehr. Ich versuchte an etwas Schönes zu denken, an unsere guten Zeiten.

Ich versuchte mir seine Stimme ins Gedächtnis zu rufen, wenn er mir ein Gedicht vorlas. „Once a Perfect Woman“ von Paul Wilson kam mir in den Sinn. Ich konnte seine tiefe, sanfte, samtene Stimme in meinem Inneren hören.


Letzte Nacht träumte sie wieder, sie könne fliegen.

Es war einfach atemberaubend.

Sie musste sich nur konzentrieren, und schon hob sie ab.

Sie schwebte über dem Boden.

Mit ihrer Willenskraft allein konnte sie bestimmen, wie hoch sie flog und wie lange.

Losgelöst von der Erde, hinauf und hinunterschwebend, zog sie ihre Kreise. ...‘


Ich hätte ihm ewig zuhören können, er hatte eine faszinierende Stimme, dunkel und klangvoll, erotisch. Ich dachte über das Gedicht nach, ‚mit ihrer Willenskraft allein konnte sie bestimmen...‘ Wenn man will schafft man alles, das ist wirklich wahr. Ja, wir werden es gemeinsam schaffen, ich muss nur fest genug daran glauben. Keine Zweifel mehr, alles wird gut.


War das schon wieder dieser elende Wecker, dieses Folterinstrument? Es konnte noch nicht Morgen sein. Ich war doch erst vor fünf Minuten eingeschlafen, so fühlte es sich jedenfalls an. Gehörte das Geräusch zu meinem Traum?

Ich blinzelte, es war noch nicht richtig hell. Ich hielt mir die Ohren zu, jetzt drehe ich durch. Es dauerte einen Moment bis ich das schrille Klingeln als das Klingeln des Telefons erkannte. Irgendwie hatte es sich mit meinem Traum vermischt.

Ich nahm es nicht gleich als real wahr. Doch dann war ich schlagartig hellwach, ich dachte das ist der Anruf, vor dem ich mich so sehr gefürchtet hatte. Er ist tot. Panisch rannte ich die Treppe hinunter. Nahm zwei Stufen auf einmal. Tausend Gedanken stürmten auf mich ein. Ein Anruf um diese Zeit konnte nichts Gutes bedeuten.

Ich blieb kurz vor dem immer noch läutenden Telefon stehen. Starrte es an, hatte Angst abzuheben. Einen Atemzug später hatte ich den Hörer in der Hand, ich erschrak erst Mal vor der wiedereingekehrten Stille.

„Hallo?“ hauchte ich ins Telefon. Meine Stimme versagte, ich bekam keine Luft mehr. Ein Schreckensszenario nach dem anderen lief in Windeseile wie ein Film in mir ab. Da war sie wieder, die bodenlose Panik, sie erstickte mich fast. Ich glaubte ins Unendliche zu fallen. Der Hörer zitterte in meiner Hand.

„Miriam, hier ist Sabine, alles ist gut.“ Dann sagte sie überglücklich, „er ist aufgewacht“. Es sprudelte voller Freude aus ihr heraus, „er ist ansprechbar, ich hoffe ich habe dich nicht zu sehr erschreckt, aber ich dachte du solltest es gleich wissen. Ich fahre zu ihm, willst du mit?“

Was für eine Frage, selbstverständlich wollte ich mit.

„Ja, soll ich zu dir kommen oder holst du mich ab?“

„Ich hole dich in einer viertel Stunde ab, bis gleich“, antwortete Sabine.

Mein Herzschlag setzte für ein zwei Takte aus. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Tränen liefen mir vor Erleichterung übers Gesicht.

Michael war vor ungefähr einer Stunde zu sich gekommen. Er war ansprechbar, er reagierte! Mir fiel ein tonnenschwerer Stein vom Herzen. Ich wollte zu ihm, sofort! Ich hätte die ganze Welt umarmen können. Hastig zog ich mich an, putzte mir die Zähne, duschen konnte ich später noch, einmal durch die Haare gekämmt und eine Spange. Fertig. Ich brauchte keine zehn Minuten.

Sabine stand eine viertel Stunde nach dem Anruf vor meiner Tür. Ich stieg zu ihr ins Auto. Wir umarmten uns. Hielten uns einen Moment gegenseitig in den Armen.

Auf der Fahrt schwiegen wir, irgendwie hatten wir beide Angst davor, was uns erwarten würde. Waren überwältigt von der Unvorhergesehenen und doch so sehnlich herbeigewünschten Wendung. Die Straßen waren zu der frühen Stunde noch ganz leer. Es war kurz nach halb fünf Uhr morgens. Ich war ihr dankbar, dass sie es mir gleich mitgeteilt hatte.


Auch in der Klinik herrschte noch die Stille der Nachtschicht, von der morgendlichen Betriebsamkeit war noch wenig zu spüren. Das Krankenhaus war in eine gespenstische wirkende Ruhe getaucht. Die Gänge waren menschenleer, verlassen im grellen Neonlicht. Mir fiel auf, dass alles einen Grünstich hatte.

Als wir auf der Station ankamen war niemand zu sehen. Da überkam mich das erste Mal der Gedanke, dass keine Besuchszeit war. Was soll’s, dann warten wir halt. Sabine ging ins Schwesternzimmer, ich folgte ihr. Zwei Schwestern befanden sich im Raum, die eine trug Werte in die Krankenblätter ein, die andere lehnte am Schrank mit einer Kaffeetasse in der Hand. Wir kannten uns bereits, ich lächelte die Stationsschwester an.

Wir tauschten ein paar Höflichkeiten aus. Sie wussten schon darüber Bescheid, dass wir kommen würden, eine der beiden hatte Sabine angerufen.

Sie nickte in Richtung Michas Zimmer.

Schnell zogen wir uns den grünen Kittel über, wir kannten uns in der Zwischenzeit sehr gut mit dem Prozedere auf der Station aus. Als wir in den Raum betraten, war ich enttäuscht, denn er lag genauso regungslos im Bett wie immer. Es sah aus als würde er schlafen.

Was hatte ich erwartet? Als ich neben dem Bett stand konnte ich sehen, dass er die Augen geöffnet hatte und an die Decke starrte. Sabine stand auf der anderen Bettseite. Sie hatte ganz feuchte Augen. Ich sagte leise „Hallo“ und strich ihm über den Kopf. Er hatte uns längst bemerkt, die Pupillen bewegten sich. Ich sah in seine Augen, sie hatten einen müden, matten Glanz, es wirkte als sei er in einer anderen Welt.

Diese wunderschönen großen, blauen, warmen Augen, sie hatten mich von Anfang an verzaubert. Oft dachte ich mir, in ihnen liegt die Seele der ganzen Welt, er musste mich nur ansehen und ich konnte nur noch dahin schmelzen. Es waren ungewöhnlich klare Kinderaugen, umrandet von einem dichten Kranz langer, pechschwarzer, leicht geschwungener Wimpern. Es war ein intensives Blau, manchmal funkelten sie dunkel wie Saphire mit kleinen goldenen Sprenkeln.

Sie standen in einem harten Kontrast zu seinen sandblonden Haaren, zu seinen Zügen und seiner Statur, aber gerade dieser Kontrast bildete den besonderen Reiz. Diese Augen die so sehr vor Begeisterung und Freude strahlen konnten und die manchmal so viel Traurigkeit ausdrückten.

Ich nahm seine Hand, sie war kalt. Seine Blicke schweiften zwischen Sabine und mir hin und her. Er konnte nicht sprechen, bewegte nur wie angedeutet den Kopf. Ich spürte während ich ihn ansah meine trockene Kehle, die Atemlosigkeit, den schnellen Herzschlag, alles Anzeichen von Furcht, die keine Furcht war. Sein Blick schweifte zu mir herüber. Ich schwieg, lächelte ihn an, strich ihm zärtlich über die Wange. Trotz allem war ich glücklich.

Hoffnung keimte auf, dass es vielleicht doch noch wieder wie früher werden könnte. Überleben, leben, nur das zählte jetzt. Nur nicht zu weit in die Zukunft planen, das Hier und Heute war wichtig. Es war ein Tag zum Feiern.

Sabine sprach leise mit ihm, sie streichelte ihn. Seine Augen bewegten sich zu ihr. Er schien uns zu erkennen. Ein gutes Zeichen. Wir waren beide unendlich erleichtert und glücklich. Sabine küsste ihn zum Abschied auf die Stirn. Er war endlich aufgewacht. Wir hatten ihn zurück.


Tom kam am Abend zu mir, wir kochten uns Tee und redeten. „Hat er schon irgendetwas gesagt, als ihr da ward?“ fragte er mich.

„Nein, aber er hat die Augen bewegt, ich glaube er hat uns erkannt. Ich bin so erleichtert, ich bin so froh, dass er aufgewacht ist.“

Ich wollte mir einreden, dass alles gut werden würde, dass das Schlimmste überstanden war. Die Zukunft schönreden. Ich redete unaufhörlich, vor allem um, mich selbst zu überzeugen.

Tom war sehr nachdenklich, ich nahm ihn in den Arm. Er schüttelte den Kopf, es bedrückte ihn etwas. Die ganze Zeit schon, aber er wollte nicht darüber reden. Auch wenn er es nicht aussprach beschäftigte ihn seit dem Unfall die Frage: Warum Michael, warum nicht ich?

Normalerweise fuhr Tom immer als erster, was für einen Grund gab es an dem Freitag die Reihenfolge zu ändern? Keinen. Es hatte sich so ergeben, Michael hatte bereits in der kleinen Straße gewendet und stand vor ihm. Er brauchte etwas länger weil, er noch den Handschuh, der heruntergefallen war, aufheben musste. Gab es so etwas wie Schicksal?

„Glaubst du er wird wieder?“ fragte er mich abwesend und spielte mit einer Hand mit dem Medaillon, das er nie ablegte.

„Ich weiß es nicht, will gar nicht an morgen oder übermorgen denken. Es macht mir Angst und ich fühle mich so hilflos. Der Arzt sagt, immer nur wir müssten abwarten und Geduld haben. Wie lange?“

„Ich kapier das Ganze einfach nicht, es ist so sinnlos….“


Fortschritte machten sich nur schleichend bemerkbar. Die Wochen die folgten waren schwer, mikroskopisch kleine Schritte nach vorne und immer wieder herbe Rückschläge. Es war wie Achterbahn fahren. Es war ein Bangen und Hoffen, bitte überlebe. Sein Körper war böse mitgenommen von dem Unfall. Seitdem er stabil war, konnten weitere Folgeoperationen durchgeführt werden. Sie setzten ihm sehr zu, er verkraftete sie nur schwer. Jedes Mal brauchte er lange um sich zu erholen.

Er bekam Fieber, hatte Kreislaufprobleme. In seinem Körper wimmelte es inzwischen von Nägeln und Platten, die die gebrochenen Knochen zusammenhielten und fixierten. Die Sorge um ihn brachte mich fast um. Ich machte mir viele Gedanken. Jetzt, nachdem er wach war, spürte er die Schmerzen. Er bekam Medikamente, er litt trotzdem.

Es fiel mir sehr schwer zuzusehen, denn ich konnte nichts tun. Diese Ohnmacht in der Situation war kaum zu ertragen. Er konnte nicht sprechen, seine Lippen waren ganz blass und spröde. Das Gesicht eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen, die Blutergüsse unter den Augen waren zwar verschwunden, dafür hatten sich dunkle Schatten gebildet. Er war sehr blass. Seine Finger bewegten sich in einem ruhelosen Greifen. Ich konnte nur erahnen was in ihm vorging. Er sah verzweifelt aus. Mit der Zeit klammerte er sich nicht mehr ans Leben, es war ihm gleichgültig geworden.

Ich liebte ihn über alle Maßen, mein Innerstes krümmte sich beim Gedanken, dass ich ihn immer noch zu jeder Zeit verlieren könnte. Die Aura des Todes umgab immer noch seine inzwischen seht zerbrechliche Gestalt. Ich lief vor der Gewissheit davon, dass zwei Sekunden Unachtsamkeit unser ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatten, ich hatte schreckliche Angst vor der Zukunft, vor der Ungeheuerlichkeit dessen, was noch auf uns zukommen würde.


Zusätzlich zu der alles überschattenden Sorge um Michael gab es auch noch den Alltag. Das war anders als in den amerikanischen Serien, die im Fernsehen liefen. Bei denen gab es immer ein Happy End, und die Angehörigen hatten kein Leben außerhalb einer treusorgenden Familie und guter Freunde. Ich musste arbeiten, einkaufen, den Alltag bewältigen.

Zu allem Überfluss hatte ich massive Geldsorgen, meine Finanzen verschlechterten sich von Tag zu Tag. Auf einmal musste ich von meinem Praktikanteneinkommen und dem, was ich am Wochenende im Glamour dazuverdiente, überleben.

Nachdem solche Katastrophen immer nur anderen passieren, und das Geschehene völlig außerhalb unseres Denkens lag, hatten wir für eine Situation wie diese keinerlei Vorkehrungen getroffen. Deshalb hatten wir auch keine gegenseitige Bankvollmacht.

Micha bekam von alldem nichts mit, er befand sich im Stadium eines Kleinkindes. Die Raten für das Haus wurden von seinem Konto per Dauerauftrag abgebucht, und den Löwenanteil unseres Lebens finanzierte normalerweise Michael. Es hatte bislang prima funktioniert. Jetzt nicht mehr. Von dem Bisschen, das nach den festen Ausgaben übrig blieb, musste ich Lebensmittel und Benzin und meine Fahrkarte und alles, was ich sonst noch brauchte, kaufen. Es reichte nicht. Zusätzlich hatten sich etliche unbezahlte Rechnungen für Baumaterial und Strom angesammelt. Die bezahlte normalerweise auch Micha. Michas Sold war auf seinem Konto eingefroren.

Für mich war es frustrierend. Ich hatte mein Konto schon massiv überzogen und überlegte, wie ich noch mehr einsparen konnte. Irgendwie wuchsen die Ausgaben ständig. Verzweifelt suchte ich nach Lösungswegen. Ich griff nach jedem Strohhalm, der sich mir bot, einer war, die Monatskarte einzusparen und mit dem Zug schwarzzufahren.

Ich mochte es zwar nicht, ich fühlte mich unwohl mit all den vielen Menschen um mich herum. Ich lebte in der ständigen Angst ertappt zu werden. Das Bahnfahren kostete viel Zeit, ich wäre unter den gegebenen Umständen lieber die ganze Strecke mit dem Auto gefahren oder mit der S-Bahn, aber die zusätzlichen Benzinkosten konnte ich mir nicht leisten. Ich versuchte, dem Schaffner aus dem Weg zu gehen oder mich schlafendzustellen. Immer in der Hoffnung mich so durchzumogeln. Es hat zum Glück oft geklappt, aber ich bin nun mal nicht zum Schwarzfahren geboren, mein Herz schlug mir jedes Mal bis zum Hals. Und es war nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Mein Stolz stand mir im Weg, ich stand mir im Weg. Ich wollte weder meine Eltern, in keinem Fall Sabine, nicht einmal Tom um Hilfe bitten und ich versuchte, mir nichts von meinen Problemen anmerken zu lassen. Ich wollte es allein schaffen und überlegte fieberhaft wie.

Eine Maßnahme war mehr nebenher zu arbeiten. Ich sprach mit Martin, dem Geschäftsführer des Glamours und fragte ihn, ob ich ein weiteres Wochenende und zwei Tage unter der Woche zusätzlich arbeiten könnte. Er reagierte nicht gerade begeistert auf meinen Vorschlag, ich musste mich voll ins Zeug legen um ihn zu überzeugen.

„Schaffst du das, du siehst doch jetzt schon hundemüde aus.“

„Martin ich drehe noch durch wenn ich abends allein zu Hause sitze. Ich brauche Ablenkung und das Geld, ich schaffe das schon“, drängte ich ihn.

„Wie geht es Micha?“

„Er ist wach, es geht langsam bergauf.“

„Das Ganze wirkt immer noch so unglaublich, es ist unfassbar.“ Er zündete sich während er mir ausweichend antwortete, eine Zigarette an.

„Komm gib mir eine Chance, ich schaffe das schon. Wenigstens Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, ok? Und alle vier Wochenenden“, bohrte ich weiter nach.

„Lass es uns probieren“, willigte er letztendlich ein.

Er war von meiner Idee nicht überzeugt, ich glaube er hatte Mitleid mit mir. Er glaubte, dass ich mich übernähme. Er kam mir soweit er es verantworten konnte entgegen. Und schützte mich vor mir selbst. Er gab mir eine Chance, vielleicht auch weil er spürte, wie wichtig es für mich war.

In meinem Wortschatz fehlten schon seit meiner Kindheit ein paar Vokabeln, „Ich kann nicht“ und „niemals“ und „kannst Du mir helfen“. Es fiel mir so unsagbar schwer um Hilfe zu bitten oder wenn sie mir angeboten wurde, sie anzunehmen. Irgendetwas sträubte sich in mir, ich ging bewusst über meine Grenzen. Manchmal hasste ich mich für meinen falschen Stolz. Das Problem lag in meiner Verletzlichkeit, ich hatte Angst abgewiesen zu werden. Oder angreifbar zu sein, Schwäche zu zeigen, sie einzugestehen. Am meisten schadete ich mir mit dem Verhaltensmuster selbst.


Im Nachbarhaus wohnte ein nettes älteres Ehepaar, sie sollten meine nächste, zusätzliche Einkommensquelle werden. Ich hatte ihnen schon hin und wieder bei kleinen Besorgungen geholfen. Die beiden waren ganz reizend, ihre eigenen Kinder lebten in einer anderen Stadt. Sie hatten keinen, der sie in ihrem Alltag unterstützte. Wir hatten uns bei diversen Gesprächen beim Bäcker und auf der Straße vor dem Haus kennengelernt. Letztes Jahr, als wir das Haus gekauft hatten und anfingen zu renovieren, waren unsere Nachbarn erst mal sehr gespannt darauf, wer denn die Neuen sind. Unsere Nachbarn waren mehr als überrascht gewesen, als sie feststellten, dass in ihren Augen noch Kinder das stark renovierungsbedürftige Haus gekauft hatten. Frau Weber schenkte uns oft Kuchen. Ihr Mann gab uns viele hilfreiche Ratschläge für den Umgang mit der Denkmalschutzbehörde. Wir hatten uns mit den beiden angefreundet, und Frau Weber liebte es uns zu bemuttern. Als ich Frau Weber das nächste Mal auf dem Gehsteig vor dem Haus traf, nahm ich all meinen Mut zusammen. Es fiel mir nicht leicht, nachdem wir erst einige Zeit über Belanglosigkeiten und Michael gesprochen hatten, fragte ich, ob sie Hilfe im Haushalt gebrauchen könnte. Glücklicherweise reagierte sie so wie ich gehofft hatte, sehr erfreut über mein Angebot.

„Miriam das würde uns sehr helfen, vor allem, Sie wissen ja selbst, wenn man älter wird geht vieles nicht mehr so leicht von der Hand. Aber wird es Ihnen nicht zu viel, Sie arbeiten doch schon soviel.“

„Solange ich etwas tue lenkt es mich ab. Kein Problem“, antwortete ich lächelnd.

„Wenn es wirklich nicht zu viel ist, sind zehn Mark pro Stunde in Ordnung?“ Mehr als ich gehofft hatte, und eine Erlösung, dass sie es mir von sich aus anbot.

„Ja, ich würde gerne in der Früh bei ihnen vorbeikommen, denn ich fahre nachmittags meistens gleich in Krankenhaus. Passt Ihnen das?“

„Wenn Sie wollen können Sie gleich nächsten Dienstag anfangen. Ab wann wollen Sie kommen?“

Ich wusste dass die Webers schon immer sehr früh wach waren, so nahm ich meinen Mut zusammen und sprang über meinen eigenen Schatten und fragte, ob sechs Uhr morgens in Ordnung wäre. Somit musste ich nur noch meinem Chef in der Kanzlei beibringen, dass ich ab sofort dienstags später kommen würde, aber dafür auch länger bleibe. Irgendwie würde es schon klappen.

„Ja, das passt uns großartig und ich mache uns dann allen ein schönes Frühstück.“

„Dann bis nächsten Dienstag.“ Verabschiedete ich mich, sichtlich erleichtert.

Das waren noch einmal zwanzig Mark mehr pro Woche und ein reichhaltiges Frühstück. Ich freute mich. Das sah für den Augenblick gar nicht schlecht aus. Wenn nichts Außergewöhnliches hinzukommen würde müsste ich mit dem zusätzlichen Einkommen über die Runden kommen. Ich war stolz auf mich, dass ich es mal wieder irgendwie hinbekommen hatte.

Poet auf zwei Rädern

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