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Rakus erster Flug

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Im Mai wurden auch die Nächte wärmer. Die Kleinen trugen inzwischen ihr rabenschwarzes Federkleid. Und die Räbin übernachtete schon eine ganze Weile nicht mehr auf dem Nest. Meist saß sie am Nestrand oder dicht daneben auf einem Ast. Raku hatte sich allmählich daran gewöhnt. Solange die beiden großen Raben in der Nähe des Nestes waren, fühlte er sich sicher und geborgen.

Manchmal horchte er auf die Laute der Nachtvögel: den dumpfen Ruf des Uhus oder den unheimlich klingenden eines Waldkauzes. Und wenn in hellen Nächten der bleiche Schein des Mondes durch den Wipfel der Kiefer fiel und eine Fledermaus vorüberflatterte, streckte er mit aufgerichtetem Scheitelgefieder den Hals krächzend vor und klappte drohend mit dem Schnabel. Die Fledermaus aber war längst zwischen den Zweigen der umstehenden Bäume verschwunden. Und nach einer Weile schloß Raku schläfrig die Augen.

Tagsüber jedoch wurde es ihm im Nest oft zu langweilig. Er wollte spielen, pickte neugierig nach den Schnäbeln seiner Geschwister und zupfte an ihrem Gefieder herum. Nur zupften und pickten diese ebenfalls, vor allem seine Schwester Nalka. Dann brachte Raku erst mal seine zerzausten Federn in Ordnung. Und er turnte geschickt auf den Nestrand, hob seine Flügel und veranstaltete eifrig Flugübungen. Dabei stieß er einen wie „raap“ klingenden Flugruf aus, immer und immer wieder. Aber so ganz traute er sich noch nicht.

Der erste Flug gelang ihm erst ein paar Tage später. Es war ein strahlend heller Frühlingsmorgen. Tau glitzerte an den Halmen und Blüten. Im Wipfel einer Lärche jenseits der Lichtung sang eine Amsel. Raku hatte ein ausnehmend gutes Frühstück bekommen: eine halbe Maus. Und er war satt.

Wieder hockte er oben auf dem Nestrand und besah sich die Gegend. Gar nicht weit vor ihm ragte ein Ast seitlich vom Nest aus dem Stamm. Ein leichter Wind wehte vom Tal herauf, spielte mit Rakus Gefieder. Raku spreizte unternehmungslustig seine Flügel, spürte den Wind darunter. Das war ein gutes Gefühl. Und er flatterte ein wenig, noch ziemlich unbeholfen, flatterte immer heftiger. Sein Flugruf tönte in den Morgen. Plötzlich spürte Raku Luft unter sich, nichts als Luft. Er erschrak. Und dann spürte er den Ast. Und er krallte sich daran fest. Raku war geflogen, zum erstenmal in seinem Leben geflogen.

Aufmerksam beäugte er die ungewohnte Umgebung. Von dem schmalen Ast sah alles ganz anders aus. Und das reizte ihn. Vorsichtig balancierte er ein winziges Stück auf dem Ast entlang bis zu einem kleinen Seitenzweig, umklammerte ihn mit der Kralle und hackte mit dem Schnabel darauf herum.

Plötzlich brach der Zweig mit leisem Knacken, doch er fiel nicht. Raku hielt ihn fest, nahm ihn quer in den Schnabel und balancierte wie ein Seiltänzer damit weiter bis zum Stamm der Kiefer. Hier blieb er erst mal sitzen.

Drüben hockte jetzt Nalka auf dem Nestrand und beobachtete neugierig Rakus sonderbares Treiben. Vom Fliegen schien sie noch nicht viel zu halten, obwohl sie mitunter ein wenig herumflatterte. Ihr Bruder Soku lugte nur einmal über den Rand zu Raku hinüber und zupfte seine Schwester von hinten am Schwanz. Auch Luja guckte kurz. Dann verschwanden alle laut krächzend in der Nestmulde.

Raku interessierte sich inzwischen für den Kiefernstamm, wo schräg über ihm ein anderer Ast herausragte. Er ließ das Zweigstückchen aus dem Schnabel fallen und hackte auf den Ast los. Doch mittendrin stutzte er. Gar nicht weit von ihm fiel ein dicker Zapfen aus dem Wipfel einer Fichte.

Raku erschrak, zog den Kopf zwischen die Schultern und machte sich ganz klein und dünn. Er beruhigte sich erst wieder, als der Zapfen unten auf dem Bogen aufschlug, ein Stückchen rollte und dann liegenblieb. Jetzt richtete Raku sein Gefieder wieder auf, machte einen dicken Kopf und stieß einen Drohlaut aus. Fallende Fichtenzapfen waren ihm noch unheimlich. Außerdem vermißte er seine Eltern in der Nähe. Sie suchten irgendwo nach Futter für ihre ewig hungrigen Jungen. Das kam in letzter Zeit öfter vor. Und das behagte Raku gar nicht. Beunruhigt spähte er zum Himmel und stieß einen lauten Ruf hervor, der wie „rüh“ klang. Und auch seine Geschwister fielen ein. Sie hatten schon wieder Hunger, genau wie Raku.

Doch der Himmel blieb leer. Nur ein Eichelhäher warnte vor etwas, das Raku noch nicht erkennen konnte. Es war ein äsender Rehbock. Wenig später aber sah Raku, wie sein Vater sich mit mächtigen Schwingen hinter dem Gesträuch am Rand der Lichtung erhob und den Horst ansteuerte. Raku rief wieder. Und diesmal war es ein Bettelruf.

Der alte Rabe landete dicht vor Raku auf dem Ast. Ohne Aufforderung sperrte Raku seinen glutroten Schnabelrachen auf. Und der alte Rabe stopfte ihm hinein, was er in seinem Kehlsack trug. Dabei hatte Raku einige Mühe, auf dem schmalen Ast die Balance zu halten. Immerhin war das seine erste Fütterung auf diesem luftigen Platz. Manchmal flatterte er heftig mit den Flügeln, weil er um ein Haar abstürzte. Doch er krallte sich im letzten Augenblick fest und blieb oben. Und als sein Vater wieder zu neuer Futtersuche abstrich, schwang Raku sich mit ein paar kurzen Flügelschlägen zurück zum Nestrand.

Raku, der Kolkrabe

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