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2.2 Narration und Dramaturgie

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Die zweite Ebene, auf der Filme und Fernsehsendungen analysiert werden können, ist zwar eng mit der ersten verknüpft, aber nicht mit ihr identisch. Geht es auf dieser Ebene doch um die Art und Weise der Repräsentation von sozialen Welten, sowohl von Aspekten der gesellschaftlichen Wirklichkeit als auch von möglichen Welten, die der Imagination entsprungen sind. Was aber ist unter Narration und Dramaturgie in Bezug auf Filme und Fernsehsendungen zu verstehen?

Auf eine knappe Formel gebracht kann man sagen: Die Narration oder Erzählung besteht in der kausalen Verknüpfung von Situationen, Akteuren und Handlungen zu einer Geschichte; die Dramaturgie ist die Art und Weise, wie diese Geschichte dem Medium entsprechend aufgebaut ist, um sie im Kopf und im Bauch der Zuschauer entstehen zu lassen. Genauer kann Erzählung zunächst als eine Form der kommunikativen Mitteilung verstanden werden, die sich von anderen Formen unterscheidet, z.B. von der Beschreibung oder der Argumentation (vgl. Chatman 1990, S. 6 ff.). Sie ist das Resultat einer kommunikativen Handlung: des Erzählens. Diese Tätigkeit wird von einem Akteur ausgeübt, dem Erzähler, der seine Erzählung an einen Adressaten, das Publikum, richtet. Eine Erzählung entsteht so immer durch die Positionierung und Perspektive des Erzählers und seinen Blick auf das Erzählte bzw. auf die Geschichte vor dem Hintergrund der Publikumsadressierung. Grundsätzlich kann das Erzählen als eine »alltägliche kommunikative Handlung« (Schülein/Stückrath 1997, S. 55; Ehlich 1980) begriffen werden. Der Erzähler kann sich beim Erzählen verschiedener medialer Formen bedienen, z.B. der Sprache, der Schrift, des Films, des Fernsehens oder des Hypertextes. Dabei benutzt er verschiedene Strategien des Erzählens, die den Zuschauer einbeziehen:

»Narration ist folglich nicht substantiell, sondern prozessural zu verstehen, als kommunikativer Akt, in dem eine Geschichte entfaltet wird, deren Erschließung Aufgabe eines interpretierenden Zuschauers ist. Narration ist damit zugleich eine Aktivität, die das Wissen des Rezipienten und seine Eingeweihtheit in das Geschehen reguliert« (Hartmann/Wulff 1997, S. 81; vgl. auch Bordwell 1990, S. XI).

Erzählungen haben einen Anfang und ein Ende, dazwischen entfaltet sich die Geschichte für die Dauer des Films oder der Fernsehsendung (vgl. auch Bordwell 2008, S. 95). Der prozessurale Charakter der Erzählung verweist bereits auf ihre zeitliche Dimension, die doppelt konstituiert ist: einerseits über die Dauer der Präsentation des Films oder der Fernsehsendung und andererseits über die Dauer des Erzählten, genauer ausgedrückt, der erzählten Zeit der Geschichte (vgl. dazu Chatman 1990, S. 9). In diesem Sinn wird zwischen der Erzählzeit, z.B. den 100 Minuten eines Spielfilms, und der erzählten Zeit, z.B. den fünf Tagen, in denen sich die Geschichte dieses Films ereignet, unterschieden. Zugleich muss differenziert werden zwischen dem, was der Film oder die Fernsehsendung zeigt (Plot oder Sujet) und der erzählten Geschichte (Story oder Fabel), die erst im Kopf der Zuschauer entsteht (vgl. dazu Kapitel II-1.1 und II-2.1). Durch die Erzählung entsteht eine diegetische Welt, die als eine in sich konsistente mögliche Welt erscheint. Sie wird in der erzählten Geschichte geschaffen, sowohl mit dem Inhalt, den man nach Wulff (1999, S. 26 ff.) auch als stoffliche Bindung begreifen kann, als auch mit der Repräsentation, die in einem Verhältnis zur sozialen Welt außerhalb des Films und des Fernsehens steht.

Film- und Fernsehtexte sind in der Regel Erzählungen. Das trifft nicht nur auf fiktionale Texte zu, sondern auch auf dokumentarische wie Nachrichtensendungen und für das Fernsehen inszenierte Ereignisse wie Shows. Die meisten Formen der Unterhaltung sind um Erzählungen herum strukturiert. Sie sind eine der »grundlegenden Quellen des Vergnügens« in den Medien (Casey u.a. 2002, S. 138). Allen Erzählungen ist gemeinsam, dass sie Geschichten erzählen. Eine Erzählung kann als »Verkettung von Situationen, in der sich Ereignisse realisieren und in der Personen in spezifischen Umgebungen handeln«, bezeichnet werden (Casetti/di Chio 1994, S. 165; vgl. auch Berger 1997, S. 4 f.; Eder 1999, S. 5). In der Analyse sind die Situationen und Ereignisse herauszuarbeiten, die miteinander verknüpft werden, sowie die Personen und die Umgebungen, in denen diese Personen handeln. Erzählungen bedienen sich bestimmter Erzählstrategien, um das Publikum in die Geschichte einzubeziehen. Erzählstrategien sind daher immer mit Aktivitäten der Zuschauer verknüpft, die im Verlauf ihrer Mediensozialisation auch ein narratives Wissen erworben haben. Dieses narrative Wissen umfasst typische Handlungsstrukturen und -episoden, typische Protagonistenrollen, typische Erzählkonventionen und typische Plots (vgl. Ohler 1994, S. 34 f.). Peter Wuss hat drei Formen filmischer Strukturen herausgearbeitet, die einerseits mit Wahrnehmungsformen (Wuss 1999, S. 52 ff.) und andererseits mit sogenannten Basisformen filmischen Erzählens (ebd., S. 97 ff.) korrespondieren. Bei diesem »PKS-Modell« handelt es sich um perzeptionsgeleitete Strukturen, die auf Topikreihen in offenen Erzählformen basieren, um konzeptgeleitete Strukturen, die auf Kausalketten in geschlossenen Erzählformen beruhen, und um stereotypengeleitete Strukturen, die auf Story-Schemata und Erzählkonventionen basieren. Erzählformen und -strategien machen deutlich, dass Erzählungen nicht einfach eine Ereignis- und Handlungsabfolge chronologisch darbieten, sondern dass sie dramaturgisch gestaltet sind: »Dramaturgie ist eine strukturelle Eigenschaft von Erzählungen« (Eder 1999, S. 10), sie liegt dem »Aufbau des Werkes« zugrunde (Eick 2006, S. 37).

Film und Fernsehen haben eigene Strukturen des Erzählens und der Dramaturgie ausgebildet, die sich teilweise von literarischen und theatralen Strukturen des Erzählens unterscheiden. Grundsätzlich geht Dramaturgie auf die dramatische Gestaltung einer Erzählung zurück. Als grundlegendes Prinzip der Filmdramaturgie nennt Peter Rabenalt (1999, S. 17) die »sichtbare Erzählung in zeitlichem Verlauf, bildliche Narration«. Dramaturgie steht so zunächst offensichtlich in Beziehung zu dem, was ein Film auf der Leinwand oder eine Fernsehsendung auf dem Bildschirm zeigt. Doch tatsächlich steckt mehr dahinter. Sie ist nicht nur »das System des Handlungsaufbaus einer Erzählung«, dessen Elemente Ereignisse der erzählten Geschichte sind, wie Jens Eder (1999, S. 12) meint, sondern Dramaturgie hat eine grundlegende Aufgabe, »die Strukturierung der Ereignisabläufe, das heißt der Handlungen und Begebenheiten in der Fabel oder Story zu dem Zweck, beim Zuschauer ein Interesse auf den Ausgang und das Ergebnis der Handlungen zu erregen« (Rabenalt 1999, S. 25). Im Zentrum der Dramaturgie stehen Konflikte, die Figuren aktiv werden lassen und die Handlung vorantreiben.

Dramaturgie hat also die Aufgabe, die Kette von Ereignissen, in denen Personen handeln, so zu gestalten, dass bestimmte kognitive und emotionale Aktivitäten bei den Zuschauern angeregt werden. Es wird Wissen aufgebaut, und es werden Gefühle hervorgerufen. Die dramaturgische Gestaltung einer Erzählung macht diese z.B. spannend, komisch oder bedrohlich. Die Film- und Fernsehanalyse muss daher herausarbeiten, wie die Ereignisabläufe der Erzählung strukturiert sind. Denn nur so kann gezeigt werden, wie die Film- und Fernsehtexte die Rezeptionsaktivitäten der Zuschauer vorstrukturieren und die Geschichten in deren Köpfen entstehen lassen. Die dramaturgische Strukturierung der Erzählung legt fest, auf welche Art und Weise Informationen das Publikum erreichen und wie diese Informationen kognitiv und emotional verarbeitet werden (vgl. Elsaesser/Buckland 2002, S. 37). In Kapitel 2 in Teil II wird näher auf die theoretischen Aspekte eingegangen, sofern sie für die Analyse von Bedeutung sind.

Die Analyse von Narration und Dramaturgie ist wichtig, weil sie die Grundlage für die Geschichten in den Köpfen der Zuschauer bilden und deren kognitives und emotionales Verhältnis zur Leinwand oder dem Bildschirm regeln. Das Erkenntnisinteresse in der Analyse kann sich dann z.B. darauf richten, wie Spannung in einem Thriller erzeugt wird, wie das empathische Feld in einem Melodram aufgebaut wird, wie die Komik in einer Sitcom (situation comedy) entsteht oder wie der Konflikt zwischen Protagonisten und Antagonisten in einer Krankenhausserie aufgebaut und gelöst wird. Wenn Dramaturgie die Handlungs- und Ereignisabläufe einer Erzählung strukturiert und Erzählung als Verkettung von Situationen gesehen werden kann, in der Personen agieren, dann wird deutlich, wie eng Narration und Dramaturgie von Film- und Fernsehtexten mit Figuren und Akteuren verbunden sind.

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