Читать книгу Raku, der Kolkrabe - Lothar Streblow - Страница 5
Ausbruch aus dem Ei
ОглавлениеDas weite Hügelland vor dem Bergkamm lag verborgen unter wattigem Weiß. Morgennebel schwebten über den Tälern und flachen Kuppen, verhüllten die Tiefe. Auf halber Höhe der Berghänge aber wurde es lichter, stachen einzelne Baumwipfel durch die wabernden Schwaden. Darüber leuchtete der Himmel in kristallklarer Bläue. Warm schien die Märzsonne, ließ die letzten Schneeinseln tauen. Und eine laue Brise strich durch die Zweige.
Auch der Rabenhorst im Wipfel einer hohen Kiefer wogte leise im Wind. Die Räbin stocherte unruhig im Nest, wendete immer wieder ihre vier blaugrünen, dunkel gefleckten Eier in der sauber ausgepolsterten Nestmulde. Der Wind störte sie nicht. Nur wenn sie ein wenig den Kopf hob, um nach dem Raben auszuschauen, verfing sich der Luftzug in ihrem Nackengefieder. Sie spürte Hunger. Und sie rief nach ihrem Gefährten.
Lange mußte sie nicht warten. Über der Lichtungam Waldrand tauchte ein dunkler Schatten durch die treibenden Nebelfetzen und glitt heran. Der Rabe schwang sich, deutliche Fütterlaute ausstoßend, auf den Rand des Horstes. Bedächtig öffnete er seinen mächtigen Schnabel und würgte Nahrung aus seinem Kehlsack: eine Waldmaus. Und die Räbin winselte leise und verschlang sie gierig.
Eine Weile noch hockte der Rabe am Rand, murmelte zärtliche Laute und kraulte seiner Gefährtin liebevoll das Kopfgefieder. Dann strich er ab und ließ sich mit weitgebreiteten Schwingen vom Aufwind in die Höhe tragen. Nichts entging seinem scharfen Auge. Und die Räbin wartete geduldig. Sie verließ ihre Eier nur selten und dann auch nur kurz. Der Rabe sorgte für seine brütende Gefährtin. Und er brachte ihr von seiner Beute nur die besten Happen.
Mit einemmal wurde die Räbin aufmerksam. In einem der Eier spürte sie Bewegung. Fast drei Wochen hatte sie auf diesen Augenblick gewartet. Das Junge begann mit seinem Eizahn, einem kleinen Kalkhöcker auf seinem Schnäbelchen, von innen die Schale aufzumeißeln. Doch das Kleine mußte mit dem Kopf nach unten arbeiten: Das Ei lag verkehrt. Und das war recht mühsam. Die Räbin aber erkannte die quälende Lage des Kleinen. Und sie wendete das Ei vorsichtig mit ihrem Schnabel.
Plötzlich brach der aufgemeißelte Ring. Die Eikappe hob sich langsam. Und Raku schob seinen winzigen kahlen Kopf durch die Bruchstelle ins Freie. Erschöpft ruhte er einen Augenblick von der Schwerarbeit aus. Doch als er seine Flügelchen ausbreiten wollte, ging das nicht. Sein Körper war noch im Ei gefangen. Wie wild begann er zu strampeln. Und wieder half ihm seine Mutter. Mit ihrem mächtigen Schnabel zog sie ihn ganz behutsam aus der Schale.
Naß und fast nackt hockte Raku in dem weich gepolsterten Nest. Noch sah er nichts. Seine Augen waren geschlossen, bedeckt mit klebriger Eiflüssigkeit. Nur den riesigen schwarzbefiederten Bauch seiner Mutter spürte er über sich. Und kaum hatte sie die Reste seines zerbrochenen Eigehäuses verschluckt, begann sie seinen kleinen verklebten Körper vorsichtig zu säubern. Immer wieder fuhr sie ihm mit der Spitze ihres gewaltigen Schnabels unter seine kahlen Flügelchen, tastete ihm über Rücken, Kopf und Zehen. Und obwohl sie das alles mit erstaunlicher Sanftheit tat, spürte Raku nur Unbehagen. Er schrie kläglich, als wolle sie ihn umbringen.
Seine Mutter kümmerte sich nicht um Rakus Geschrei. Über eine Stunde mußte er die Säuberung über sich ergehen lassen. Dann erst war die Räbin zufrieden. Doch noch immer gab es keine Ruhe.
Nun lockerte die Räbin sorgsam die Nestpolsterung auf, damit Raku eine weiche Unterlage bekam. Und dann steckte sie den winzigen Raku senkrecht in den flockigen Flausch, daß gerade noch seine Schnabelspitze herauslugte. So war sein zarter nackter Körper geschützt vor dem Wind. Und Raku döste ein wenig nach all der Anstrengung.
Kurz darauf mußte die Räbin sich schon wieder um das nächste Ei kümmern, in dem ein Junges nach draußen drängte. Raku merkte von alldem nicht viel: nur ab und zu mal eine Erschütterung, wenn seine Mutter sich bewegte. Er sah nicht, wie sich plötzlich ein kahler Kopf aus der Eischale hob, etwas Zappelndes von den Eiresten befreit und unter großem Geschrei geputzt wurde. Raku fühlte sich warm und geborgen in seinem Flauschpolster. Und er döste weiter, bis der Luftzug zweier rauschender Flügel ihn aufschreckte.
Der Rabe war zurückgekommen mit Fleischbrocken einer Bisamratte. Und die Räbin antwortete auf seinen Fütterungsruf. Mit einem Blick erkannte der Rabe die neue Lage: die eben geschlüpften Jungen in der Nestmulde. Und er wußte, was er zu tun hatte. Jetzt brauchten auch die Kleinen Nahrung. Ohne Aufenthalt schwang er sich wieder in die Luft. Und diesmal flog er in eine andere Richtung: am heckengesäumten Waldrand entlang zu einer sonnigen Fichtenschonung.
Raku spürte die Unruhe. Seine Mutter pickte nach dem feucht gewordenen Polstermaterial und fraß es auf. Das Fleisch der Bisamratte hatte sie längst verschlungen: Das war noch nichts für die winzigen Nestlinge. Sie brauchten zartere Kost.
Das wußte auch der alte, erfahrene Rabe. Als er das nächstemal zurückkehrte, brachte er etwas anderes: einige weiche zerquetschte Schmetterlingsraupen. Doch er flog den Horst nicht direkt an. Zuerst säuberte er auf einem nahen Ast sorgfältig seine Zehen und Krallen, bevor er sich auf dem Nestrand niederließ.
Mit einem tiefen „Gro“-Laut rief er seine Jungen zum Füttern. Dann würgte er das Raupenmus aus seinem Kehlsack hervor. Und er stopfte es in kleinen Portionen in die gierig aufgesperrten Schnäbel.
Raku schluckte zufrieden, hachelte behaglich vor sich hin und schloß seinen kleinen Rabenschnabel. Die erste Mahlzeit hatte ihm geschmeckt.