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Das Futterversteck
ОглавлениеLanghallender Donner grollte vom Tal her gegen den Berghang. Blitze grellten aus einer nachtdunklen Wolkenwand. Und Windböen peitschten Gewitterschauer über den Waldrand und die Lichtung, rüttelten am Gezweig der alten Kiefer.
Raku hob verschlafen den Kopf und blinzelte erschreckt in den grauen Morgen. Gewitter hatte er bis jetzt nur im Nest erlebt: unter den schützenden Fittichen seiner Mutter. Solch ungemütliches Wetter allein in luftiger Höhe war ihm neu. Und als eine noch stärkere Böe ihn beinahe vom Ast wehte, flatterte er vorsichtshalber hinunter auf den Waldboden. Hier fühlte er sich sicherer. Und es war auch ruhiger zwischen den Stämmen. Nur in den Wipfeln rauschte der Wind.
Trockener aber war es hier unten nicht. Bis zum Hals saß Raku im pitschnassen Gras. Von den Zweigen über ihm tropfte es. Und Regen prasselte durch die Baumkrone.
Mit einemmal stutzte er. Im Halbdämmer unter den Bäumen bewegte sich etwas. Raku streckte drohend den Kopf vor und öffnete seinen Schnabel. Es stieß ein lautes „Graaak“ aus, wurde dann aber ziemlich schnell klein und dünn. Dieses unbekannte Wesen war ihm unheimlich. Und es kam langsam näher.
In diesem Augenblick ertönte ein ihm vertrauter Winsellaut. Diese Stimme kannte er. Es war seine Schwester Luja, die offenbar vor ihm schon den Ast verlassen hatte.
Raku beruhigte sich wieder. Auch seine Schwester hatte ihn an der Stimme erkannt. Sie hüpfte heran und hockte sich mit weggedrehtem Kopf neben ihn. So saßen sie eine Weile tropfnaß im Regen.
Allmählich hellte der Himmel auf. Der Donner verklang in der Ferne, die Böen wurden sanfter, und auch der Regen ließ nach. Das Gewitter hatte sich ausgetobt.
Als die Sonne hinter dem Bergkamm aufging, trieben auch die letzten Wolkenfetzen davon. Raku spürte ihre wärmenden Strahlen auf seinem nassen Gefieder. Und er gähnte lang und ausgiebig und putzte sich. Jetzt brauchte er etwas in dem Magen.
Inzwischen waren die beiden alten Raben nacheinander zur Futtersuche abgeflogen. Und es würde eine Weile dauern, bis einer zurückkam. Raku blickte sich suchend nach etwas Eßbarem um. Immerhin hatte er schon einiges dazugelernt. Er wußte, was ihm schmeckte. Nur mit dem Selberfangen hatte er noch seine Schwierigkeiten. Aber auch das mußte er allmählich lernen. Alt genug war er dazu.
Langsam spazierte er mit seinem drolligen Wackelgang unter den Bäumen hervor ein Stück in die Lichtung. Luja wackelte ein paar Meter hinter ihm her. Doch Raku interessierte sich jetzt nicht für seine Schwester. Zwischen vermodernden Baumstümpfen und allerlei Gestrüpp bewegten sich auch noch andere Tiere. Und die reizten Raku.
In einer flachen Grasmulde war gerade eine Amsel dabei, einen fetten Regenwurm aus dem Boden zu ziehen. Neugierig hüpfte Raku näher. Aber die Amsel ergriff schleunigst die Flucht, den Regenwurm in ihrem gelben Schnabel. Raku blickte ihr leicht verdrießlich nach.
In diesem Augenblick raschelte es dicht bei einem alten Baumstumpf. Etwas ziemlich Massiges tappte auf krummen Beinen gemächlich auf Raku zu: dick und rundlich mit einer Unzahl spitzer Stacheln und einem kleinen länglichen Kopf mit schwarzer Nase. Und dieses merkwürdige Wesen musterte Raku unbefangen aus dunklen Knopfaugen und zerkaute dabei laut schmatzend ebenfalls einen Regenwurm, der ihm noch halb aus der Schnauze hing.
Erschrocken flatterte Raku dem seltsamen Stacheltier aus dem Weg. Mit Igeln fehlte ihm noch jede Erfahrung. Und Regenwürmer gab es nach dem heftigen Gewitterguß genug. Genau an der Stelle, wo Raku wieder Boden unter die Füße bekam, ringelten sich gleich zwei durchs Gras. Gierig hackte Raku danach und verschlang die zappelnde Beute.
Wenig später erwischte er eine noch regenfeuchte Heuschrecke, bevor sie davonhüpfen konnte. Dabei geriet er unversehens in eine Ameisenstraße. Und das gab unter den Ameisen eine ziemliche Aufregung. Raku störte das Gekrabbel an seinen Füßen. Er wackelte weiter, köpfte zwischendurch spielerisch ein paar Gänseblümchen und sammelte eine grüne Raupe von einem Grashalm. Aber er schluckte sie nicht.
Hinter ihm ertönte Lujas Stimme. Als er sich neugierig umblickte, sah er, daß Luja eines von den geköpften Gänseblümchen im Schnabel trug. Offenbar hielt sie es für eine von Raku liegengelassene Beute. Doch das Gänseblümchen schien ihr nicht zu schmecken. Sie ließ es achtlos fallen und stieß einen Hungerlaut aus.
Raku untersuchte inzwischen aufmerksam den grün überwucherten Boden. Schließlich fand er neben einer Wurzel eine passende Stelle, rammte seinen Schnabel hinein und bohrte eine Weile darin herum. Als die Höhlung groß genug war, würgte er die Raupe aus seinem Kehlsack hervor und stopfte sie in das Loch. Dann scharrte er noch ein wenig Erde darüber und betrachtete mit schiefgelegtem Kopf äußerst wohlgefällig sein Werk.
Nur ein paar Meter entfernt sah Luja ihm neugierig zu. Dabei merkte sie sich genau Rakus Versteck. Und kaum war Raku hinter einem Gesträuch verschwunden, hüpfte sie flatternd herbei, räumte zielsicher die Erde weg und verdrückte die Raupe mit Behagen.
Raku hatte von alldem nichts bemerkt. Er glaubte seine Beute sicher. Als er jedoch nach einiger Zeit sein Futterversteck wieder aufsuchte und hungrig nach der Raupe bohrte, entdeckte er zu seiner Enttäuschung nur ein leeres Loch.