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1. Kapitel - Abenteuer Eritrea

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Peter, ein junger noch unerfahrener Journalist, beschloss, nach seinem Studium an der Universität in Köln, als Auslandskorrespondent aufregende Erfahrungen in der Berichterstattung von Krisengebieten zu machen. Nach mehreren Ablehnungen seiner Bewerbungen von den “Großen Zeitungen”, fand sich doch noch ein kleiner regionaler Zeitungsverlag, der Peter zur Berichterstattung über den Guerillakrieg in Eritrea nach Dschibuti, in das Nachbarland, sandte. Voller Tatendrang und Mut zum Abenteuer verließ der fünfundzwanzigjährige Peter Simon, während der Guerillakrieg tobte, 1985 seine Heimat Deutschland, um von Dschibuti aus das Kriegsgeschehen zu dokumentieren. Nach dem Sieg der Rebellen 1991 blieb er in Eritrea, um die weiteren politischen Entwicklungen und Änderungen des neuen “unabhängigen und freien Staates” zu beobachten und darüber zu berichten. Zusammen mit anderen ausländischen Journalisten fand er bald in der Hauptstadt Asmara ein neues fremdes Zuhause. Eifrig lieferte er Berichte über die neuesten politischen Ereignisse und Veränderungen durch die neue Regierung an seinen Verlag nach Köln. Diese wurden streng unter den Augen des neuen Machthabers Isaias beobachtet. Jedoch entwickelte sich diese neue freie Welt in wenigen Jahren zur Militärdiktatur. Hungertode gab es in diesem Land nicht, doch riskierten Tausende von Menschen ihr Leben für die Freiheit, trotz Androhung von Hinrichtungen, veranlasst durch das menschenverachtende politische System. Berichterstattungen von ausländischen Journalisten wurden zensiert und die Berichterstatter unter Druck gesetzt. So verließen viele Journalisten freiwillig das Land. Nicht Peter. Er hatte durch Kontakte zu ehemaligen hochrangigen Guerillakämpfern persönliche Vorteile und Vergünstigungen und schaffte es über geheime Wege seine Berichte außer Landes zu bringen. Er freundete sich mit dem Gouverneur, Masuf Ragos, ehemaliger Verteidigungsminister, während des Krieges, an. Jeden Freitag wurde Peter von ihm zum Dinner eingeladen. Hinter verschlossenen Rollläden, hinter geschlossenen Fenstern, wurde über Dinge des täglichen Lebens diskutiert, jedoch politische Angelegenheiten waren während diesen Stunden tabu. Fast alle in Eritrea geborenen Bürger sprachen mindestens vier Sprachen. der fünften Klasse lehrte man in Englisch. Nach der Muttersprache sprach man Tigrinya und Arabisch und die älteren Generationen sprachen durch die Zeiten der italienischen Besetzern Italienisch. „Peter, du solltest heiraten. Du bist in den besten Jahren und es wird Zeit, dass du endlich eine große Familie gründest”, redete Masuf auf Peter ein. Dabei zündete er sich eine dicke Zigarre an, nachdem Layla, seine Frau, die leeren Teller abgeräumt hatte, nachdem die von ihr gekochten wunderbaren Speisen aufgegessen waren. Es war Usus, dass sich die beiden Freunde zum Abschluss des Abends in die Bibliothek zurückzogen und sich einen guten italienischen Grappa gönnten. Eine Flasche, ausreichend für einen Monat, brachte ein Bote geschickt von seinem Freund und Gönner, dem Guerillasieger Isaisas, in Masufs Haus. Peter reagierte etwas verlegen. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Denn Masuf hatte mal wieder mit seiner Scharfsichtigkeit bei Peter ins Schwarze getroffen. Tatsächlich fühlte er sich einsam. Trotz den zahlreichen Begegnungen mit eritreischen Menschen war es für einen weißen Christen schwierig eine passende Lebensgefährtin zu finden. „Ach so? Wie stellst du dir das vor? Hier in eurem Land werden alle unverheirateten Frauen vor männlichen Fremden, wie ich einer bin, versteckt, als hätten wir die Pest am Leibe”, meinte Peter scherzhaft. „Layla und ich haben uns ernsthaft unterhalten, dass du, als unser geschätzter Freund, unsere Nichte Sanira kennenlernen solltest. Sie ist im heiratsfähigen Alter und mein Bruder will sie gut verheiratet wissen.” Gelangweilt sagte Masuf diesen Satz und beobachtete dabei die Glut seiner Zigarre. So, als würde es ihn wenig interessieren, ob Peter tatsächlich reagieren würde. „Sanira … ein schöner Name. Ist sie muslimischen Glaubens? „Nein mein lieber Freund. Wie du weißt, leben hier auch Christen. Sie ist christlich erzogen und Tareq, mein Bruder, mit seiner Frau Aischa, haben sehr großen Wert auf eine gute Schulbindung für Sanira gelegt. Zudem ist sie sehr schön”, dabei leckte er seine Oberlippe genüsslich und zwinkerte ihm zu. „Ich werde Tareq mit Sanira für den nächsten Freitag zu unserem gemeinsamen Abendessen einladen”, meinte er nachdenklich und zog genüsslich an seiner Zigarre. Peter nickte überrumpelt und war unfähig dagegen zu sein. Dann war es Zeit zu gehen. Unaufgefordert brachte Layla mit freundlicher Mine Peters Staubmantel. Das war das Zeichen für ihn zu gehen. Seine Wohnung lag nur wenige Gehminuten von Masufs Haus entfernt, mitten in der Hauptstadt Asmara. Um diese Zeit war es auf den Straßen still und dunkel. Es war später Abend und durch die Fenster der Häuser drang kaum noch Licht. „Wann werden endlich wieder die Straßen beleuchtet?”, dachte er ärgerlich. Immer mehr Straßenlaternen erloschen mit der Zeit nach und nach, da kein Geld für neue Leuchtbirnen ausgegeben wurde. „Wo bleibt das ganze Geld, das von der neuen Regierung eingenommen wird? Es fehlt Strom, Treibstoff und Nahrungsmittel”, dachte er grollend. „Auch die Straßenbeläge sind seit Jahrzehnten nicht mehr erneuert worden. Das Land verrottet. Kein Geld wird in Sanierungen investiert.“ Einige, vom Krieg verschonten Bauten, erinnerten an die im neunzehnten Jahrhundert von den Italienern gebauten Prachtvillen mit ihren, im italienischen Flair angelegten Gärten, die die prächtige Vergangenheit nur erahnen ließen. Als Peter das Haus verlassen hatte, setzte sich Layla zu ihrem Mann auf das Sofa. „Was meinst du, wäre Sanira die richtige Frau für Peter? Was ist, wenn Peter zurück nach Deutschland möchte? Tareq und Aischa lieben Sanira und werden ihre Tochter ungern gehen lassen.” „Was redest du denn meine liebe Layla. Das ist doch genau das, was mein Bruder für seine Tochter wünscht. Er will, dass sie nach Deutschland geht. Hier hat sie doch keine Zukunft. Die Lage für die Bevölkerung wird immer schlechter. Wir sind hier von Isaias wie in einem Gefängnis eingesperrt. Unser Land hat sich in einen “Ein-Mann-Staat” verwandelt. Keiner von uns ist in der Lage Isaias zu stoppen. Für ihn führen wir noch immer Krieg im Busch. Er meint, dass wir von Feinden umgeben sind, gegen die nur ein aufrechterhaltener Sicherheits- und Repressionsapparat sich wehren kann.” Layla nickte. „Du hast Recht, wir können froh sein, dass unser Sohn Masud noch vor der Wende in Amerika seinen Weg gefunden hat. Hoffentlich heiratet er bald und bekommt Kinder, damit wir einen guten Grund haben, eine Ausreisegenehmigung zu bekommen, um ihn in Amerika besuchen zu dürfen.” Es gab keine Reiseerlaubnis. Es war jedem Bürger verboten in ein anderes Land zu reisen. Selbst für eine Reisen innerhalb des Landes musste ein spezielles Visa beantragt werden. Nur für hochgestellte, militärische Personen, zu der Masuf als Gouverneur gehörte, war es vielleicht möglich, bedingt durch dringende Gründe, mit einem vom Diktator persönlich unterzeichneten Visum ausreisen zu können. Ihr Sohn Masud war noch vor Ausbruch des Rebellenkrieges, durch Drängen von Layla, zum Studium nach Boston geschickt worden. Dort lebte ein entfernter Verwandter, der während des Zweiten Weltkrieges unter abenteuerlichen Bedingungen durch die Sahara geflüchtet war, während die italienischen Besetzer von den Briten vertrieben wurden. Peters Recherchen wurden immer schwieriger und riskanter. Falls er überhaupt an den Parteivorsitzenden der einzigen Partei herankam, dann ihn auf politische Verbesserungen für das Land ansprach, wurde er unter fadenscheinigen Ausreden weggeschickt. Peter wollte darüber berichten, dass das Land nach der Unabhängigkeit noch immer im Kern mit denselben militärischen Führungsstrukturen regiert wurde, so wie einst im Krieg. Ebenso fragte er nach den wirtschaftlichen Verbesserungen des Landes nach. Schroff wurden ihm auch zu diesem Thema die Türen zugeschlagen. Selbst sein Freund Masuf wollte ihm keine unangenehmen Fragen beantworten. Deshalb verbot er ihm in seinem Haus über Politik zu sprechen. Endlich wurde es Freitag. Halbnackt und nervös stand Peter vor seinem Spiegel. Sein Haar war noch nass vom Duschen. Während er sich rasierte überlegte er, was er für diesen besonderen Abend anziehen sollte. Schließlich wollte er einen guten Eindruck vor Sanira und ihrem Vater machen. Als er in seinen spärlich eingerichteten Kleiderschrank schaute, blickte er auf einen alten beigefarbenen Anzug, den er von Deutschland mitgebracht hatte. Damals 1985 hatte er vor seiner Ausreise den Anzug gekauft, da er meinte, das dies das ideale Kleidungsstück für das warme Klima wäre . Doch hatte sich bis jetzt keine Gelegenheit geboten, ihn zu tragen. Naiverweise dachte er damals, dass er ihn brauchen würde. „Mitten im Geschütz von Panzern, im Anzug! Wie dumm ich war”, dachte er schmunzelnd. Trotz der nächtlichen Hitze, von noch um dreißig Grad, entschied er sich für diesen Anzug. Nur das passende Hemd fehlte ihm. In den letzten Jahren trug er ausschließlich Jeans und T-Shirts, die er billig in Asmara kaufen konnte. „Ein schwarzes, fast noch ungetragenes Shirt unter dem Sakko, das geht auch!” Fast wäre er unpünktlich gewesen. Das war ihm noch nie passiert. Es dauerte weitere zusätzliche Minuten, da er dann doch das schwarze Shirt gegen ein weißes austauschte. Gehetzt, in letzter Minute, läutete er die Türglocke zu Masufs Haus. „Guten Abend mein lieber Freund Peter. Nun sind die Gäste komplett. Tritt ein. Tareq und Sanira sind auch eben angekommen.” Ungewohnt überschwänglich umarmte Masuf Peter und drückte ihn fest an seine Brust. Im Wohnzimmer saßen Sanira und Tareq auf dem Sofa und blickten neugierig auf Peter. Dieses Gefühl des Bobachtenwerdens verstärkte seine Unsicherheit. Tareq betrachtete Peter misstrauisch und erhob sich vom Sofa. Peter reichte ihm zögerlich die Hand zur Begrüßung. „Das ist unser lieber deutscher Freund Peter”, stellte Masuf ihn vor. Tareq reichte ihm die Hand. Hinter Tareq blickte Peter auf die schüchtern aufblickende Sanira, noch wartend auf dem Sofa sitzend. „Große schwarze mandelförmige Augen, ... in denen man sich verlieren könnte”, dachte Peter fasziniert. Krause, kurz geschnittene Haare umrahmten ihr ovales Gesicht. Ihre Haut schien wie von einem Guss aus Schokolade überzogen zu sein. Ebenmäßig und glatt. Die vollen Lippen zuckten nervös, als sie sich zum Gruß vom Sofa erhob. Sie war schlank und großgewachsen, wie viele Frauen in Eritrea. Ihre schlanken Beine schienen bis zum Himmel zu reichen. Stumm reichte sie ihm ihre Hand. Peter war wie versteinert. Unfähig zu einer Bewegung. Diese Erscheinung von einer derartig schönen Frau hatte er nicht erwartet. Wieder ergriff der feinfühlige Masuf das Wort: „Willst du nicht auch Sanira begrüßen?” „Oh ja, entschuldige Sanira, ich heiße Peter Simon und freue mich über die Ehre, dich und deinen Vater kennenzulernen”, stammelte er mit trockener Kehle. Noch immer sagte sie kein Wort. Layla kam aus der Küche und forderte die Gäste auf, an dem gedeckten Tisch im Esszimmer Platz zu nehmen. Wieder bot sie die leckersten Speisen an. Frisch gebackenes, duftendes Brot, Obst, gedämpftes Gemüse und dazu einen riesigen Fisch, den sie aus dem Ofen holte und servierte. „Es hat wieder phantastisch geschmeckt. Wir können froh sein, dass ich mit Isaias gute Verbindungen unterhalte und ab und zu durch ihn für meine Gäste die besten Lebensmittel erhalte. Für meine Familie ist mir nichts zu teuer”, sagte der Gastgeber stolz und zufrieden. „Tareq, lass uns noch zusammen in der Bibliothek eine Zigarre rauchen. Wir haben uns viel zu erzählen.” Tareq zögerte unwillig, doch Masuf zog ihn sanft unter dem Ellbogen in den anderen Raum. Sanira und Peter waren allein. Peter hatte mittlerweile seine Fassung wiedererlangt. „Habt ihr den Rebellenkrieg gut überstanden? Von Dschibuti aus habe ich den Krieg beobachtet. Sicher hast du und deine Familie in ständiger Angst gelebt.” „Nein, meine Mutter und ich waren ziemlich sicher untergebracht. Mein Vater war als Kämpfer in der Führung und konnte uns gut, fernab der Angriffe, verstecken, da er über die bevorstehenden Angriffe des Feindes über seine Spione informiert war.” Es stellte sich heraus, dass Tareq, wie sein Bruder auch, mit Isaias befreundet war und dementsprechend, im Gegensatz zu den anderen Kämpfern, viele Vorteile genoss. Peter erzählte knapp seine Lebensgeschichte. Er erzählte von seiner Heimat, von seinen liebevollen Eltern, seinem Studium und seinem Lebenstraum, als erfolgreicher Reporter um die Welt zu fliegen. Schon früh in seiner Jugend träumte er davon, als Reporter zu recherchieren und aufzuklären, was außerhalb der “Zivilisation Europa” in der restlichen Welt geschieht. Sanira war beeindruckt. Was außerhalb von Eritrea geschah, konnte sie sich schwer vorstellen. Sie kannte nur ihre eigene Welt. Eine Welt voller Misstrauen anderen Menschen gegenüber, eine Welt ohne Meinungsfreiheit und ohne berufliche Zukunft für Frauen. Den Frauen war in ihrem Land nur ein beschränktes, freies Leben im Militärdienst erlaubt. Allerdings erst ab dem achtzehnten Lebensjahr. Sie war gerade erst siebzehn Jahre alt. Noch zwei Monate bis zum Antritt ihres Wehrdienstes als Achtzehnjährige. Es galt für alle Geschlechter eine Wehrdienstpflicht. Und erst dann konnte unter militärischer Leitung eine passende Ausbildung ausgesucht und gestattet werden. „Wirst du auch zum Militär gehen müssen?”, fragte Peter. „Ja, natürlich, darauf freue ich mich schon. Denn dann habe ich etwas größere Freiheiten als jetzt bei meinen strengen Eltern.“ Sie lächelte und entblößte dabei ihre strahlend weißen Zähne. Tareq hielt es nicht mehr aus. Er war nervös und ungeduldig geworden. Er wollte endlich wieder zu seiner Tochter. Dabei war sie gerade eine Stunde mit Peter allein. Masud wollte ihn beruhigen. „Lange genug für ein Kennenlernen zwischen Mann und Frau“, murmelte Tareq und erhob sich aus dem schweren Sessel. Layla hatte sich mittlerweile zu dem jungen Paar dazugesetzt und an der Unterhaltung teilgenommen. Als Tareq das Zimmer betrat und sah, dass das Paar nicht alleine war, war er erleichtert. „Komm mein Schatz, deine Mutter wartet schon ungeduldig auf uns. Es ist spät geworden. Wir müssen nach Hause gehen.” Zusammen mit Sanira stand Peter auf, um sich von ihr zu verabschieden. Doch Tareq trat dazwischen. Die gesellschaftlichen Regeln schrieben vor, dass es sich nicht gehörte, dass eine Frau zuerst, vor einem Mann begrüßt oder verabschiedet wird. Peter begriff schnell und reichte zuerst Tareq die Hand und danach Sanira. Länger als nötig hielt er ihre zarte Hand fest und blickte ihr tief in ihre Augen. Dabei bemerkte er funkelnde goldene kleine Sterne, die ihre schwarze Pupille umkreisten. Diese Sekunden der Blicke empfand Sanira wie eine Ewigkeit. Dann wandte Peter sich Tareq zu: „Vielen Dank für die große Ehre, dass ich deine Bekanntschaft machen durfte. Danke, dass du mir die Gelegenheit gegeben hast, dich und deine Tochter kennenzulernen. Vielleicht erlaubst du mir, auch deine Ehefrau kennenzulernen?” Nun ging es darum ob Peter von Tareq akzeptiert worden war. „Ja, sehr gerne. Wenn es deine Zeit erlaubt, möchte ich dich am nächsten Sonntag zum Tee einladen.” Sanira strahlte. „Du hast mächtigen Eindruck auf meinen Bruder gemacht. Er wollte alles von dir wissen, … wer du bist, warum du hier bist und wie lange du noch in diesem Land bleiben wirst.” Dabei schaute er Peter fragend an. „Wie lange ich noch bleibe hängt von den politischen Ereignissen ab. Ich rechne ständig damit, dass man mich als unerwünschte Person ausweisen wird.” „Wenn du hier bleiben möchtest werde ich dir mit meinen Verbindungen helfen. Doch künftig solltest du mit deinen Recherchen etwas vorsichtiger sein. Auf oberster Stelle ist man über deine Berichten verärgert. Wähle deine Worte etwas unverfänglicher und neutraler aus, bis du wieder in Deutschland bist. Du bist doch ein Meister der Sprache, nutze es.” Dann füllte Masuf ein Glas mit dem gewohnten Grappa für Peter. Als Peter das Glas leer getrunken hatte, wartete er auf Layla mit seinem Staubmantel, den ihm Layla nach jedem gemeinsamen Abendessen brachte. Aber dieses Mal erschien sie nicht. „Mein lieber Freund, setze dich noch mal. Wir haben noch nicht über alles gesprochen. Wie hat Sanira dir gefallen? Ist sie nicht zauberhaft? Und sehr intelligent. Schöne Frauen sind nicht immer mit Klugheit gesegnet. Wie mein geliebtes Eheweib ist Sanira eine besondere Frau. Nicht wahr, Layla?” Masuf hatte belustigt bemerkt, dass Layla hinter der Tür lauschte. Doch sie gab keine Antwort. „Oh sehr …, ich meine, ... sie ist die zauberhafteste Frau, die ich je gesehen habe”, schwärmte Peter. „Wie es ausschaut, darfst du sie näher kennenlernen. Tareq würde es sehr begrüßen, wenn du sie heiraten würdest!” Das ging Peter etwas zu schnell. „Ich kenne sie kaum. Auch ihre Eltern kenne ich nicht. Zudem weiß ich nicht, ob sie mich überhaupt attraktiv findet. Gesagt hat sie wenig. Das braucht mehr Zeit”, stotterte Peter verlegen. „Nein, Peter, ihr habt nicht viel Zeit, um euch zu entscheiden. Sanira steht kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag. Ich muss dich über ein sehr heikles und intimes Problem informieren, was mir sehr schwerfällt.” Dann rief er Layla ins Zimmer zu kommen. Prompt erschien sie. So, als hätte sie darauf gewartet. „Layla kläre doch unseren Freund auf, warum es für unsere Nichte sehr wichtig ist, wenn sie vor ihrem achtzehnten Geburtstag heiratet. Das ist ein heikles Thema, welches eine Frau besser erklären kann.” Layla setzte sich dicht neben Peter. Sie nahm seine Hand in die ihre und sprach mit leiser Stimme: „Lieber Peter, ich werde dir einige intime Details von Saniras Leben erzählen müssen, damit du alles begreifst. Wir haben zu dir Vertrauen und wir denken, dass du dieses Vertrauen zu würdigen weißt.“ Layla atmete tief durch, bevor sie weiterredete. „Die Mutter von Sanira hat sich, gegen den Willen von Tareq, bis zum heutigen Tag geweigert, Sanira einer FGM zu unterziehen. Dies kann nach unserer Tradition nur bis zum achtzehnten Geburtstag hinausgezögert werden. Ohne FGM hat sie keine Chance von einem eritreischen Landsmann geheiratet zu werden. Es ist eine Schande für die ganze Familie, wenn nach der Hochzeit eine Mädchen ohne FGM, deshalb von ihrem Ehemann verstoßen werden würde. Trotz Aufklärung wird dieser Eingriff auch von christlichen Männern gewünscht. „Was ist das denn? FGM!” „Es heißt “female genital mutilation”, eine von allen Religionsgemeinschaften praktizierte Regel für alle Frauen in unserem und in anderen muslimischen Ländern.“ Peter war bestürzt und hörte weiter zu, ohne Layla zu unterbrechen. „Diese Beschneidung wird von einer traditionellen Beschneiderin oder von weiblichen Familienmitgliedern durchgeführt.” Peter erschrak. Davon hatte er zwar schon gehört, doch bisher hatte er sich nur um die politischen Angelegenheiten gekümmert, ohne über die Qualen dieser verstümmelten Frauen weiter nachzudenken. „Normalerweise werden Mädchen schon ein paar Monate nach der Geburt, oder bis zum neunten Lebensjahr beschnitten. Aischa, die Mutter von Sanira, hat jahrelang diesen Schritt hinausgezögert. Immer wieder hatte sie Ausreden vorgeschoben, um den Zeitpunkt zu verschieben. Sie selbst wurde schon als Sechsjährige von einer Tante behandelt. Das Mädchen wurde, nach der Beschneidung, bis auf eine kleine Öffnung der Vulva, zugenäht und kurz vor der Hochzeit wieder so weit wieder aufgeschnitten, dass sie den Geschlechtsverkehr ausführen konnte. Muslime in Eritrea behaupten, dass es religiöse Pflicht wäre, aus vielerlei Gründen, Frauen die Klitoris zu entfernen, obwohl mittlerweile die Beschneidung gesetzlich verboten wurde. Die Glaubensgemeinschaften widersetzen sich, das Gesetz zu beachten. Und es gibt keine Ankläger.” „Wie kann ich das verhindern? Heißt das, dass, wenn ich sie heirate, ich sie dadurch vor dieser barbarischen Tortour bewahren könnte?” „Ja, das kannst du als ihr Ehemann verhindern. Du bist Ausländer, du bist Christ, und wenn du Sanira heiratest, geht sie in deine Familie über, und du kannst zusammen mit deiner Familie über sie bestimmen. Am besten wäre, wenn ihr nach der Hochzeit nach Deutschland reisen würdet. Auch lautet es im Gesetz, dass unbeschnittene Frauen nach ihrem Tod nicht beerdigt werden könnten. Würde Sanira einen Einheimischen heiraten, der nicht auf die Beschneidung bestünde, müsste sie auf jeden Fall beschnitten sein, um nach ihrem Ableben eine anständige Beerdigung zu erhalten.“ „Werden nicht beschnittene Frauen nicht christlich beerdigt?” „Nein, diese Frauen gelten als unrein und erhalten keinen Gottessegen.” Peter bat noch um ein weiteres Glas Grappa. Seine Kehle war trocken. Layla brachte die Flasche und schenkte sich auch ein Glas ein. Eigentlich war es den Frauen verboten Alkohol zu trinken. Doch sie war die Frau des Gouverneurs und sie hatte Sonderrechte, ... wenn es keiner sah. Nach einem Schluck atmete sie wieder tief ein und fuhr fort: „Manche anderen Religionsgemeinschaften halten es für reiner auch die Schamlippen zu entfernen. Nach ihrer Einstellung sollte alles um den Scheideneingang glatt und eben sein. Das wäre für den Ehemann sexuell attraktiver und sauberer. Auch Christen in unserem Land sind von diesem Ritual nicht ausgenommen.” Peter, sichtlich ergriffen, trank aus, stand auf und bat dieses Mal selbst um seinen Mantel. Er hatte das dringende Bedürfnis sich zurückzuziehen. Obwohl ihn dieser Abend ermüdet hatte, konnte er keinen Schlaf finden. Vieles war zu verarbeiten und zu überdenken. Ständig erschien Sanira in ihrer Anmut vor seinen Augen. Er war sich klar, dass sie ihm sehr gut gefiel. Wenn er sie vor sich sah, fühlte er ein angenehmes Ziehen in der Magengegend. Auch kribbelte es ihn am ganzen Körper. Er sah ihren graziösen Gang, ihre schlanke, hochgewachsene Figur, hörte ihre sanfte Stimme und blickte in ihre schönen, unergründlichen schwarzen Augen. „Dieses Funkeln in ihren Augen! Bald ist es Sonntag. Dann werde ich weitersehen. Danach werde ich mich entscheiden”, dachte er, bevor er endlich einschlief. Er hatte sich hoffnungslos verliebt.

Flucht aus Eritrea

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