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Raku im Nest
ОглавлениеMehr als eine Woche verging. Längst waren auch die anderen zwei Jungen geschlüpft. Die Federhüllen auf Rakus Rücken und Flügeln begannen allmählich aufzuspringen, von Tag zu Tag mehr. Raku wirkte seltsam struppig.
Kaum zeigten sich seine ersten Federchen, da putzten die Alten sein sprießendes Gefieder schon genauso wie ihr eigenes. Es ziepte mitunter, wenn sie die winzigen Federn mit ihren riesigen Schnabelspitzen sorgfältig durchzogen. Und das gefiel Raku gar nicht. Dann probierte er es ein wenig selber, allerdings noch ziemlich unbeholfen. Erst als er sein rabenschwarzes Federkleid bekam, schätzte er diese Gefiederpflege. Nun ziepte es nicht mehr. Im Gegenteil, jetzt fand er das sehr angenehm.
Inzwischen guckte Raku schon recht munter in die Gegend. Die über ihm leise im Wind schaukelnden Zweige der alten Kiefer interessierten ihn. Doch sie blieben für ihn unerreichbar. Noch war er ein Nesthocker mit spärlich befiederten Flügeln. Vom Fliegen hatte er keine Ahnung. Und das würde auch noch eine Weile dauern.
Tolpatschig krabbelte Raku in der Nestmulde herum. Er war das kräftigste der Geschwister und schon sehr neugierig.
Die Mutter putzte gerade eines der anderen Kleinen und bemerkte nichts von Rakus Ausflug. Und so ganz wohl fühlte er sich auch nicht dabei. Die Sonne verschwand mit einemmal hinter einer aufziehenden Wolkenwand. Es wurde kühl. Und aus Rakus Kehle drang ein kläglicher Laut.
Seine Mutter reagierte sofort. Sie wußte, daß ihre Kleinen jetzt vor allem Wärme brauchten. Und sie bettete die Jungen fürsorglich in die weichen Polster und wärmte sie. Das gefiel Raku. Und eine Weile hockte er ganz zufrieden unter dem dichten Gefieder seiner Mutter.
Doch Wärme allein genügte ihm nicht. Er spürte schon wieder Hunger. Gierig sperrte er seinen kleinen Schnabel auf und zeigte seinen glutroten Schlund. Nur nützte das im Augenblick wenig. Sein Vater war noch auf Nahrungssuche. Und so lange mußte Raku warten.
Ungestüm schob er seinen struppigen Kopf zwischen den Bauchfedern seiner Mutter hindurch. Es wurde hell. Ein Sonnenstrahl brach durch die treibenden Wolkenfetzen. Von einer Fichte jenseits der Lichtung klang der Gesang einer Amsel herüber. Und in der Ferne hämmerte ein Specht.
Raku horchte auf die für ihn noch fremdartigen Geräusche. Endlich ertönte das vertraute Rauschen großer Flügel.
Ein dunkler Schatten schob sich kurz vor die Sonne.
Sein Vater war auf dem nahen Ast gelandet, um sich die Krallen zu putzen. Dann sprang er auf den Rand des Horstes.
Aber noch gab es kein Futter. Der Rabe hatte am Waldsaum ein Mäusenest ausgeräumt; und die beiden Alten zerlegten die Mäusebrut kunstgerecht auf dem Horstgeflecht. Das dauerte eine Weile. Nur die zartesten Bissen waren gut genug für die Jungen.
Rakus Bettelrufe klangen immer verzweifelter. Auch seine drei Geschwister begannen zu lärmen. Nun beugte sich Rakus Mutter über seinen aufgesperrten Rachen, stopfte ihm etwas in den Schnabel. Raku spürte einen neuen Geschmack. Und der behagte ihm. Davon wollte er noch mehr. Die anderen aber gierten genauso unersättlich. Und die Räbin verteilte die Brocken fürsorglich und gerecht. Den für die Kleinen ungeeigneten Rest verschlang sie selbst, während der Rabe seine Schwingen ausbreitete und zu erneuter Futtersuche abflog.
Langsam versank die Sonne hinter dem Bergkamm. Dämmerung zog über die Wälder. Der Rabenhorst schwang leise im Abendwind. Und die Stimmen der Nachtvögel erklangen aus dem Dunkel unter den Baumwipfeln. Irgendwo im Gezweig rief ein Waldkauz. Ein Dachs wackelte grunzend durchs Gesträuch der Lichtung. Von ihnen drohte keine Gefahr. Die Räbin huderte geruhsam ihre Jungen, nahm sie wärmend unter ihre Flügel. Und sie gönnte sich ein wenig Schlaf.
Plötzlich schlich ein geschmeidiger Schatten auf die Horstkiefer zu, kletterte geschickt am rauhborkigen Baumstamm hinauf und verharrte sichernd auf einem der unteren Äste. Als es ruhig blieb, kletterte er weiter, fast lautlos. Nur einmal verursachten seine Krallen ein kratzendes Geräusch auf der rauhen Borke. So näherte er sich unaufhaltsam dem Rabenhorst.
Noch blieb es still im Nest. Die Räbin aber hob lauschend den Kopf. Sie hatte einen leisen Schlaf. Das Kratzgeräusch war ihr nicht entgangen. Und sie spürte die Gefahr.
Da erklang das Geräusch wieder, kaum hörbar, doch sehr nah: wenige Meter unter dem Nest. Jetzt wußte die erfahrene Räbin, was sich da näherte. Kein Eichhörnchen würde sich so dicht an einen Rabenhorst wagen. Es war ein Baummarder auf Beutezug, der die Jungen wohl allein im Nest glaubte.
Mit einem Kampflaut stürzte die Räbin wie ein Stein vom Nestrand auf die schlanke braunfellige Gestalt, die sich eng an den Ast drückte. Der Marder fauchte, bleckte sein scharfzähniges Gebiß. Doch er kam nicht zum Zubeißen. Kraftvoll hackte ihm die Räbin ihren dolchartigen Schnabel in den Rücken. Der Marder schrie auf. Und während die Räbin flatternd ihren Sturzflug abbremste, sprang er geschickt zu einem Ast im Wipfel einer danebenstehenden Fichte.
In diesem Augenblick kam der Rabe zurück, sah die Gefahr.
Noch bevor der Marder sich an dem Fichtenast festkrallen konnte, stieß der Rabe zu. Durch den gewaltigen Stoß glitt der Marder ab. Doch schon am nächsttieferen Ast fing er sich wieder, hielt sich sekundenlang an den Vorderpfoten. Da griff ihn die Räbin von der Seite an, jagte ihm die Spitze ihres harten Schnabels in den gelblichen Kehlfleck. Und der Marder fiel durch das Fichtengezweig krachend zu Boden.
Von alldem hatte Raku kaum etwas bemerkt. Er spürte nur die Abendkühle, als seine Mutter sich plötzlich vom Nest erhob, hörte ihren Kampfruf und das Rauschen der Flügel, den Schmerzensschrei des Marders und schließlich seinen dumpfen Aufschlag. Das dauerte nur ein paar Atemzüge. Dann fühlte er sich wieder unter dem schützenden Gefieder seiner Mutter geborgen. Und in seinem Magen meldete sich der Hunger.
An diesem Abend aber gab es noch kein Marderfleisch für die Kleinen. Sie bekamen das Mitgebrachte aus dem Kehlsack ihres Vaters. Und nach der Fütterung ihrer Jungen hielten die beiden alten Raben ein üppiges Mahl.