Читать книгу Poet auf zwei Rädern - Lisa Schoeps - Страница 7
Kapitel 5
ОглавлениеDas Verhältnis zu meinen Eltern war seit langem sehr gespannt, der Grund war meine Beziehung zu Michael. Mit der Zeit war zwar ein Stück Normalität eingekehrt, aber in den letzten zwei Jahren war viel Porzellan zerschlagen worden und eine gekittete Vase ist halt keine unversehrte. Mutter mochte ihn schlichtweg nicht, bei Vater war das etwas anderes, ich glaube er war vor allem eifersüchtig und besorgt um mich, aber er wünschte sich nichts mehr auf der Welt, als dass ich glücklich bin. Wir fanden oft nicht die richtigen Worte. Gespräche liefen schnell in eine Sackgasse. Meine Eltern waren beide Anfang fünfzig. Als Kind war ich sehr behütet aufgewachsen, meist von der Familie meiner Mutter umgeben. Meine Cousinen waren wie Schwestern für mich. Jetzt fühlte ich mich trotz alledem sehr einsam und allein.
Da war ein denkwürdiger Sommertag. Ich hatte schon von vornherein keine Lust zu meinen Eltern zu fahren, aber ich war meinem Vater zuliebe gekommen. Es wäre das Wochenende gewesen an dem Michael und ich geheiratet hätten. Während ich zu meinen Eltern fuhr, erinnerte ich mich ganz genau an den Sommer, in dem Michael um meine Hand angehalten hatte. Ich musste lächeln. Es war an meinem siebzehnten Geburtstag, wir hatten uns heimlich getroffen, da mich meine Mutter gezwungen hatte, die Ferien bei meiner Tante zu verbringen und ich Michael nicht sehen sollte. Auch das war eine dieser fragwürdigen Aktionen, die viel Bitterkeit geschaffen hatte. In meinem Gedanken zog die Zeit noch mal vorbei.
Wir stritten uns, ich bettelte, schmollte, zeterte, aber alles half nichts, letztendlich fuhr ich zähneknirschend zu meiner Tante. Meine Mutter wusste genau, dass ich in diesen sechs Wochen keinen Schritt unbeobachtet machen konnte. Ich würde im „Schutz der Familie“ leben. Das bedeutete in diesem Zusammenhang, dass der ganze Familienclan auf mich aufpassen würde. Mich auf Schritt und Tritt beobachten. Meine Tante holte mich am ersten Ferientag ab, ich packte widerwillig meine Sachen ins Auto. Brigitte und ich schwiegen eine ganze Weile, das Radio lief. Ich schmollte.
„Du wärst lieber zu Hause geblieben?“ sagte sie nach einiger Zeit.
„Ja“, antwortete ich patzig wahrheitsgemäß.
„Mit deinem neuen Freund. Deine Mutter hat mir von ihm erzählt.“
„Dann weißt du ja alles“.
„Ich kenne ihre Version“, antwortete sie ohne auf meinem unpassenden Ton einzugehen.
Ich mochte Brigitte, sie war mehr eine Freundin als eine Tante, in Vielem verstand sie mich viel besser als meine Mutter. Es herrschte wieder eine Zeitlang Stille, dann sagte ich mit voller Überzeugung in der Stimme, „Ich liebe ihn, er ist das Beste, das mir in meinem bisherigen Leben passiert ist.“
„Ich war so alt wie du jetzt, als ich deinen Onkel geheiratet habe, ein Jahr später hatte ich ein Kind. Ich kann dir nur raten: Lass dir Zeit. Lebe, gehe deinen Weg. Du bist ein kluges Mädchen. Binde dich nicht zu früh.“
„Oh, Mama hat ihn bei dir auch schon unmöglich gemacht.“
Mir standen vor Enttäuschung und Wut und der Tatsache, dass ich ihn sechs Wochen lang nicht sehen sollte, die Tränen in den Augen.
„Deine Mama macht sich Sorgen. Sie hat sich für mich auch immer verantwortlich gefühlt.“
Brigitte war viel jünger als meine Mutter.
„Mama weiß immer alles besser.“
„Erzähl mir von ihm.“
„Er ist gefühlvoll. Wir können über alles reden, er liebt mich. Er hat die schönsten blauen Augen, die du dir vorstellen kannst. Er mag Lord Byron.“
„Wie alt ist er denn?“
„Micha ist fünfundzwanzig.“
„Ein ziemlicher Unterschied, am Rande des Lebens zählen die Jahre doppelt. Deine Eltern machen sich so ihre Gedanken darüber.“
„Über was?“ Ich wusste genau was sie meinte, wollte jedoch ihre Sicht der Dinge hören.
„Darüber, warum sich ein erwachsener junger Mann auf ein Schulmädchen einlässt.“
„Könnt ihr euch nicht vorstellen das er mich auch liebt, und Liebe nicht nach dem Alter fragt.“
„Manchmal ja, aber es ist etwas seltsam. Was hat er denn gelernt?“
„Er ist Automechaniker, zurzeit ist er bei der Bundeswehr, er ist Zeitsoldat, er hat sich für zwölf Jahre verpflichtet. Was er danach machen möchte weiß er noch nicht genau.“
„Glaubst du, dass dir das auf Dauer reicht?“
„Ich kann mit ihm auch in einer Hütte leben, es ist nicht wichtig.“
„Im Moment spricht nur dein Herz, deinen Verstand hast du abgeschaltet. Mach keine Dummheiten.“
„Ich bin kein Kind mehr.“
„Genau das meine ich. Und er auch nicht. Nimmst du die Pille?“
„Nein.“
„Schläfst du mit ihm.“
Mir war die Frage unangenehm, ich antwortete trotzdem wahrheitsgemäß, „Nicht wirklich.“
„Aber dabei wird es nicht bleiben.“
„Er drängt mich zu nichts.“
„Das spricht für ihn und sein Verantwortungsbewusstsein. Lass uns gemeinsam zum Arzt gehen. Ich kann mir vorstellen, dass du mit deiner Mutter nicht darüber sprechen willst. Es ist besser.“
„Papa hat das auch schon gesagt, ich hab einen Krankenschein dabei.“
Brigitte sah mich von der Seite an, „Dein Papa ist ein kluger Mann. Ich rufe morgen bei meinem Frauenarzt an und mache einen Termin.“
Den Rest der Fahrt schwiegen wir vor uns hin, hörten der Musik aus dem Radio zu. Vor dem Termin war mir etwas Bang, aber das sagte ich nicht.
Die nächsten Wochen verbrachte ich im Laden meiner Tante, kümmerte ich mich um das Lager, kochte und putzte und spielte das Hausmädchen. Ich hatte meiner Mutter versprochen, mich in diesen Wochen nicht mit Michael zu treffen. Sie hatte es strikt verboten. Hier auf dem Land, weit weg von allem, hatte ich viel Zeit zum Nachdenken und mir wurde klar, dass Michael, das Wichtigste in meinem Leben war. Ich war ganz krank vor Sehnsucht nach ihm, konnte kaum essen, nicht schlafen, dacht nur an ihn, vertraute meine Gedanken meinem Tagebuch an. Ich sparte mein Geld zum Telefonieren. In Ruhe telefonieren konnte ich nur am Münzfernsprecher, dort hörte mir keiner zu.
Diese Gespräche waren unendlich kostbar für mich, seine Stimme zu hören, den kurzen Moment der Nähe zu genießen. Wir sprachen darüber wie wir uns die Zukunft vorstellten. Wir kreierten eine heile Welt, malten uns unsere kleine Familie aus und dass wir uns gegenseitig beschützen wollten, egal was käme. Wir sprachen darüber, dass wir möglichst bald zusammenziehen wollten, über Kinder und wie sehr wir uns beide Kinder wünschten. Es war als ob sich zwei Gestrandete auf einer einsamen Insel getroffen hätten und miteinander überlebten. Dieses tiefe Gefühl von Vertrautheit war viel mehr als eine Seifenblase, es schwebte, schillerte, war ganz real. Wie wenn sich zwei Seelen im Spiegel begegnen und zu einer verschmelzen.
Wir erzählten uns die Geheimnisse unserer Leben, Dinge, die wir beide vorher noch niemanden anvertraut hatten. Micha sprach von seinen Träumen, sich die Welt mit mir gemeinsam anzusehen, der Sehnsucht nach einem Nest, einer eigenen Familie. Der Bürde, dass er sich immer für alle verantwortlich fühlte.
Ich sprach über meine Träume und Ängste. Der Angst verlassen zu werden, nicht gut genug zu sein, nicht Wert zu sein. Es fiel mir unendlich schwer, diesen Teil meiner Persönlichkeit zu offenbaren. Mein so gut gehütetes Schutzschild etwas zu senken. Ihm vertraute ich, ihm konnte ich mich öffnen.
Ansonsten war ich immer wenn es um mich ging ein exzellenter Schauspieler, vor allem wenn ich tief verletzt oder verzweifelt war oder Angst hatte, dass dies passiert. Es war für andere Menschen sehr schwer wahrzunehmen, wie es wirklich in mir aussah. Ich wusste auch nicht warum, gerade wenn es um mich selbst ging, konnte ich keinerlei Schwäche zeigen. Durch unsere Gespräche und seine Offenheit verblassten alte Bilder, sie verschwanden irgendwo in der dunklen Vergangenheit. Ihm konnte ich es erzählen. Nach vielen Irrtümern hatten wir einen Hafen gefunden, nichts von dem Alten und den Steinen, die man uns in den Weg legte, sollte uns aufhalten. Ein neues Lebensgefühl wuchs von Tag zu Tag. Und schließlich würde die Zeit für uns siegen.
Meine gesamte Verwandtschaft zeichnete sich dadurch aus, dass jeder bei allem mitreden wollte. Mama hatte ihre Version der Geschichte erzählt und jeder fühlte sich berufen, seine Meinung kundzutun und mich auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Es zerrte an meinen Nerven. Geheimnisse und Privatleben gab es nicht.
Moral hatte in dieser Umgebung eine eigene Bedeutung, hier in der Abgeschiedenheit der kleinen Gemeinschaft hatten Regeln überlebt, die woanders schon lange als überholt galten. Meine Tante wurde als ganz junges Mädchen verheiratet, das war Tradition. Vorher zusammenleben, miteinander schlafen, das gab es nicht, das war absolut unmöglich.
Bei Mutter war der Krieg dazwischen gekommen. Meine Cousinen Maren und Angela verschlangen jede Nuance meiner Geschichte, sie träumten und fühlten mit mir. Sie fanden das Ganze sehr romantisch, hingen an meinen Lippen. Die beiden waren ungefähr so alt wie ich. Wir waren wie Geschwister aufgewachsen und hatten ein sehr inniges, vertrauensvolles Verhältnis.
Sie waren bereits versprochen, kannten die Männer, die sie einmal heiraten sollten, aber mehr als ein flüchtiger Kuss war nicht möglich. Alles andere wäre unschicklich. Man traf sich beim Tanz oder in der Kirche, aber immer unter Aufsicht. Die vorherrschenden Moralvorstellungen waren streng und es gab ganz klare Regel wie man sich zu benehmen hatte. Mit meiner Beziehung zu Michael fiel ich aus dem Raster, hatte gegen die Regeln verstoßen.
Mitte August zu meinem siebzehnten Geburtstag hatte meine Familie eine kleine Feier arrangiert. Sie hatten sich viel Mühe gegeben. Die Mädchen hatten Kuchen gebacken und Fackeln in der Wiese aufgestellt. Abends saßen wir lange im Garten, haben gegrillt und mein Onkel hatte sogar eine Flasche Sekt besorgt. Wir lachten und redeten, und erlebten einen spektakulären Sonnenuntergang über den Gipfeln der Alpen. Wie im Märchen, unsagbar schön und trotzdem blutete mein Herz heimlich. Ich war traurig, dass Micha nicht da war. Jeder Tag ohne ihn kam mir sinnlos vor. Meine Empfindungen vertraute ich wie immer dem Tagebuch an. Alle waren fröhlich, Feste waren ein willkommene Abwechslung.
Ich entfernte mich ein Stück, setzte mich auf einen Stein und betrachtete den Himmel. Wenn man genau hinsah konnte man schon die ersten Sterne erkennen. Warum kann er jetzt nicht da sein? Ich fühlte den Schmerz der Trennung mit jeder Faser meines Herzen. Mit den verblassenden Sonnenstrahlen zeigten sich immer mehr Sterne am klaren Nachthimmel. Ruhe breitete sich aus, Frieden, der Geruch von feuchter Erde, Wald und Gras. Hin und wieder konnte man ein Käuzchen rufen hören oder das Muhen einer Kuh. Meine Tante kam zu mir und setzte sich neben mich.
„Du bist traurig, er fehlt dir“, sagte sie mitfühlend, sie legte den Arm um mich. Sie hatte mich die letzten Wochen leiden sehen, mitbekommen, wie ich mich in mich selbst zurückzog und traurig war.
„Ja, heute besonders.“
„Schau da oben ist eine Sternschnuppe, du kannst dir etwas wünschen.“
Ich versuchte zu lächeln.
„Lass den Kopf nicht hängen, manchmal gehen Herzenswünsche in Erfüllung.“
Sie drückte mich, irgendwie verstand sie mich. Wir waren allein. Ich war nicht müde, die anderen hatten sich nach und nach verabschiedet oder waren ins Haus gegangen.
„Schau mal, wer dort an der Brücke auf dich wartet“, sagte sie aufmunternd.
Im fahlen Lichtschein der Sterne konnte ich kaum etwas erkennen. Ich strengte meine Augen an, denn die Dunkelheit schluckte alle Konturen. Langsam erhob ich mich und lief in die Richtung. Dann rannte ich und dann lag ich in seinen Armen.
„Hallo Kleines“, hörte ich ihn flüstern, „Happy Birthday!“
Ich war ganz aufgeregt und überrascht. Er hielt mich fest und küsste mich. Ein Wunschtraum war in Erfüllung gegangen. Er war da. Mein Herz hüpfte wie verrückt, ich hatte ihn so schrecklich vermisst. Er war den ganzen Abend gefahren um mit mir ein paar heimliche Augenblicke zu verbringen. Meine Tante und er hatten ihr Geheimnis gut gehütet, die Überraschung war ihnen Vollendens gelungen.
„Ich habe dich so sehr vermisst.“ Seufzte ich.
„Ich dich auch.“
Ich hielt mich an ihm fest wie eine Ertrinkende, atmete seinen Duft ein, fühlte mich in seinen starken Armen geborgen, kniff mich in den Arm um mich selbst davon zu überzeugen, dass es nicht nur ein schöner Traum war. Ich legte den Kopf an seine Brust. Es war ein wunderschöner lauer, warmer Sommerabend, und der Himmel hing nun voller Geigen. Die Zeit sollte still stehen.
Ein Hüsteln riss uns aus der Tiefe unserer Gefühle, Brigitte stand ein Stück entfernt, „Wenn deine Mutter uns sehen könnte würde sie mit keinem von uns jemals wieder ein Wort sprechen. Aber sie muss es ja nicht wissen. Macht aber keine Dummheiten.“
Ich war etwas verlegen, fühlte mich ertappt. Sie lächelte, sie war zu unserer Mitwisserin geworden.
Micha versicherte ihr, sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Sie hatte ihn angerufen und ihn gebeten, zu kommen, sie konnte es nicht mehr mit ansehen, wie ich vor Liebeskummer verging.
Brigitte hatte sich eine Zigarette angezündet und die Glut leuchtete kurz auf, als sie daran zog. Genauso lautlos wie Brigitte erschienen war, war sie auch wieder verschwunden.
Wir setzten uns auf das Geländer der Brücke. Micha war still, kramte in seiner Tasche und zog ein kleines Päckchen hervor, ein Geschenk!
„Los pack es aus!“
Behutsam versuchte ich die Schleife in der Dunkelheit zu entknoten, es war schwierig. Es dauerte, meine Hände zitterten. Zum Vorschein kam ein kleines rotes Samtkästchen. In ihm war ein schmaler Goldring mit einem winzigen Diamanten, er funkelte im Sternenlicht. Michael nahm den Ring und stecke ihn mir an den Finger und fragte, „Willst du mich heiraten?“
Mir rollten die Tränen übers Gesicht. Ich liebte ihn und ich hatte noch nie in meinem Leben vorher soviel gespürt wie mit ihm.
„Ja, am liebsten morgen!“
Ich konnte es immer noch nicht fassen. Träumte ich?
„Wenn du achtzehn bist.“
Das war noch ein Jahr, ein Jahr warten. Eine Ewigkeit. Er lächelte mich an und hatte sein Gesicht im nächsten Moment in meinen Haaren vergraben. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, ob er es bereits Sabine erzählt und wie sie darauf reagiert hatte. Michas Mutter gehörte nicht gerade zu meinem Fanclub. Sie hielt unsere Beziehung zu dieser Zeit für einen großen Fehler. Er erschien meine Gedanken zu erraten.
„Ich habe es ihr bereits erzählt, sie versteht es. Und ich glaube, sie akzeptiert es.“
„Ich hoffe es. Ich weiß wie wichtig es dir ist.“
Wir sprachen auch über meine Eltern und wie sie darauf reagieren würden. Ich konnte mir den Ärger in den buntesten Farben ausmalen.
Vater würde zumindest versuchen mich zu verstehen, Mutter bekäme bestimmt einen Tobsuchtsanfall.
„Wir erzählen es ihnen gemeinsam, wenn du wieder zu Hause bist“, unterbrach er liebevoll meinen Gedankenfluss.
Micha war schrecklich nervös an dem Tag als er offiziell um mich bei meinen Eltern anhielt. Ich dachte an ihre Reaktion. Sie hatten wohl geahnt, was kommen wird, denn ich hatte den Ring seit meinem Geburtstag nicht mehr abgelegt. Sie trugen es mit Fassung, waren nicht gerade begeistert gewesen. Konnten aber nichts dagegen tun. Für uns war die Entscheidung unwiderruflich. Vater fing sich am schnellsten und nahm mich in den Arm und wünschte uns Glück.
Mutter war ungewöhnlich still und wirkte wie eine Puppe, sie wünschte uns auch Glück, aber es war mechanisch, hölzern, es kam nicht von Herzen. Und sie sagte, ich würde hoffentlich wissen, worauf ich mich einlasse.
Dann kam wieder alles anders, eigentlich wollten wir gleich nachdem ich achtzehn wurde, noch im Herbst desselben Jahres heiraten, aber wir hatten im Frühsommer, kurz bevor ich achtzehn wurde, unser Traumhaus gekauft und waren danach im Sommer zusammengezogen. Als Gegenleistung hatte ich meinem Vater versprochen, dass ich erst meine Ausbildung beende, bevor ich ‚irgendwelche Dummheiten‘ mache, wie er es ausdrückte.
Wir hatten den ganzen Sommer, Herbst und Winter über renoviert. Der Hochzeitstermin wurde auf das nächste Frühjahr verschoben, weil alles zusammen zu hektisch war. Gemeinsam hatten wir beschlossen, dass wir im Juli des darauf folgenden Jahres heiraten und danach wollten wir zusammen mit dem Motorrad zum Nordkap fahren.
Ein denkwürdiger Tag. Jetzt war Mutter ungemein erleichtert und zugleich enttäuscht, dass alles abgesagt war. Es wäre ihr großer Auftritt als Brautmutter gewesen. Anfangs wollte sie die Organisation der Feier übernehmen. Allein der Gedanke daran war ein Alptraum, sie hätte ihr Fest organisiert und wir wären ihre Statisten gewesen.
Sie war sehr enttäuscht, um nicht zu sagen zutiefst verletzt als ich ihr sagte, dass ich ihre Hilfe nicht haben wolle. Sie sprach wochenlang kein Wort mit mir. Diskutierte die Ungeheuerlichkeit jedoch mit jedem anderen, mit dem sich die Gelegenheit dazu bot. Schimpfte über meine Undankbarkeit und meine schlechte Wahl. Sie verletzte mich damit ein weiteres Mal, ohne es zu bemerken. Mutter machte kein Hehl daraus, dass sie davon überzeugt war, das Michael nicht gut genug für mich war. Nachdem sie aber einsehen musste, dass sie es mir nicht ausreden konnte, hatte sie sich mit dem Gedanken arrangiert.
Wir saßen zusammen im Garten und tranken Kaffee, wir sprachen über die geplatzte Hochzeit, über Michael und die Geschehnisse der letzten Wochen. Gegenüber meinen Eltern schönte ich seinen Zustand so gut ich es konnte.
Meine Mutter redete und redete, ich hörte nicht richtig zu. Ihr Erzählen kannte keinerlei Systematik und Methode, wechselte mühelos von einer sachbezogenen Erläuterung, zu ihren Phantasiegeschichten, zur Realität die nur in ihrer Welt existierte. Wir hatten uns alle über die Jahre daran gewöhnt und übten Nachsicht.
Mein Blick und meine Gedanken wanderten umher.
An einem Ast des großen alten Apfelbaums war immer noch meine Schaukel befestigt. Inzwischen war sie verwaist, keiner benutzte sie mehr. Das Lachen aus Kindheitstagen war erloschen. Hier hatte ich oft mit den Nachbarskindern oder meinen Cousinen gespielt, wenn sie zu Besuch waren. Das Brett hatte Moos angesetzt und das Holz war ganz silbern. Sie bewegte sich ein wenig im Wind. Ich dachte an die glücklichen Stunden, wie ich ganz hoch hinauf geschwungen war, um dann zu fliegen. Von der Schaukel zu springen, wenn sie sich auf dem höchsten Punkt befand, was für ein Spaß. Auf den Knien und Händen zu landen, zu hoffen, dass kein Steinchen sich im Gras verbarg. Den Moment des Schwebens auszukosten. Wegen der Grasflecken ausgeschimpft zu werden, vor allem sonntags.
Beim Gedanken daran bekam ich Gänsehaut. In die Kirche konnte man nicht mit grünen Knien gehen. Da war es verboten zu schaukeln, ich tat es trotzdem, heimlich.
Neben dem Sitzplatz war das gehackte Holz an der Wand des Schuppens aufgestapelt. Ordentlich in mehreren Reihen. Ein Stück abseits stand der massive Hackblock, an ihm lehnte die Axt. Auf dem Land standen solche gefährlichen Gegenstände einfach herum, es kümmerte keinen. Kinder lernen sehr früh, mit der Gefahr umzugehen. Das Gras war akkurat geschnitten, in einem Beet Blumen, daneben der Gemüsegarten und zwischen Pfählen gespannt die Wäscheleinen. Alles wirkte aufgeräumt, hatte seinen Platz. Ein Stück entfernt sah ich ein paar Leute mit ihren Pferden in der Sandbahn. Sie übten, verschiedene Gangarten, Hufschlagfiguren. Ich würde auch mal wieder gerne reiten, kam es mir in den Sinn.
Worte in ihrem Erzählstrom weckten meine Aufmerksamkeit. Aus heiterem Himmel, meinte meine Mutter, es wäre für alle Beteiligten am besten gewesen, wenn er gleich gestorben wäre. Mit schriller Stimme fuhr sie fort, „dann müsste er auch nicht so leiden. In dem Zustand in dem er sich jetzt befindet, ist er doch nur eine Belastung für sich selbst und alle Anderen, und nachdem was du erzählst, wird es wohl auch nicht mehr so werden wie vorher….“
Es war die Art, wie sie darüber sprach, so distanziert, so gleichgültig, genauso wenig beteiligt wie wenn sie darüber sprach, dass der Kaffee schon wieder teurer geworden sei. Sie war es die ich so verletzend empfand. Jedes ihrer Worte traf mich wie ein Feuerpfeil.
„Hör auf Mama, du verstehst doch gar nicht worum es geht“, unterbrach ich sie schockiert.
„Du willst nur die Wahrheit nicht hören…“, entgegnete sie mir. Dann hörte ich ihr nicht mehr zu, auch das hatte ich als Kind gelernt. Ich hätte schreien können, sie plapperte einfach weiter. Traurigkeit übermannte mich, ich dachte daran, wie sehr wir für unsere Beziehung kämpfen mussten. Dachte an Sabine und ihre Zweifel, alles kam wie in einem Flashback zurück. Ich dachte an eine Szene die ich vor ungefähr eineinhalb Jahren zwischen Micha und seiner Mutter belauscht hatte.
Sie saßen am Küchentisch, sahen beide sehr ernst aus, Sabine hatte Michas Hände in ihre genommen. Ich war neugierig und nutzte die Chance ihr Gespräch zu belauschen, indem ich in der Tür stehen blieb, so dass sie mich nicht sehen konnten.
„….Mama ich liebe sie, ich will sie heiraten. Ich möchte Kinder mit ihr.“
„Micha, bitte, komm auf den Boden der Tatsachen, sie ist noch so blutjung, sie ist noch nicht einmal mit der Schule fertig. Natürlich glaubt sie dich zu lieben, aber irgendwann ist es vorbei. Sie ist fast acht Jahre jünger als du. In ihrem Alter bedeutet das noch Welten. Es ist schön, sich von seinen Gefühlen treibenzulassen, aber bitte schalte deinen Verstand ein. Du bist der Erwachsene von euch beiden, du trägst die Verantwortung. Du bist der erste wirkliche Mann in ihrem Leben, sie bewundert dich jetzt.
Sie ist hochintelligent und eine der besten Schülerinnen. Sie hat eine großartige Zukunft vor sich, die kannst du ihr nicht verbauen. In fünf Jahren sieht die Sache anders aus. Kinder in die Welt zu setzten bedarf eines großen Verantwortungsgefühl. Denke daran was Tom passiert ist. Kinder sollten keine Kinder bekommen, ich weiß wovon ich spreche. Als du auf die Welt kamst war ich siebzehn, so alt wie sie jetzt.
Ich will nicht, dass ihr eines Tages aufwacht und feststellt das ihr einen großen Fehler gemacht habt. Dass ihr euch gegenseitig hasst. Ich habe in meinem Leben genügend Hass erlebt und ich möchte nicht, dass du leidest.“
Sie redete auf ihn ein wie auf ein krankes Pferd.
„Mama wie du schon festgestellt hast, sie liebt mich und ich sie auch, sie ist der erste Mensch, bei dem ich mich wirklich zu Hause fühle. Es stimmt einfach alles. Die Geschichte muss sich nicht zwangsläufig wiederholen. Wir haben ein halbes Jahr gewartet bis wir miteinander geschlafen haben...“
Ich machte mir Gedanken, ob Sabine mich wirklich gehasst hatte oder ob sie einfach ein Stück mehr besorgt war als alle Anderen. Sie ist eine tolle Frau, heute kann ich nachvollziehen, was sie damals sagen wollte.
Meine Mutter redete immer noch, redete wie ein Wasserfall. Selten war das, was sie erzählte, von Klarsicht kontrolliert. Es war nichts Neues. Ich hatte einen dicken Klos im Hals. Mein Vater saß ruhig dabei, geistesabwesend, er dachte sich seinen Teil, sagte aber nichts, hatte er ihr auch nicht zugehört?
Hat er sich über die Jahre dieselbe Taktik zugelegt um ihrem nicht enden wollenden Redefluss zu entkommen?
Ich hätte mir so sehr Verständnis gewünscht! Gewünscht, das er sich auf meine Seite schlägt, das er Mama sagt, sie solle den Mund halten. Ich vermisste die Nähe die wir früher zueinander hatten. Wäre gerne mit ihm in die Werkstatt oder in den Wald gegangen. Wäre gerne mit ihm allein gewesen. Unsere Beziehung war inzwischen fürchterlich kompliziert. Wir konnten nicht mehr unbefangen miteinander reden.
Sie war enttäuscht, weil ich schon so früh wieder ging. Ich lehnte höflich den Kuchen ab den sie mir einpacken wollte. Begriff sie nicht was sie da von sich gegeben hatte? War ihr überhaupt bewusst, wie sehr sie mich verletzte? Erwartete sie das ich sie tröstete? Ich verstand ihre Welt nicht. Der Graben war dadurch nur noch ein Stückchen mehr gewachsen.
Auf der Fahrt zum Krankenhaus, verfolgten mich die Szenen des Tages. Mutter, der Heiratsantrag, Sabines Bedenken.
Heute Morgen hatte ich mein Kleid ausgepackt, aber nicht angezogen, den zarten Stoff befühlt und es dann in den Karton zurückgelegt.
Ich dachte an unsere glücklichen Tage. An den Hut von Oma Helene. Erneut an den Tag als Michael mich gefragt hatte ob ich ihn heiraten möchte. Es überkam mich eine tiefe Traurigkeit, ich fragte mich mal wieder: Warum? Die Verzweiflung umklammerte mich wie ein eisernes Korsett.