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1.1 Film- und Fernsehverstehen
ОглавлениеFilme und Fernsehsendungen ergeben Sinn, denn sie sind sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption an sinnhaftes soziales Handeln gebunden (vgl. dazu auch Hall 1980, S. 130; Keppler 2001, S. 129). Darüber treten sie in einen bedeutungsvollen Diskurs ein. Sie prägen die Lebensverhältnisse in der gegenwärtigen Gesellschaft (vgl. Keppler 2006, S. 19 ff.). Wie bereits erwähnt, sind Film- und Fernsehtexte grundsätzlich zum Wissen der Rezipienten hin geöffnet (vgl. Wulff 1985, S. 13). Um eine Filmszene zu verstehen, muss ein Zuschauer zunächst einmal Informationen verarbeiten und sie in einen bedeutungsvollen Kontext bringen. Auf diese Weise erhält die Szene einen Sinn. Ein einfaches Beispiel mag das verdeutlichen: Um zu erkennen, dass es sich bei den Figuren auf der Leinwand oder dem Bildschirm um Menschen handelt, die in einem Restaurant an einem Tisch sitzen, muss der Zuschauer die ihm dargebotene Bildinformation verarbeiten. Er muss wissen, was Menschen sind, was ein Restaurant ist und was ein Tisch ist. Darüber hinaus wissen wir, dass Menschen immer in bedeutungsvollen Strukturen handeln, aus ihnen können sie nicht heraustreten (vgl. Blumer 1973/2013). Das heißt in diesem konkreten Fall, dass der Zuschauer auch um die Bedeutung von Menschen, Tischen und Restaurants weiß. Anhand des Settings Mensch – Tisch – Restaurant werden Kontexte des Wissens aufgerufen, die deren Bedeutung im Rahmen sinnhaften sozialen Handelns an lebensweltliche Verweisungszusammenhänge zurückbinden. Dazu zählt z.B. das Wissen, dass Menschen nicht immer zu Hause essen, sondern sich auch mal in Restaurants von Köchen bekochen und von Kellnern bedienen lassen. Auf dieser Ebene nimmt der Zuschauer zunächst lediglich Informationen aus dem Film- oder Fernsehbild auf und evaluiert sie im Rahmen von sinnhaften Handlungskontexten. Die Bedeutung der beschriebenen Restaurantszene im Film bzw. in der Fernsehsendung ergibt sich außerdem daraus, dass sie in einem narrativen Kontext steht. Der Zuschauer kann aus der bisherigen Erzählung an dieser Stelle schließen, dass es in der dargebotenen Szene nicht in erster Linie um den Zusammenhang von Hunger und Essen, also die reine Nahrungsaufnahme geht, sondern dass das Gespräch, das die Personen beim Essen führen, bedeutsam ist. Es könnte sich beispielsweise um einen letzten Versöhnungsversuch eines Ehepaares handeln, das kurz vor der Scheidung steht oder um ein Geschäftsessen.
Die Bedeutung dieser Szene ergibt sich aber nicht nur aus dem narrativen Kontext, sondern auch daraus, dass der Zuschauer um diese Möglichkeiten weiß, weil sie sinnhaftes Handeln darstellt – in diesem Fall, dass Gespräche beim Essen eine besondere Bedeutung haben können und Mittelpunkt der Aktivität »Essen im Restaurant« sein können. Damit ist klar, dass es in der Szene nicht nur um die abgebildete Nahrungsaufnahme im Restaurant geht, sondern um das Gespräch, das bei Tisch geführt wird. Der Zuschauer hat ein Wissen um die soziale Bedeutung von Restaurants, das er nun in der Rezeption aktivieren kann, um die Szene nicht nur zu verstehen, sondern sie auch mit Bedeutung zu füllen. Dies ist möglich, weil der Filmtext zu seinem Wissen hin geöffnet ist. Es ist leicht vorstellbar, wie komplex diese Bezüge werden, wenn es nicht um so einfache Alltagsbegebenheiten wie Restaurantbesuche und Gespräche geht, sondern z.B. um politische Macht, Hierarchien, Geschlechterverhältnisse, religiöse Praktiken, ökonomische Krisen und Ähnliches mehr.
Die Rolle des Wissens der Zuschauer wird noch deutlicher, wenn es nicht nur um die Informationsverarbeitung des Abgebildeten oder Repräsentierten und die Bedeutungszuweisung des Erzählten geht, sondern wenn die textuellen Strategien nach der kognitiven Aktivität der Zuschauer verlangen. Hierbei spielen die sogenannten Leerstellen eine wichtige Rolle, die aus rezeptionsästhetischen Arbeiten der Literatur- und Kunstwissenschaft bekannt sind (vgl. dazu Mikos 2001a, S. 15 ff.; Neuß 2002, S. 17 ff.) und auch in der Filmwissenschaft thematisiert wurden (vgl. Hanich 2012). In ihnen zeigt sich die Appellstruktur der Texte (vgl. Iser 1979; Mikos 2001a, S. 177 ff.). Leerstellen bilden gewissermaßen Lücken im Erzählfluss oder in der Repräsentation von Wirklichkeit. Diese Lücken müssen die Zuschauer mit ihrem Wissen füllen. In diesem Sinn sind sie Handlungsanweisungen an die Zuschauer, ihr Wissen zu aktivieren und bedeutungsbildend und sinngenerierend tätig zu werden. Norbert Neuß (2002, S. 19 ff.) hat eine erste Typologie von Leerstellen am Beispiel von Kinderfilmen entwickelt. Danach entstehen Leerstellen im Film durch imaginäre Zeiten und Räume, durch Sprachbilder und Metaphern, durch bildliche Symbole, durch die aktive Ansprache des Rezipienten und das Herstellen von »Wir-Gemeinsamkeit«, durch Fantasie öffnende Tätigkeiten, durch die Wahl der Perspektive und durch Abstraktion. Letzteres macht er am Beispiel von animierten Filmen deutlich, in denen abstrakte Bilder und Geräusche die Aktivitäten der Rezipienten anregen können. Das trifft auch auf die dargestellten Figuren zu. Je weniger detailreich z.B. die Zeichnung einer Figur ist, desto mehr Raum ist vorhanden, um sie mit eigenem Wissen und eigenen Interpretationen zu füllen.
»So wird z.B. Wickie von ›Wickie und die starken Männer‹ von Kindern mal als Junge und mal als Mädchen interpretiert. Je nachdem, wie man diese Figur füllt, entstehen in dem Film ganz neue Perspektiven und Beziehungskonstellationen« (ebd., S. 22).
Wenn in einem Western z.B. ein Indianer auf einem Berg steht und in die Ferne schaut, werden die Zuschauer dazu angeregt, ihr Wissen zu aktivieren, um sich vorstellen zu können, was der Indianer wohl sieht und welche Gedanken ihm möglicherweise dabei durch den Kopf gehen. Zwar kann die Kamera noch zeigen, wohin der Blick schweift, aber die Gedanken lassen sich bildlich höchstens mit einer Nahaufnahme des Gesichts andeuten. Der Zuschauer ist an dieser Stelle gefragt, sein Wissen einzusetzen, um die Bedeutung dieser Bilder im Rahmen des Erzählkontextes zu verstehen. Leerstellen entstehen in Film und Fernsehen auch durch Auslassungen. So sind in Nachrichtensendungen häufig stereotype Bilder von politischen Treffen zu sehen. Nachdem einige Staatsmänner und Staatsfrauen zunächst einzeln beim Verlassen eines Flugzeugs gezeigt werden, sieht man sie anschließend in trauter Runde versammelt an einem riesigen Konferenztisch sitzen. Da es sich bei dieser Darstellung nicht um die filmische Dokumentation eines Ereignisses in Echtzeit handelt, sondern um die mediale Bearbeitung des dokumentarischen Ausgangsmaterials, das das Ereignis im Medium (re)präsentiert, wird nicht gezeigt, wie die Staatsmänner und -frauen vom Flughafen in den Konferenzraum gelangt sind. Diese Lücke muss der Zuschauer aufgrund der gezeigten Hinweise in dem Nachrichtenfilm mit seinem Wissen schließen: Er muss kognitiv aktiv werden.
Filme und Fernsehsendungen sind nicht nur zum Wissen der Zuschauer hin geöffnet, sondern auch zur sozialen Kommunikation. Sie werden im Alltag benutzt, z.B. indem sie Gegenstand von Gesprächen mit Freunden und Bekannten werden, sie als »kommunikative Ressource« dienen (Keppler 1994, S. 211). Der Gebrauch der Medien im Alltag wird als kommunikative Aneignung bezeichnet (vgl. Faber 2001; Hepp 1998, S. 23 ff.; Holly 2001, S. 13 ff.; Klemm 2000, S. 72 ff.). Dabei werden Filme und Fernsehsendungen nicht nur bewertet, sondern im Rahmen der Kommunikation wird auch ihre Bedeutung ausgehandelt, z.B. in Familiengesprächen (vgl. Keppler 1994, S. 220 ff.). In direkter Kommunikation wird geprüft, ob und wie sie im Alltag und in der Lebenswelt Sinn ergeben und sinnhaft in die alltäglichen Lebens- und Kommunikationsverhältnisse integriert werden können. Die textuellen Strukturen von Filmen und Fernsehsendungen können Hinweise darauf enthalten. Sie generieren Vorschläge, wie sie mit den Lebensverhältnissen des Publikums in Beziehung treten können. Martin Barker (2000, S. 37) hat dies ihre »Modalitäten des Gebrauchs« genannt. Ein Film kann so über seine textuellen Strukturen anzeigen, wie er vom Publikum benutzt werden und kommunikativ angeeignet werden will. Wenn z.B. in Horrorfilmkomödien für Teenager, den sogenannten »Teen Scream«-Filmen (vgl. Dirk/Sowa 2000; Mikos 2002, S. 14; Westphal/Lukas 2000, S. 270 ff.) wie der »Scream«-Trilogie oder »The Faculty« zahlreiche visuelle und narrative Anspielungen auf frühere Filme des Genres inszeniert werden, ist das u.a. eine Handlungsanweisung auf eine kommunikative Aneignung im Kreis von Fans dieses Genres. Sie werden sich mit Freunden über die erkannten Anspielungen austauschen und so nach und nach die intertextuellen Bezüge des Films erschließen. Ratgebersendungen im Fernsehen bieten nicht nur Informationen zu bestimmten Themen, die das Wissen der Zuschauer erweitern, sondern sie sind auch auf die kommunikative Aneignung und den Gebrauch im Alltag gerichtet. Wenn z.B. Tipps für das Katerfrühstück am Neujahrstag gegeben werden, ist damit einerseits strukturell die Anregung für die Zuschauer verbunden, sie am betreffenden Tag in die Tat umzusetzen, andererseits können sie auch im Rahmen des sozialen Umfelds als Meinungsführer auftreten und die Tipps an Freunde, Nachbarn, Kollegen und Familienmitglieder weitergeben (vgl. zum Konzept des Meinungsführers exempl. Schenk 2002, S. 320 ff.). In diesem Sinn können Film- und Fernsehtexte ihre Zuschauer anregen, sozial-kommunikativ aktiv zu werden und sie in die soziale Zirkulation von Bedeutung einzuspeisen.
In der Analyse können die Strukturen der Film- und Fernsehtexte herausgearbeitet werden, die sie zum Wissen und der sozialen Kommunikation der Zuschauer hin öffnen. Allerdings müssen dabei Differenzierungen vorgenommen werden. So gibt es verschiedene Wissensformen, zu denen die Texte hin geöffnet sind. Peter Ohler (1994, S. 32 ff.) hat zwischen generellem Weltwissen, narrativem Wissen und dem Wissen um filmische Darbietungsformen unterschieden. Der »Rezipient muß mit Hilfe seines generellen Weltwissens aus den gezeigten Szenen Schlußfolgerungen hinsichtlich des nicht gezeigten Geschehens ziehen« (ebd., S. 35). Weltwissen ist also nötig, um z.B. Leerstellen zu füllen. Das Wissen darum, dass man im Restaurant nach dem Essen bezahlen muss und der Bedienung ein Trinkgeld geben sollte, gehört diesem generellen Weltwissen an. Des Weiteren weist Ohler dem narrativen Wissen bei der Verarbeitung filmischer Geschichten eine zentrale Rolle zu. Dabei handelt es sich um Wissen über typische Plots, Rollen von Protagonisten, Handlungssequenzen und Handlungssettings im Rahmen typischer Genres. Zum narrativen Wissen gehört z.B., dass ein Überfall, der von Polizisten beobachtet wird, eine Verfolgungsjagd nach sich ziehen kann und dass hier Gut gegen Böse kämpft. Dazu gehört das Wissen um die Rolle des Moderators in einer Gameshow ebenso wie das Wissen um den typischen Handlungsverlauf eines Fußballspiels, bei dem zwei Mannschaften in einem Stadion gegeneinander antreten, oder das Wissen darum, dass in einem Korrespondentenbericht in einer Nachrichtensendung der Korrespondent selbst irgendwann im Bild zu sehen sein wird. Dieses Wissen ist abstrakt und unabhängig von einem konkreten Moderator oder einem konkreten Korrespondenten, einem konkreten Stadion und den beiden konkreten Mannschaften. Die dritte Form des Wissens nach Ohler ist das Wissen über filmische Darbietungsformen. Einstellungsgrößen, Schnitte, Kameraperspektiven, Toneffekte, Musik und Montage sind einige »dieser formalen Mittel, die dem Rezipienten als Cues (Hinweise, L.M.) dienen, die das Verständnis der filmischen Narration erleichtern und narrationsbezogene Erwartungen generieren helfen« (ebd., S. 36). Hierzu gehört z.B. das Wissen, dass zwei Personen, die im Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren aneinandergeschnitten sind, sich offenbar in einem Dialog befinden oder dass dramatische Musik ein spannendes Ereignis ankündigt. Das narrative Wissen und das Wissen um die filmischen Darbietungsformen sind miteinander verknüpft.
In diesem Zusammenhang spricht Dieter Wiedemann (1993, S. 49) auch von »mentalen Dramaturgien«. In der Analyse kann nun herausgearbeitet werden, welches narrative Wissen erforderlich ist, um die Geschichte eines Films oder einer Fernsehsendung im Kopf entstehen zu lassen, und welches Wissen um filmische Darbietungsformen dabei eine Rolle spielt. Beide Wissensbestände stehen in Bezug zum Weltwissen. Es geht also nicht nur darum, was erzählt wird, sondern wie es erzählt wird und welche Rolle das für die Geschichte im Kopf spielt. Die Wissensformen sind nicht naturgegeben vorhanden, sondern müssen erst erworben werden. Der Umgang mit audiovisuellen Medien ist für jeden Menschen ein Lernprozess. In der audiovisuellen Sozialisation werden die Konventionen und Regeln von Film und Fernsehen erlernt. Daraus folgt, dass die Geschichten im Kopf unterschiedlich ausfallen, weil jeder Mensch eine andere mediale Lerngeschichte erlebt und erfahren hat. So hat z.B. jede Generation ihre eigenen Medienerfahrungen. Die Fernsehgeneration, die mit diesem Medium aufgewachsen ist, entwickelt andere Geschichten im Kopf als die Mitglieder der Generation, die ohne Radio und Fernsehen und nur mit dem Film als Medium aufgewachsen sind. Ebenso hängt z.B. das Verständnis eines Horrorfilms auch vom Wissen um die typischen Gestaltungs- und Erzählmuster des Genres ab. Wer dieses Wissen hat, wird eine andere Geschichte sehen als jemand, der keine entsprechenden Seherfahrungen aufweisen kann.
Gegenstand der Film- und Fernsehanalyse müssen die textuellen Strategien sein, mit denen die kognitiven Aktivitäten der Zuschauer den Film im Kopf entstehen lassen. Ebenfalls analysiert werden müssen die Textstrategien, die die sozial-kommunikative Aneignung der Filme und Fernsehsendungen vorstrukturieren. Man kann sagen, dass über die sozial-kommunikativen Aktivitäten der Zuschauer die Filme aus dem Kopf wieder heraustreten und zu einem Bestandteil des sozialen Lebens werden, indem sie sich in die soziale Zirkulation von Bedeutungen in den gesellschaftlichen Diskursen einklinken.