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2001 – Flucht auf dem Seeweg

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„Ja …, sie hat Augen wie Smaragde”, dachte der behandelnde Arzt in dem provisorisch aufgestellten Sanatorium der Aufnahmestation für Flüchtlinge. Sie kamen aus Teilen von Afrika, um über den gefährlichen Weg über das Mittelmeer, nach Lampedusa, zu flüchten, um dann ihr erhofftes Glück in Europa zu finden. „Esmeralda, hörst du mich? Verstehst du mich?” Mit sanfter Stimme versuchte er das durch die schrecklichen Ereignisse der letzten Stunden traumatisierte Mädchen anzusprechen. Sie lag auf einem Notbett in einem großen Raum, blickte auf die anderen daliegenden stummen Menschen neben ihr. Sie war in dicke Decken eingehüllt, die kratzten. Doch im Vergleich zu der eisigen Kälte des entsetzlichen Erlebten der vergangenen Stunden, lagen sie wie warmer Balsam auf ihrer Haut. Sie war immer noch unterkühlt und zitterte. „Wie geht es dir, bist du verletzt? Wir konnten keine äußerliche Verletzungen finden. Hast du Schmerzen?” Immer noch nicht wusste Esmeralda wo sie war. Sie hatte die Erinnerungen der letzten nächtlichen Stunden vergessen oder verdrängt. Nur, dass es ganz schlimme waren, das war ihr tief in ihrer Seele bewusst. Dumpf und langsam drangen erste Erinnerungen in ihr Gedächtnis. Schreie von Menschen, verzweifelte Schreie! Ausgelöst durch blanke Angst ums Überleben drangen sie zurück in ihr Bewusstsein. Todesangst! Es war tiefschwarze Nacht gewesen. Eisig schneidender Wind wehte messerscharf über hunderte von klatschnassen Menschen, die auf Holzbänken sitzend, in sich gekauert, auf ein Wunder hofften. Menschen in tiefster Not hatten sich an den Bänken des vom Sturm gepeitschten Schiffes festgeklammert. Sie erinnerte sich an den heftige Regen, der mit eiskalten Nadelstichen durch ihre nasse Kleidung in ihre Haut eingedrungen war. Auch an das ständige steile, meterhohe Aufrichten der Spitze des Bootes und an das krachende Herabfallen auf die betonharten Wogen des Meeres. Das kreischende erbarmungslose Meer um sie herum war aufgewühlt und glänzte wie schwarzes zähes Öl. Gierig hatte es sich einige Menschen geschnappt, die das Gleichgewicht verloren hatten und über die Reling gefallen waren, um sie dann aufzufressen. Das schwache Mondlicht hatte sich durch die rabenschwarzen Wolken etwas Präsenz geschaffen und gab das grausame Szenario frei. Um sie herum war es schwarz, schwarz wie nur die Hölle sein konnte. „Wo bin ich? Was ist geschehen? Sind alle tot? Wo ist meine Mutter?”, fragte sie mit schwacher Stimme in fließend italienischer Sprache. Sie antwortete Italienisch, da sie in dieser Sprache angesprochen worden war. Der Arzt war erleichtert, Esmeralda sprechen zu hören. Und darüber, dass sie ihn in seiner Sprache verstand. „Wir haben in deinem Rocksaum deutsche Identitätspapiere gefunden, mit deinem Foto, auf den Namen Esmeralda Simon ausgestellt und dreitausend Dollar in bar. Mit diesen Papieren kannst du in der deutschen Botschaft einen deutschen Pass beantragen. Wo hast du diese Papiere her? Bist du deutsche Staatsbürgerin?” Dr. Luigi Fontane wunderte sich, dass ein farbiges Flüchtlingsmädchen, von der anderen Seite des Mittelmeeres kommend, deutsche Papiere besaß. Zudem sprach sie Italienisch. So wie sie aussah, war sie wohl halb negroid und halb weißer Abstammung. Ihre Haut war olivfarben, ihre langen gewellten schwarzen Haare waren untypisch für eine Afrikanerin. Dann diese smaragdgrünen Augen. Auch ungewöhnlich für die sonst aus Afrika angeschwemmten Menschen, die durch Not und Elend getrieben, von einem hoffnungslosen Land mit hoffnungslosen Möglichkeiten, nach Europa zu flüchten versuchten. „Du bist in Lampedusa. Du hattest sehr großes Glück, dass du diese teuflische Überfahrt überlebt hast. Viele deiner Mitreisenden sind in den stürmischen Fluten ertrunken, weil das Boot kurz vor der Küste kenterte. Wir konnten nur dich und elf andere Flüchtlinge aus dem Meer retten. Helfer in einem italienischen Rettungsboot konnten dich und die anderen Überlebenden, noch rechtzeitig aus dem Wasser ziehen.” Nun kamen weitere Erinnerungen auf. Sie, mit etwa zweihundert anderen Flüchtlingen, hatten im Morgengrauen das Fischerboot bestiegen. Zusammen mit ihre Mutter Sanira. Ihre wundervolle, schöne eritreische Mutter. Zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Jonas und ihrer mütterlichen Freundin Layla. Über das Meer wollten sie in eine bessere Zukunft fliehen. „Wo ist meine Mutter? Ist sie unter den Geretteten? Und Layla? Ist sie hier? ... Und Jonas?” Jonas! – Ihre Muskeln in ihrem Inneren zogen sich bei dem Gedanken an ihn schmerzhaft zusammen. „Das wissen wir noch nicht. Wir sind dabei die Überlebenden zu identifizieren. Nicht alle haben Papiere ihrer Herkunft dabei. Von den elf Überlebenden sind noch zwei nichtidentifizierte Personen hier im Krankenlager untergebracht.” Dr. Fontane brachte nicht den Mut auf, ihr zu sagen, dass es sich bei den anderen Überlebenden, um Männer handelte. Es waren nicht ihre Angehörigen. „Vielleicht findet man sie noch. Noch suchen die Rettungsmannschaften das Meer nach Überlebenden ab”, dachte er. „Du brauchst Schlaf und dann wird sich weiteres geklärt haben.” Eine sympathische Schwester in weißer Schwesterntracht stand diskret wartend hinter Dr. Fontane, um Esmeralda die dampfende Suppe zu reichen, sobald das erste Interview durch den Arzt beendet war. Noch immer zitterte Esmeralda am ganzen Körper. Es wurde ihr nicht warm. Ihre Füße waren wie Eisklumpen, ihre Haut bläulich gefärbt. „Ich bin allein und fühle mich tot”, dachte sie unendlich traurig. Die heiße Suppe mit köstlichem Gemüse wärmte sie doch noch erstaunlicherweise schnell auf. Sie hatte viele Fragen an den netten Doktor in ihrem Kopf. Doch ihre Augenlider waren zu schwer. Sie war zu erschöpft, um weitere Sätze formulieren zu können. Bevor sie das köstliche Mahl zu Ende essen konnte, fiel ihr vor Müdigkeit der Löffel aus der Hand und ein erlösender Schlaf überkam sie.

Flucht aus Eritrea

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