Читать книгу Die Feuerwehrfrau, ihre Ärztin, deren Mutter und das ganze Dorf - Lo Jakob - Страница 14
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ОглавлениеWilla war jetzt schon eine ganze Woche in ihrer neuen Praxis tätig, aber in Sachen Feuerwehrfrau noch keinen Schritt weitergekommen.
Moment. Das stimmte nicht ganz: Sie wusste inzwischen, dass es bei der Feuerwehr eine Frau namens Maxi Gnädig gab und sie einen Unfall mit einem Pferd hatte, was zu der fast einhelligen Meinung im Dorf führte, dass Frauen in der Feuerwehr nichts verloren hatten. Das überraschte Willa überhaupt nicht und war genau das, was ihre Mutter mit Sicherheit auch dachte. Aber da sie über beide Ohren mit Arbeit eingedeckt war, hatte sie Gott sei Dank noch keine Gelegenheit gehabt, sich die Standpauke abzuholen, die sie wegen Larissa erwartete, sowie sonst irgendwelcher vorgefassten Meinungen von Gertrud Schneck.
Mehr hatte sie also nicht herausbekommen und war deswegen auch schon ordentlich frustriert. Aber sie musste zugeben, dass sie auch nicht wirklich zum Fragen gekommen war. Ihr war die Bude gestürmt worden mit Antrittsbesuchen wie dem von Tante Margit, gepaart mit nützlichen und unnützen Geschenken und Wehwehchen der geringfügigsten Art.
Wenn sie es dazwischen geschafft hatte, das Gespräch auf die Geschehnisse im Ort zu lenken, waren massig Informationen über Geburten, Heiraten, Todesfälle und Sonstiges gekommen und nur ganz selten Informationen über die Freiwillige Feuerwehr.
Bislang hatte sie sich noch nicht getraut, dezidierter nach Maxi Gnädig zu fragen. Sie war ein echter Feigling.
Heute Morgen standen die ersten Hausbesuche an. Ihr Vorgänger hatte das immer so gemacht, und obwohl sich das wirtschaftlich wohl überhaupt nicht rechnete, fühlte Willa sich verpflichtet, diese Tradition beizubehalten. Ihr war natürlich klar, dass manche Leute sonst den Krankenwagen hätten holen müssen. Vor allem manche ihrer älteren Patienten schafften den Gang in die Praxis nicht. Und eigentlich fand sie auch, dass das zu einer Hausarztpraxis auf dem Dorf einfach dazugehörte.
Sie parkte ihren gelben VW Beetle vor dem Einfamilienhaus, wo die dreiundneunzigjährige Patientin angeblich allein wohnte. Das hatte ihr Larissa gestern noch in einem sehr nützlichen Briefing mit auf den Weg gegeben.
Nachdem sie klingelte, wurde ihr fast sofort mit dem Türöffner aufgemacht. Ohne Nachfrage, wer an der Tür stand. Das war eben das Leben auf dem Dorf.
Im Eingang kam ein junger Mann im Jogginganzug auf sie zu. »Hallo Mine«, sagte er, aber sie erkannte ihn nicht. Hätte sie das sollen, oder sprach er sie so an, weil das viele im Dorf taten?
»Guten Morgen«, sagte sie daher neutral. »Ich bin hier für Frau Schmelzling.«
Der Mann streckte ihr zur Begrüßung die Hand hin und lächelte sehr breit. Seufzend schüttelte Willa sie, weil sie keinerlei Ausweg hatte. Das war jetzt schon mehrfach vorgekommen. Sie würde mehr Desinfektionsmittel bestellen müssen. Auch solches für unterwegs.
»Das ist meine Oma. Du erkennst mich nicht, stimmt’s?«, fragte der Mann im Händeschütteln auf sehr nette Art.
Ertappt. Offenbar war ihr neutraler Gesichtsausdruck nicht so neutral und nichtssagend, wie sie gehofft hatte. Sie sah ihn noch mal genauer an. Kinnbärtchen, kurze braune Haare in einem Allerweltsherrenschnitt, freundliches Lächeln. Nichts weiter Erwähnenswertes an Merkmalen.
»Tut mir leid. Ich treffe gerade so viele Leute wieder«, gestand sie. »Hilfst du mir auf die Sprünge?« Daran, von allen Leuten, die sie von früher kannten, geduzt zu werden, hatte sie sich bereits gewöhnt.
»Ich bin Dieter. Dieter Schmelzling. Du bist mit meiner Schwester in eine Klasse gegangen«, sagte der Mann und wartete wieder auf eine Reaktion von ihr.
Dunkel dämmerte ihr etwas. Der Name Schmelzling hatte gleich bekannt gewirkt.
Dieter Schmelzling fuhr fort, weil er wohl merkte, dass er weiter ausholen musste, damit es bei Willa klick machte. »Ich habe euch manchmal auf meinem Mofa in der Gegend herumgefahren. Einmal hat uns deshalb die Polizei angehalten. Beim Baggersee.«
Da machte es tatsächlich klick bei ihr. Wie hatte sie nur den Bruder ihrer damals besten Freundin nicht erkennen können? »Diddi! Natürlich! Wir waren echt bescheuert, oder? Zu dritt auf einem kleinen Mofa. Typisch Teenager. Meine Mutter hat mir dafür eine Woche Hausarrest verpasst.« Manchmal hielt sie ihr die Geschichte heute noch vor. Wobei Diddi lange auch ein Kandidat war, den sie ihr kredenzen wollte. Vielleicht auch ein Grund, warum sie ihn nicht erkannt hatte. Verdrängung.
»Tja nun, deine Mutter war immer sehr streng mit dir«, sagte Dieter mit einer leichten Grimasse.
Nicht mit deinem Bruder Wilhelm, schwang da mit. Das wusste Willa. Denn das ganze Dorf hatte unter Wilhelms nicht immer harmlosen Jugendstreichen gelitten, weil ihre Eltern, allen voran Gertrud, ihn einfach hatten machen lassen, ohne große Konsequenzen zu ziehen. Denn so waren Jungs eben. O-Ton Gertrud Schneck.
Willa ließ das kommentarlos stehen. Was sollte sie auch dazu sagen?
»Deiner Großmutter geht es nicht gut?«, lenkte sie das Gespräch weg von ihrer manchmal nicht so besonders erfreulichen Jugend im Dorf.
»Komm mit. Sie soll es dir am besten selbst erklären.«
Da war Willa aber mal gespannt, wie gut eine dreiundneunzigjährige ihr erklären konnte, wo der Schuh drückte.
Sie folgte Dieter die vier Treppenstufen hinauf in eine Wohnung, die früher eindeutig mal der Mittelpunkt einer größeren Familie gewesen war, jetzt aber offensichtlich von einer älteren Person bewohnt wurde. Am Eingang stand ein Rollator, ein Blick in die offenstehende Badezimmertür zeigte eine Duschhilfe in der Badewanne, auf einem Wäscheständer trockneten Kompressionsstrümpfe ordentlich aufgereiht.
»Oma, es ist die Ärztin. Wilhelmine Schneck«, rief Dieter bereits im Flur, während er sie in ein geräumiges Wohnzimmer führte. »Ich hab dir doch von ihr erzählt. Noras alte Schulfreundin hat Doktor Franks Praxis übernommen.«
»Aber ja doch. Hallo, hallo!«, antwortete eine hobbitkleine Frau mit grauer Dauerwelle in einem bequem aussehenden Stuhl mit Lehnen. Sie saß vor einem bescheidenen Frühstück aus Marmeladenbrot und Kaffee und einem Sammelsurium an Tabletten. Für eine dreiundneunzigjährige wirkte sie quicklebendig und mit einem hellwachen Verstand ausgestattet. »Frau Doktor, es ist mein Zucker. Der spinnt.« Sie hielt ein Heft mit den typischen Tabellen von Diabeteskranken in die Höhe.
Willa nahm es ihr ab und fing an, die Zahlen zu studieren.
»Mine, willst du auch ein Tässchen? Die Oma kocht einen guten Kaffee. Von Hand aufgebrüht wie in den guten, alten Zeiten.«
Das klang nicht schlecht, aber wenn sie pünktlich in der Praxis sein wollte, sollte sie definitiv ablehnen.
»Stell ihr eine Tasse hin, Diddi. Frag nicht lange.«
Und zack bekam sie rabenschwarzen Kaffee in einer Porzellantasse mit Blumenmuster serviert. Genau so, wie sie ihn mochte. Sie nahm einen Schluck. Er schmeckte auch, wie sie ihn mochte. »Vielen Dank. Das bringt mich in Schwung«, erklärte sie und hoffte, dass sich das leutselig anhörte.
Diddis Oma winkte ab, lächelte aber zufrieden und biss in ihr Marmeladenbrot.
»Waren Sie mit ihrem Diabetes denn bereits bei Doktor Frank?«
Diddi schnaubte abfällig durch die Nase, und seine Oma legte ihr Brot beiseite. »Jetzt will ich Ihnen mal was über Doktor Frank erzählen . . .«
Und damit begann eine Konsultation, wie Willa noch keine in ihrem Leben hatte. Denn ihr Vorgänger Doktor Frank hatte bei Diddis Oma so ziemlich alles versäumt, was es zu versäumen gab. Dass die alte Dame mit ihrem Diabetes trotzdem so gut zurechtkam, war fast wie ein Wunder. Zumal bei dem stattlichen Alter.
Sie vereinbarte nach einigem Hin und Her mit den beiden eine Strategie und als erste Tat einen Labortermin für ein großes Blutbild.
Als Willa sich nach der Blutabnahme verabschieden wollte, fiel ihr im Wohnzimmer ein Foto von Dieter in Uniform auf. Wenn sie nicht alles täuschte von der Freiwilligen Feuerwehr. Diese Gelegenheit war zu günstig. Sie musste sie ergreifen. Auch wenn ihr bei dem Gedanken bereits die Knie anfingen zu zittern. Solch ein Jammerlappen war sie.
Willa atmete tief ein. »Bist du bei der Feuerwehr?«, fragte sie ziemlich aus dem Blauen heraus und zeigte auf das Foto. Bevor sie der Mut verließ.
Kurz sah das Oma-Enkel-Gespann etwas überrascht aus wegen des plötzlichen Themenwechsels, dann stiegen sie voll darauf ein.
»Dieter ist der Kommandant«, sagte Oma Schmelzling stolz.
»Das ist mein großes Hobby. Und wir sind in den letzten Jahren wirklich besser geworden.«
Dieter wusste anscheinend noch genau, wie es in ihrer Jugend war, als die Freiwillige so manche Situation noch verschlimmert hatte. Wollte man lieber, dass das Haus abbrannte oder von der Freiwilligen weggespült wurde? Damals hatte man die Qual der Wahl, und es war ein offenes Geheimnis gewesen. Er wollte dem wohl gleich entgegenhalten.
Aber deshalb hatte Willa schließlich nicht gefragt. Solange die Praxis nicht Feuer fing, kümmerte sie das nicht. Also weiter im Text. Es konnte doch nicht so schwer sein, das Gespräch auf das Wesentliche zu lenken. »Ich hab neulich eine Feuerwehrfrau von euch behandelt. In meiner letzten Nacht in der Notfallambulanz.« Ihre Ohren brannten, und sie hoffte, dass man ihr nicht ansah, wie wichtig ihr diese Begegnung war.
»Das ist ja ein Zufall. Maxi war bei dir?« Dieter schien erfreut über diese Information.
Aber bei Willa kam nur eine Sache wirklich an: Endlich hatte sie jemanden gefunden, der Maxi Gnädig wirklich kannte. Sie versuchte, ganz gelassen zu wirken in ihren nächsten Sätzen. »Der Pferdetritt. Was ist denn da passiert? Ich dachte, ihr habt euch verbessert . . .« Ein kleiner Scherz würde die Sache ein bisschen auflockern, hoffte sie.
Dieter stieg tatsächlich darauf ein. »Haha! Sehr witzig. Sie ist noch nicht lange dabei und hat keine Erfahrung mit Pferden.«
Wie konnte sie nur Informationen aus ihm herausholen, ohne zu offensichtlich zu sein? »Neu im Dorf?«, war eine gute Frage, wie sie fand. Ganz so, als ob sie Smalltalk betreiben würde.
»Och, geht so. Ein paar Monate ist sie schon da«, erklärte Dieter. »Sie wohnt im Hexenhäuschen von der alten Irmingard. Weißt du, welches ich meine? Hinten draußen in der Waldhohl.«
Willa nickte. Natürlich wusste sie, welches Häuschen gemeint war. Als Kinder hatten sie immer Angst vor der alten Irmingard mit ihren langen grauen Haaren und den stechend blauen Augen gehabt. Sie hatten sie für die Hexe aus Hänsel und Gretel gehalten. Zumal sie ihnen immer Bonbons geschenkt hatte. Seeeeehr verdächtig!
Und dort wohnte jetzt Maxi Gnädig?
Weil sie nicht weiter darauf einging – und das lag schlicht und ergreifend daran, dass sie mit dieser neuen Information überfordert war –, räumte Dieter kurzerhand ihre Kaffeetasse weg und brachte sie in die Küche. Oma Schmelzling beschäftigte sich wieder mit dem Sortieren ihrer Medikamente. Die beiden schienen es nicht komisch zu finden, dass die neue Ärztin mit den Gedanken abschweifte.
Schließlich warf Willa einen Blick auf die Uhr ihres Handys. Sie war entsetzlich spät dran. Gern hätte sie das Gespräch noch ausgedehnt, noch mehr über die Feuerwehrfrau in Erfahrung gebracht, aber es sollte für heute nicht so sein.
Jetzt wusste sie immerhin, wo die Feuerwehrfrau wohnte. Aber sie konnte ja nicht einfach vorbeigehen und klingeln. Nein, wirklich nicht. Das traute sie sich nicht. Sie bereute es maßlos, dass sie nicht gleich in jener Nacht im Krankenhaus gesagt hatte, dass sie die Praxis hier eröffnete. Das wäre doch ein perfekter Anknüpfungspunkt gewesen. Sie hätte ganz charmant anbieten können, die Nachsorge in ihrer neuen Praxis direkt vor Ort in Weiler zu machen.
Aber nein, sie hatte ja den Mund wiedermal nicht aufgekriegt. Willa hätte sich in den Hintern beißen können. Jetzt hatte sie den Salat. Sie wusste den Namen ihrer Traumfrau, sie wusste sogar ihre Adresse, und das Allerschlimmste: Sie wusste, wie zart sich ihre Haut anfühlte. Verflucht noch mal. Aber sie wusste nicht, wie in Kontakt treten. Das konnte doch wohl nicht wahr sein.
Sie verabschiedete sich hektisch von den Schmelzlings und fuhr mit ihrem Beetle den kurzen Weg zu ihrer Praxis. Viel zu spät und viel zu aufgewühlt.