Читать книгу Die Feuerwehrfrau, ihre Ärztin, deren Mutter und das ganze Dorf - Lo Jakob - Страница 11
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ОглавлениеNichts funktionierte. Ihr Computersystem wurde noch installiert, sie hatte noch immer kein Praxisteam, und der alte Bürostuhl, den sie in einer Hauruckaktion aus dem Keller geholt hatte, quietschte.
Trotzdem saßen in Willas Wartezimmer bereits die ersten Patientinnen und Patienten. Es musste sich wie ein Lauffeuer im Dorf verbreitet haben, dass sie die Praxis zwei Wochen früher als angekündigt öffnete. Urlaub adieu, ausgeruhte Vorbereitungen adieu – hereinspaziert Maxi Gnädig. Hoffte sie inständig. Denn genau das war der Grund für diese wenig durchdachte Aktion. Dass die Feuerwehrfrau zur Nachsorge in die Praxis im Dorf kommen würde. Was lag denn schließlich näher?
Nur bisher saßen im Wartezimmer sieben Weilerer Schnecks, die alle über dutzend Ecken mit ihr verwandt waren, und ein paar Leute, die sie sogar nicht kannte, was ja erfreulich war – aber keine Maxi Gnädig weit und breit.
Willa wühlte sich durch die alten Karteikarten ihres Vorgängers, die sie in Ermangelung eines funktionierenden Computers jetzt erst einmal weiterverwenden musste, um aufzuzeichnen, wen sie wie behandelte. Die Krankenkassenabrechnung stand auf einem anderen Blatt und würde vermutlich noch ein Albtraum werden.
Mit einer Karteikarte in der Hand öffnete sie die Tür zum Warteraum und grüßte in die Runde. »Guten Morgen, alle zusammen.«
Unisono kam ein Gruß zurück, und aufmerksame Augen musterten sie. Nicht unfreundlich, aber doch mit ausgesprochener Neugier.
Gestern hatte Willa einfach einen Stapel ihrer alten Zeitschriften hier auf ein Tischchen geworfen, einige Emmas darunter – wie auch immer das in Weiler ankommen würde. Eine Pflanze oder ein paar Bilder täten dem Warteraum noch gut. Die Stühle hatte sie noch zu Krankenhauszeiten bestellt, sonst müssten ihre Patienten jetzt auf Sperrmüllersatz Platz nehmen. Immerhin waren alle Räume frisch renoviert.
»Ich bitte um etwas Verständnis und Geduld heute. Die Praxiseröffnung könnte reibungsloser verlaufen. Aber es geht jetzt los. Margit Schneck, bitte«, sagte sie in den Warteraum hinein. Eine der anwesenden Schnecks erhob sich sofort und kam zielstrebig auf sie zu.
»Keine Sorge, Wilhelmine. Länger als bei Doktor Frank kurz vor dem Ruhestand kann es gar nicht dauern.« Das kam von einem Cousin dritten Grades, den sie seit ihrer Jugend nicht mehr gesehen hatte, aber sofort an seiner lauten Stimme und der vorwitzigen Art erkannte.
Sie nickte ihm nur zu. Ganz neutral. An dieser nichtssagenden Gesichtsmimik würde sie noch viel arbeiten müssen, um sie zu perfektionieren. Sie hatte das Gefühl, dass sie das hier sehr oft brauchen würde.
Margit Schneck folgte ihr ins Behandlungszimmer.
Mit einem Quietschen ließ Willa sich auf dem Schreibtischstuhl nieder und schob die Karteikarte, die sie von Margit Schneck gefunden hatte, auf dem Schreibtisch zurecht, um darin Eintragungen machen zu können. Die letzte, die sie darin fand, war zehn Jahre alt – großes Blutbild mit extrem guten Werten.
Sie schaute hoch und fragte mit ihrer besten Doktorstimme: »Was kann ich also für Sie tun?«
Die Reaktion darauf hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht zusammenfantasieren können. Ihre erste Patientin in ihrer eigenen Praxis.
»Aber seit wann siezt du mich denn?«, fragte Margit Schneck empört. »Ich hab dich als kleines Kind auf dem Schoß gehalten, erinnerst du dich nicht? Du hast immer Tante Margit zu mir gesagt.«
Die Erinnerung war natürlich noch da, aber wollte sie ausgerechnet jetzt daran denken? War das nicht unpassend? Verfluchtes Dorf, verfluchte Verwandtschaft. Das brachte Probleme mit sich, die sie vorher so nicht durchdacht hatte.
»Aber jetzt sind wir Ärztin und Patientin.«
Diese Erklärung erschien Willa alles zu sagen, und sie sah Margit Schneck auffordernd an. Immer noch in Erwartung auf das medizinische Problem, das es hier anzugehen galt. Das Wartezimmer saß schließlich voll. Aber sie hatte die Rechnung ohne ihre Verwandte gemacht.
»Und ich bin immer noch deine Tante Margit«, erwiderte sie mit vorgeschobenem Kinn, das deutlich zeigte, dass sie in diesem Thema eine unverrückbare Ansicht hatte.
Gut, Willa konnte flexibel sein. Zwangsläufig. Das führte hier sonst zu nichts. Und tatsächlich war Margit Schneck immer eine von den Schnecks gewesen, die stets sehr nett zu ihr waren. Daran konnte sie sich deutlich erinnern.
»Also gut, Tante Margit, was bringt dich in meine Praxis?« Vielleicht führte der Weg des geringsten Widerstandes zum Erfolg.
Tante Margit öffnete ihre Großraumhandtasche, die sie die ganze Zeit über dem Arm hängen hatte und nun auf ihren Schoß bugsierte. »Ich hab dir hier ein Glas Honig von deinem Onkel Erwin mitgebracht. Wenn es leer ist, sag einfach Bescheid. Du weißt doch, dass er passionierter Imker ist?« Und mit diesen Worten stellte Tante Margit ein Fünfhundert-Gramm-Glas des deutschen Imkerbunds mit flüssigem, goldenen Honig auf Willas Schreibtisch.
»Oh, vielen Dank, das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte Willa reflexartig und ziemlich perplex. Die erste Patientin, das erste Geschenk. Damit hätte sie wohl auch rechnen müssen. Hier im Dorf. »Du bist also krank?«, versuchte sie, das Gespräch wieder in die richtige Richtung zurückzulenken. Etwas plump, aber dafür sehr deutlich. Sie würde doch wohl noch in Erfahrung bringen, wieso Tante Margit hier war.
»Krank?«, erwiderte Margit Schneck aber sofort wieder empört. »Wie kommst du denn darauf? Mir geht es bestens. Ich bin nie krank. Und Erwin auch nicht. Wir nehmen Propolis, da können deine ganzen Medikamente nicht mithalten.«
Ja, Willa hatte schon von dem Bienenkittharz Propolis und seinen vielfältigen medizinischen Anwendungsmöglichkeiten gehört, sich aber noch nie ausführlicher damit befasst. Das fiel in den Bereich Naturheilkunde. Im Krankenhaus nicht gerade sehr nachgefragt. Vielleicht sollte sie das jetzt mal angehen. Als Allgemeinmedizinerin auf dem Dorf war es durchaus nützlich, sich da ein bisschen Fachwissen anzueignen.
Erst einmal galt es allerdings, hier weiterzukommen. »Aber warum warst du denn dann in meinem Warteraum?« Willa war jetzt vollständig verwirrt und trug bestimmt auch ein entsprechendes Gesicht zur Schau. Sie war nicht gut darin, ihre Emotionen zu verstecken. Ein Umstand, den ihre Mutter ihr immer wieder vergegenwärtigte.
Tante Margit strahlte sie jedoch an. »Na, um dich herzlich willkommen zu heißen und dir viel Erfolg zu wünschen! Als Patienten wirst du uns zwar, so Gott will, nicht oft zu Gesicht bekommen, aber wir freuen uns sehr darüber, dass du jetzt wieder hier bist. Das Dorf braucht dich.«
Willa konnte nicht anders, als über diese unerwartete Wendung herzlich aufzulachen, und Tante Margits Strahlen war auch wirklich ansteckend. Das kam von Herzen, und man spürte das auch. »Das ist aber wirklich nett, Tante Margit«, sagte sie zum ersten Mal am heutigen Tag ganz und gar unverkrampft und positiv gestimmt.
Tante Margit war damit anscheinend zufrieden, denn sie stand zügig auf und raffte ihre Großraumhandtasche wieder an sich. »Ich halte dich nicht länger auf. Da warten noch mehr Leute in deinem Wartezimmer.«
Willa wollte irgendetwas Höfliches antworten, aber Tante Margit fackelte nicht lange herum. Sie öffnete die Tür zum Behandlungszimmer und war schon halb hinaus, bevor Willa piep sagen konnte.
»Und lass dich von deiner Mutter nicht wieder vergraulen, Mine.«
Mit dieser Aussage, die für Willas Geschmack wesentlich mehr Ausführung gebraucht hätte, verschwand Tante Margit mit einem Winken aus der Praxis, als ob das alles ganz und gar selbstverständlich wäre.
Willa schaute perplex auf das golden schimmernde Glas Honig auf ihrem Schreibtisch. Was für ein Anfang!
Dann biss sie sich ärgerlich auf die Lippe. Warum hatte sie Tante Margit nicht nach der Feuerwehrwehrfrau Maxi Gnädig gefragt? Von allen Sachen, die sie hätte sagen können, wäre das ja wohl das Allerwichtigste gewesen.
Aber jetzt war keine Zeit zu sinnieren. Auch nicht darüber, dass die nette Tante Margit wohl ein etwas zwiespältiges Verhältnis zu ihrer Mutter Gertrud hatte. Eine äußerst interessante Tatsache.
Willa erhob sich wieder mit einem Quietschen aus dem alten Schlachtross von einem Schreibtischstuhl und wusch sich die Hände an ihrem kleinen Waschbecken. Sie hatte Tante Margit zwar nicht die Hand gegeben – was sie im Nachhinein wunderte, dass die willensstarke Verwandte nicht auch darauf bestanden hatte –, aber das konnte nicht schaden. Hygiene war das A und O in der Medizin.
Da ertönten Stimmen im Flur, und das kleine Glöckchen an der Eingangstür klingelte. Auch das hatte sie mehr oder weniger provisorisch aufgehängt. Was sich bereits bewährte. So hörte sie wenigstens, wenn jemand kam.
Sie brauchte wirklich dringend eine Mitarbeiterin. Während sie in Behandlung war, konnte sie schließlich nicht auch noch neue Patienten aufnehmen. Das würde hier noch im Chaos enden, wenn sie das nicht bald anging. Es lagen ihr zwar schon Bewerbungen vor, aber sie war aufgrund von verschobenen Prioritäten – Feuerwehrfrau auf Platz eins, danach kam der ganze Rest – noch nicht dazu gekommen. Sie ging wirklich alles in der falschen Reihenfolge an. Mist.
Willa trocknete sich schnell die Hände ab und machte sich über die Rezeption auf den Weg zum Wartezimmer.
Und blieb bei dem Anblick, der sich ihr bot, unvermittelt stehen. Larissa, die Ex-Frau ihres Bruders, war in die Praxis gekommen, während sie mit Tante Margit im Behandlungsraum war. Die zehn Minuten hatten für Larissa offenbar gereicht, sich hinter dem Empfangstresen einzurichten. So richtig. Denn Larissa sah so aus, als ob sie da hingehörte und auch noch nie etwas anderes gemacht hätte.
Zwei Neuankömmlinge standen davor, und Larissa managte alles mit absoluter Gelassenheit. Und was noch besser war: mit Professionalität. Das Kartenlesegerät für die Versichertenkärtchen funktionierte wie durch ein Wunder inzwischen auch. Und der Computer!
Larissa warf ihr kurz einen Blick zu und fuhr dann fort, die neuen Patienten aufzunehmen.
Willa konnte nur starren. Sie war nicht in der Lage weiterzumachen, als ob nichts wäre. Hörten die Überraschungen hier in Weiler eigentlich irgendwann auch mal auf?
Larissa komplimentierte die beiden Neuen zügig ins Wartezimmer und wandte sich dann kampflustig zu Willa.
Wohlwissend, dass nur durch eine Tür getrennt halb Weiler im Wartezimmer saß, flüsterte Willa ihrer Ex-Schwägerin über den Tresen hinweg zu: »Was machst du hier?«
Larissa zeigte vorwitzig auf die ganzen Unterlagen und überhaupt alles, was sich um sie herum befand.
Willa ging hinter den Tresen und baute sich vor Larissa auf, was nicht so leicht war, weil ihre Ex-Schwägerin eine stämmige, große Blonde war, die Willa einfach aus dem Weg hätte schubsen können. »Du weißt, was ich meine«, insistierte Willa trotzdem. Das war schließlich ihre Praxis hier. Auch wenn sich Weiler offenbar in einer geheimen Verschwörung gegen sie befand. Nichts lief, wie sie das geplant und vorhergesehen hatte.
Larissa schaute sie störrisch an. Hochgezogene Schultern, zusammengebissene Zähne, hochgezogene Augenbrauen. »Ich bin die ideale Praxishelferin für dich, und das habe ich in den letzten zehn Minuten bewiesen.«
Ja, tatsächlich, das hatte sie. Das musste Willa zugeben. Es war wie ein Wunder. Natürlich hatte Larissa Glück gehabt, dass der Techniker genau im richtigen Moment fertig geworden war und sie sofort übernehmen konnte. Aber es stimmte, Larissa hatte ohne Einarbeitung die Sache geschmissen. Was nicht weiter verwunderlich war, denn sie hatte vor ihrer Heirat mit Wilhelm in einer Zahnarztpraxis gearbeitet. Seit den Kindern aber nicht mehr. Sie hatte zwar eine Stelle gesucht, aber keine gefunden, die mit den Zeiten der Kita in Weiler kompatibel war.
»Warum hast du dich denn nicht einfach beworben?« Das war doch wohl die Frage aller Fragen. Natürlich hätte Willa auch selbst darauf kommen können, ihrer Ex-Schwägerin die Stelle anzubieten, aber sie hatte wirklich anderes um die Ohren gehabt.
Larissa kriegte ein Funkeln in die Augen und sah noch störrischer aus. »Weil du mich garantiert nicht genommen hättest. Gertrud hätte dich so lange bearbeitet, bis du klein beigegeben hättest. Jetzt hat mich bereits das halbe Dorf hier gesehen, nun ist es praktisch schon Allgemeinwissen.«
Larissas Erklärung ließ Willa die Kinnlade herunterfallen. Larissa registrierte das offensichtlich, denn sie grinste schelmisch und fügte hinzu: »Ganz schön ausgefuchst von mir, oder?« Sie hatte verdammt recht, und das war keine angenehme Erkenntnis.
»Das kann man wohl sagen«, gestand Willa ein.
Sie wusste nicht, ob sie sauer oder froh sein sollte. Das Gesicht ihrer Mutter hätte sie aber zu gern sehen wollen, als sie erfahren hatte, dass ihre verhasste Ex-Schwiegertochter jetzt die medizinische Fachangestellte ihrer Tochter war. Denn eines war sicher: Gertrud Schneck war eine der Ersten gewesen, die es erfahren hatten.