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Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmten sie die Treppe hinauf. Gleichzeitig versuchten sie, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Gamache gab sich große Mühe, ruhig zu atmen, als ob er zu Hause säße und alles in bester Ordnung wäre.

»Sir?«, kam die junge Stimme aus seinem Kopfhörer.

»Sie müssen mir glauben. Ihnen wird nichts passieren.«

Der Chief Inspector hoffte, der junge Agent möge ihm die Anspannung nicht anhören. Und wie er versuchte, seiner Stimme einen festen, bestimmten Ton zu verleihen.

»Ich glaube Ihnen.«

Sie erreichten den Treppenabsatz. Inspector Beauvoir blieb stehen und sah seinen Vorgesetzten an. Gamache schaute auf die Uhr.

47 Sekunden. Genügend Zeit.

Die Stimme des Agent in seinem Headset schilderte ihm, wie gut sich der Sonnenschein auf seinem Gesicht anfühlte.

Auch die restlichen Mitglieder des Teams waren jetzt oben angekommen, alle in Schutzwesten, die automatischen Waffen im Anschlag, die wachsamen Blicke auf den Chef gerichtet. Auch Inspector Beauvoir neben ihm wartete auf seine Entscheidung. Welche Richtung? Sie waren fast da. Wenige Meter vor dem Ziel.

Gamache spähte in einen dunklen, verdreckten Flur des verlassenen Fabrikgebäudes, dann in einen anderen.

Sie sahen völlig gleich aus. Durch die schmutzigen, zerbrochenen Fenster der langen Korridore sickerte Licht, und mit ihm der Dezembertag.

Noch 43 Sekunden.

Entschlossen deutete Gamache in den linken Flur, und lautlos rannten sie auf die Tür an seinem Ende zu. Das Gewehr fest im Griff, sprach der Chief Inspector im Laufen ruhig in das Headset.

»Es besteht kein Grund zur Sorge.«

»Noch vierzig Sekunden, Sir.« Jedes Wort hervorgestoßen, als bekäme der Mann am anderen Ende kaum mehr Luft.

»Hören Sie einfach auf mich«, sagte Gamache und zeigte auf eine Tür. Das Team stürmte los.

36 Sekunden.

»Ich werde nicht zulassen, dass Ihnen etwas zustößt.« Gamaches Ton war entschieden, bestimmt, duldete keinen Widerspruch. »Sie werden heute mit Ihrer Familie zu Abend essen.«

»Ja, Sir.«

Das Einsatzteam umstellte die geschlossene Tür mit der schmutzigen Milchglasscheibe. Dahinter war es dunkel.

Gamache hielt inne und blickte auf die Tür, die Hand bereits erhoben, um das Signal zu geben, sie aufzubrechen. Um seinen Agent zu retten.

29 Sekunden.

Neben ihm stand Beauvoir bereit. Wartete auf das Kommando loszuschlagen.

Zu spät merkte Chief Inspector Gamache, dass er einen Fehler gemacht hatte.

»Mit der Zeit wird es schon wieder, Armand.«

»Avec le temps?« Gamache erwiderte das Lächeln des älteren Mannes und ballte die rechte Hand zur Faust. Um das Zittern zu unterbinden. Es war so schwach, dass es die Bedienung des Cafés in Quebec City bestimmt nicht bemerkt hatte. Und die zwei Studenten, die auf der anderen Seite des Durchgangs auf ihren Laptops tippten, erst recht nicht. Niemand würde es bemerken.

Nur jemand in unmittelbarer Nähe.

Er betrachtete Émile Comeau, der mit sicherer Hand ein Croissant brach. Gamaches Mentor und ehemaliger Vorgesetzter ging inzwischen auf die achtzig zu. Sein Haar war weiß und gepflegt, die Augen hinter seiner Brille von einem stechenden Blau. Noch immer war er schlank und agil. Allerdings bemerkte Armand Gamache mit jedem Treffen ein leichtes Erschlaffen der Gesichtszüge, eine leichte Verlangsamung der Bewegungen.

Avec le temps.

Seit fünf Jahren Witwer, wusste Émile Comeau um die Macht und die Länge der Zeit.

Gamaches Frau, Reine-Marie, war am frühen Morgen abgereist, nachdem sie mit den beiden Männern eine Woche in Émiles Haus in der Altstadt von Quebec City verbracht hatte. Sie hatten am Kamin in aller Stille gemeinsam zu Abend gegessen, waren in den engen, verschneiten Straßen spazieren gegangen. Hatten geredet. Geschwiegen. Zeitung gelesen, über den Vorfall gesprochen. Zu dritt. Zu viert, wenn man Henri, den Schäferhund, mitzählte.

Und an den meisten Tagen war Gamache allein in eine Bibliothek gegangen, um zu lesen.

Das hatten ihm Émile und Reine-Marie zugestanden, denn sie hatten gemerkt, dass er das Alleinsein gerade ebenso sehr brauchte wie ihre Gesellschaft.

Und dann wurde es für Reine-Marie Zeit abzufahren. Nachdem sie sich von Émile verabschiedet hatte, wandte sie sich ihrem Mann zu. Groß und kräftig, ein Mann, der gute Bücher und lange Spaziergänge jeder anderen Aktivität vorzog. Er sah eher aus wie ein distinguierter Professor Mitte fünfzig statt wie der Leiter der renommiertesten Mordkommission Kanadas, der Sûreté du Québec. Er begleitete sie zu ihrem Auto, kratzte die morgendliche Eisschicht von der Windschutzscheibe.

»Du weißt schon, dass du noch bleiben kannst.« Er lächelte sie an, als sie sich in dem frostigen neuen Tag gegenüberstanden. Henri hockte in einem Schneehaufen und beobachtete sie.

»Ich weiß. Aber du und Émile braucht auch Zeit für euch. Mir ist nicht entgangen, wie ihr euch angesehen habt.«

»Das Verlangen?« Der Chief Inspector lachte. »Ich dachte, es wäre uns nicht so leicht anzumerken.«

»Einer Ehefrau entgeht nichts.« Sie lächelte, blickte in seine dunkelbraunen Augen. Obwohl er einen Hut trug, war sein ergrauendes Haar zu sehen, die leichten Locken, die unter der Krempe hervorlugten. Und der Vollbart. Nach und nach hatte sie sich an seinen Bart gewöhnt. Jahrelang hatte er einen Schnurrbart getragen. Erst seit Kurzem, seit dem Vorfall, trug er einen Vollbart.

Sie zögerte. Sollte sie es sagen? Inzwischen schwirrten ihr die Worte unaufhörlich im Kopf, lagen ihr ständig auf der Zunge. Sie wusste aber, dass sie nutzlos wären, falls man das von Worten überhaupt sagen konnte. Jedenfalls würde es nicht geschehen, nur weil sie es aussprach. Wäre das möglich, hätte sie ihn in ihre Worte eingehüllt.

»Komm einfach nach Hause, sobald du kannst«, sagte sie stattdessen leichthin.

Er gab ihr einen Kuss. »Auf jeden Fall. In ein paar Tagen, spätestens in einer Woche. Ruf mich an, wenn du da bist.«

»D’accord.« Sie stieg ins Auto.

»Je t’aime.« Er streckte seine behandschuhte Hand durchs Fenster, um sie an der Schulter zu berühren.

Pass auf dich auf!, schrie sie in Gedanken. Muss das wirklich sein? Komm mit mir nach Hause. Sei vorsichtig!

Sie legte ihre behandschuhte Hand auf seine. »Je t’aime.«

Und dann fuhr sie los, zurück nach Montréal, und sah im Rückspiegel, wie er an der verlassenen frühmorgendlichen Straße stand, Henri selbstverständlich an seiner Seite. Beide schauten ihr nach, bis sie verschwand.

Der Chief Inspector sah ihr sogar noch hinterher, als sie um die Ecke gebogen war. Dann griff er sich eine Schaufel und räumte den pulvrigen Neuschnee von der Eingangstreppe. Als er, die Arme auf dem Griff verschränkt, kurz ausruhte, staunte er über die Schönheit des ersten Tageslichts, wenn es auf Schnee fiel. Er sah dann mehr bläulich als weiß aus, und wenn die zu kleinen Haufen zusammengewehten Flocken das Licht auffingen, umgestalteten und zurückwarfen, funkelten sie wie winzige Prismen. Wie etwas Lebendiges, Trunkenes.

So war auch das Leben innerhalb der Mauern der Altstadt. Gleichzeitig beschaulich und dynamisch, altehrwürdig und lebendig.

Der Chief Inspector nahm eine Handvoll Schnee und formte sie in seiner Faust zu einem Schneeball. Henri sprang sofort auf und wedelte so heftig mit dem Schwanz, dass sein ganzes Hinterteil hin und her schwenkte. Sein Blick bohrte sich in den Schneeball.

Gamache warf ihn hoch, und der Hund sprang, fing den Schneeball mit dem Maul auf und biss zu. Und als er auf allen vieren landete, war Henri wie immer überrascht, dass dieses Ding, das so kompakt gewesen war, so schnell verschwunden war.

Einfach weg, blitzschnell.

Aber nächstes Mal würde es anders sein.

Gamache lachte leise in sich hinein. Vielleicht hatte Henri ja recht.

In diesem Moment kam Émile, wegen der beißenden Februarkälte in einem dicken Wintermantel, aus dem Haus.

»Kommst du?« Der alte Mann setzte eine Strickmütze auf, zog sie sich über Stirn und Ohren und schlüpfte in Fäustlinge, dick wie Boxhandschuhe.

»Wohin? Zu einer Belagerung?«

»Frühstücken, mon vieux. Beeil dich, bevor dir jemand das letzte Croissant wegschnappt.«

Émile wusste, wie sein ehemaliger Untergebener zu motivieren war.

Ohne zu warten, bis Gamache die Schneeschaufel zurückgestellt hatte, ging er die verschneite Straße hinauf. Inzwischen waren auch andere Bewohner Quebec Citys wach. Sie kamen in das zarte Morgenlicht heraus, um Schnee zu räumen, das Eis von ihren Autos zu kratzen oder Kaffee und ein Morgenbaguette aus der Boulangerie zu holen.

Die zwei Männer gingen mit Henri die Rue Saint-Jean hinauf, an den Restaurants und Touristenshops vorbei zur Rue Couillard, einer kleinen Seitenstraße, wo sich das Chez Temporel befand.

Seit Superintendent Émile Comeau sich vor fünfzehn Jahren in der Altstadt Quebec Citys zur Ruhe gesetzt hatte, gingen sie regelmäßig in dieses Café, wenn Gamache seinen Mentor besuchte, um alle möglichen anfallenden Aufgaben für ihn zu erledigen. Schneeschippen, Brennholz für den Kamin aufschichten, Fenster gegen die Zugluft abdichten. Aber diesmal war es umgekehrt. Im Gegensatz zu den bisherigen Wintern war Chief Inspector Gamache diesmal nach Quebec City gekommen, weil er es war, der Hilfe brauchte.

»So.« Émile nahm die Tasse Café au Lait in seine schlanken Hände und lehnte sich zurück. »Wie kommst du bei deinen Recherchen voran?«

»Bisher konnte ich noch keine Hinweise finden, dass Captain Cook Bougainville schon vor der Schlacht von Québec begegnet ist. Aber das ist jetzt zweihundertfünfzig Jahre her. Die spärlichen Aufzeichnungen sind auch noch schlecht erhalten. Aber ich weiß, dass es sie gibt. Es ist eine tolle Bibliothek, Émile. Manche Bücher sind jahrhundertealt.«

Comeau betrachtete seinen Freund, der von den arkanen Büchern der heimischen Bibliothek erzählte und von den erstaunlichen kleinen Erkenntnissen, die er aus ihnen über eine vor langer Zeit geschlagene und verlorene Schlacht gewonnen hatte. Verloren zumindest aus seiner Sicht. War da doch noch ein Funke in diesen von ihm so geschätzten Augen, in die er so oft an den Schauplätzen grauenhafter Verbrechen geblickt hatte, wenn sie gemeinsam auf Mörderjagd gewesen waren? Wenn sie Wälder, Dörfer, Felder durchstreift, Anhaltspunkte, Beweise und Verdachtsmomente gesichtet hatten. Hinab ins tiefe Dunkel klaffender Ängste. Émile erinnerte sich an das Zitat nicht weniger gut als an diese Tage. Ja, dachte er, das traf es genau. Klaffende Ängste. Sowohl ihre eigenen als auch die der Mörder. An den unterschiedlichsten Orten der Provinz hatten er und Gamache einander so gegenüber gesessen. Genau wie jetzt.

Doch jetzt war es Zeit, die Morde ruhen zu lassen. Kein Töten mehr, kein Sterben. Davon hatte Armand in letzter Zeit zu viel erlebt. Nein, da war es besser, sich in der Geschichte, in weit zurückliegenden Schicksalen zu vergraben. Eine intellektuelle Suche, mehr nicht.

Henri neben ihnen regte sich, und automatisch senkte Gamache die Hand, um dem Schäferhund beruhigend über den Kopf zu streichen. Und wieder fiel Émile das leichte Zittern auf. Im Moment kaum zu erkennen. Bei anderen Gelegenheiten stärker. Manchmal ganz weg. Es war ein verräterisches Zittern, und Émile kannte die schreckliche Geschichte dahinter.

Nur zu gern hätte er diese Hand ergriffen und gehalten und Armand versichert, dass alles gut würde. Denn das würde es.

Mit der Zeit.

Als er jetzt sein Gegenüber musterte, fiel ihm wieder die gezackte Narbe an seiner linken Schläfe auf, der sauber getrimmte Vollbart, den er sich hatte stehen lassen. Damit die Leute aufhörten, sie anzustarren. Damit die Leute den bekanntesten Polizeibeamten Québecs nicht erkannten.

Aber das spielte natürlich keine Rolle. Nicht sie waren es, vor denen Armand Gamache sich versteckte.

Die Bedienung des Chez Temporel kam mit frischem Kaffee.

»Merci, Danielle«, sagten die zwei Männer gleichzeitig, und als sie ging, lächelte sie die beiden an, die so unterschiedlich aussahen, aber einander so ähnlich zu sein schienen.

Sie tranken ihren Kaffee und aßen pain au chocolat und croissants aux amandes und sprachen über den Carnaval de Québec, der an diesem Abend begann. Gelegentlich verfielen sie in Schweigen und beobachteten die Männer und Frauen, die draußen auf der eiskalten Straße zur Arbeit hetzten. Jemand hatte ein dreiblättriges Kleeblatt in eine Vertiefung in der Mitte ihres Holztisches geritzt. Émile strich mit dem Finger darüber.

Und fragte sich, wann Armand so weit wäre, um über das Geschehene zu sprechen.

Es war halb elf, und in Kürze würde die monatliche Vorstandssitzung der Literary and Historical Society beginnen. Jahrelang waren diese Meetings abends, wenn die Bibliothek geschlossen war, abgehalten worden, doch dann waren immer weniger Mitglieder zu ihnen erschienen.

Deshalb hatte Porter Wilson, der Präsident der Gesellschaft, die Sitzung auf den Vormittag verlegt. Zumindest bildete er sich ein, für diese Veränderung verantwortlich gewesen zu sein. Denn im Sitzungsprotokoll war vermerkt, dass er den entsprechenden Antrag gestellt hatte, obwohl er sich zu erinnern glaubte, insgeheim dagegen gewesen zu sein.

Und doch, hier waren sie und kamen jetzt schon einige Jahre vormittags zusammen. Die anderen Mitglieder hatten sich mit der neuen Regelung abgefunden, genau wie Wilson. Da sie allem Anschein nach seine eigene Idee gewesen war, blieb ihm auch gar keine andere Wahl.

Der Umstand, dass sich der Vorstand überhaupt damit abgefunden hatte, war ein Wunder. Die letzte Änderung, die sie davor vorgenommen hatten, war der Austausch der abgenutzten Lederbezüge der Lit-and-His-Stühle gewesen, und das war inzwischen dreiundsechzig Jahre her. Mitglieder erinnerten sich noch an Väter und Mütter, gar an Großeltern, die auf unterschiedlichen Seiten dieser Mason-Dixon-Linie in Sachen Polsterung gestanden hatten. Erinnerten sich an giftige Bemerkungen, die zwar nur hinter geschlossenen Türen und vorgehaltener Hand gemacht wurden, aber vor Kindern. Die auch nach dreiundsechzig Jahren diesen unerhörten Wechsel von altem schwarzem Leder zu neuem schwarzem Leder nicht vergessen hatten.

Als Porter Wilson jetzt seinen Stuhl am Kopfende des Tischs hervorzog, stellte er fest, dass er abgenutzt aussah. Damit niemand, am allerwenigsten er selbst, es sehen konnte, setzte er sich schnell.

Vor seinem und jedem anderen Platz lagen penibel ausgerichtete kleine Papierstöße auf dem langen Holztisch. Elizabeth MacWhirters Werk. Er musterte Elizabeth. Unscheinbar, groß und schlank. Zumindest war sie das in ihrer Jugend gewesen. Jetzt sah sie wie gefriergetrocknet aus. Wie diese vorzeitlichen Kadaver, die aus Gletschern geborgen wurden. Immer noch unverkennbar menschlich, aber verwelkt und grau. Ihr Kleid war blau und praktisch, gut geschnitten und vermutlich aus feinstem Material. Schließlich war sie eine MacWhirter. Sprössling einer angesehenen, begüterten Familie. Einer Reederdynastie, die nicht dazu neigte, mit Reichtum – oder Intelligenz – zu protzen. Ihr Bruder hatte das Familienimperium etwa zehn Jahre zu spät verkauft. Aber es war noch Geld da. Elizabeth war ein bisschen langweilig, fand er, aber verantwortungsbewusst. Keine Führerpersönlichkeit, keine Visionärin. Niemand, der eine Gemeinschaft in Bedrängnis zusammenhalten konnte. Wie er. Und sein Vater vor ihm. Und sein Großvater.

Denn die winzige englische Community innerhalb der Altstadt von Quebec City war seit vielen Generationen in Bedrängnis. Es war eine Art von ständiger Bedrängnis, die manchmal nachließ, manchmal zunahm, aber nie vollständig verschwand. Genau wie die Anglos.

Porter Wilson hatte nie in einem Krieg gekämpft. Zuerst war er eine Spur zu jung, dann zu alt gewesen. Zumindest nicht in einem offiziellen Krieg. Ihm und den anderen Vorstandsmitgliedern war jedoch bewusst, dass sie sich trotzdem in einem ständigen Krieg befanden. Noch dazu in einem, den sie verlieren würden, wie er insgeheim fürchtete.

Elizabeth MacWhirter, die an der Tür die anderen Vorstandsmitglieder begrüßte, schaute zu Porter Wilson, der bereits am Kopfende des Tisches saß und seine Notizen überflog.

Er hatte in seinem Leben vieles erreicht, wusste Elizabeth. Der von ihm gegründete Chor, die Theatertruppe, die Räume für das Altersheim. Alles dank seiner Willenskraft und Persönlichkeit. Und alles blieb unbedeutender, als es hätte sein können, hätte er Rat gesucht und beherzigt.

Die Stärke seiner Persönlichkeit war sowohl Segen als auch Fluch. Wie viel mehr hätte er erreichen können, wäre er freundlicher gewesen. Andererseits traten Tatkraft und Freundlichkeit selten gemeinsam in Erscheinung, aber wenn doch, waren sie nicht aufzuhalten.

Porter war aufzuhalten. Er hielt sich sogar selbst auf. Und inzwischen war der Vorstand der Lit and His der einzige, der ihn ertrug. Elizabeth MacWhirter kannte Porter schon seit siebzig Jahren. Seit sie ihn in der Schule jeden Tag hatte allein zu Mittag essen sehen und sich zu ihm gesetzt hatte, um ihm Gesellschaft zu leisten. In dem Glauben, sie wolle sich nur an einen Angehörigen des großen Wilson-Clans heranmachen, strafte sie der junge Porter mit Verachtung.

Trotzdem leistete sie ihm weiter Gesellschaft. Nicht weil sie ihn mochte, sondern weil sie schon damals etwas wusste, was zu lernen Porter Wilson Jahrzehnte brauchen sollte. Die Anglos von Quebec City waren nicht mehr die Fernlaster, die Dampfschiffe, die eleganten Passagierdampfer der Gesellschaft und der Wirtschaft.

Sie waren nur noch ein Rettungsboot. Das steuerlos auf dem Meer trieb. Und mit den anderen Insassen eines solchen Boots legt man sich nicht an.

Elizabeth MacWhirter hatte das früh begriffen. Und wenn Wilson das Boot fast zum Kentern brachte, richtete sie es auf.

Sie musterte Porter Wilson und sah einen kleinen, energiegeladenen Mann mit einem Toupet. Sein Haar, wo nicht importiert, war in einem Schwarz gefärbt, um das ihn die Stühle beneidet hätten. Seine Augen waren braun und zuckten nervös in alle Richtungen.

Als Erster kam Mr. Blake herein. Er war das älteste Vorstandsmitglied und lebte praktisch in der Lit and His. Er legte den Mantel ab, unter dem er seine Uniform trug: grauer Flanellanzug, gebügeltes weißes Hemd, blaue Seidenkrawatte. Er war immer tadellos gekleidet. Ein Gentleman, der es schaffte, dass sich Elizabeth MacWhirter jung und schön fühlte. Sie war verliebt in ihn, seit sie ein schüchterner Teenager und er ein schneidiger Mittzwanziger gewesen war.

Er war damals attraktiv gewesen und war es auch sechzig Jahre später noch, auch wenn sein Haar jetzt dünn und weiß und sein ehemals sportlicher Körper rundlich und schlaff geworden war. Aber seine Augen waren klug und lebendig, sein Herz groß und stark.

»Elizabeth.« Lächelnd ergriff Mr. Blake ihre Hand, um sie kurz zu halten. Nie zu lang, nie zu vertraut. Nur so lang, dass sie wusste, dass sie gehalten worden war.

Er nahm auf seinem Stuhl Platz. Ein Stuhl, der ersetzt werden sollte, fand Elizabeth MacWhirter. Aber ehrlich gesagt galt das auch für Mr. Blake. Und eigentlich für sie alle.

Was würde passieren, wenn sie ausstarben und vom Vorstand der Literary and Historical Society nichts mehr übrig blieb als abgenutzte, leere Stühle?

»Ja, wir müssen uns beeilen. In einer Stunde beginnt unser Training.«

Tom Hancock traf ein, gefolgt von Ken Haslam. Als unwahrscheinliche Teamkollegen in einem grotesken Rennen, das demnächst stattfinden würde, waren die beiden neuerdings fast nur noch zu zweit anzutreffen.

Tom war Elizabeth’ Triumph. Ihre Hoffnung. Und nicht bloß, weil er der Pastor der St. Andrew’s Presbyterian Church nebenan war.

Er war jung und neu in der Gemeinde, erst vor drei Jahren nach Quebec City gezogen. Mit seinen dreiunddreißig Jahren war er etwa halb so alt wie das nächstjüngste Vorstandsmitglied. Noch nicht zynisch, noch nicht ausgelaugt. Er glaubte immer noch, seine Kirche würde neue Mitglieder finden und die englische Community würde plötzlich Babys hervorbringen, die den Wunsch verspürten, in Quebec City zu bleiben. Er glaubte der Regierung von Québec, wenn sie den Anglophonen berufliche Chancengleichheit versprach. Und Gesundheitsversorgung in ihrer eigenen Sprache. Und Bildung. Und Altersheime, in denen, wenn es keine Hoffnung mehr gab und nur noch der Tod auf sie wartete, das Pflegepersonal zumindest ihre Muttersprache verstand.

Es war ihm gelungen, im Vorstand den Glauben zu wecken, dass vielleicht noch nicht alles verloren war. Und vielleicht sogar, dass sie sich eigentlich gar nicht im Krieg befanden. In keiner schrecklichen Fortsetzung der Schlacht auf der Abraham-Ebene, keiner militärischen Auseinandersetzung, die diesmal die Engländer verlieren würden. Elizabeth schaute zu der seltsam zierlichen Statue von General James Wolfe hinauf. Der Märtyrerheld der zweihundertfünfzig Jahre zurückliegenden Schlacht schwebte über der Bibliothek der Literary and Historical Society wie ein hölzerner Vorwurf. Um ihre trivialen Scharmützel zu beobachten und sie fortwährend an die wichtige Schlacht zu erinnern, die er für sie geschlagen hatte. Bei der er gestorben war, allerdings nicht ohne vorher auf diesem blutgetränkten Acker den Sieg davonzutragen, den Krieg zu beenden und Québec für die Engländer zu erobern. Auf dem Papier.

Und jetzt blickte General Wolfe aus seiner Ecke in der wunderschönen alten Bibliothek auf sie herab. In jeder Hinsicht, vermutete Elizabeth MacWhirter.

»Und, Ken?« Tom Hancock nahm neben dem älteren Mann Platz. »Wie sieht’s aus? Bereit für das Rennen?«

Ken Haslams Antwort war nicht zu hören. Damit hatte Elizabeth MacWhirter auch nicht gerechnet. Zwar bewegten sich Haslams schmale Lippen, aber die Worte, die sie formten, waren nie wirklich zu hören.

Alle hielten inne, in der Hoffnung, dass vielleicht endlich der Moment gekommen wäre, in dem er ein Wort hervorbrachte, das mehr war als ein Wispern. Aber sie täuschten sich. Trotzdem redete Tom Hancock weiter auf Ken Haslam ein, als führten sie tatsächlich ein Gespräch.

Auch deswegen mochte Elizabeth MacWhirter den jungen Geistlichen. Weil er nicht der Versuchung erlag, Ken für dumm zu halten, weil er so still war. Sie wusste, dass er alles andere war als das. Inzwischen Mitte sechzig, war er der Erfolgreichste von ihnen allen und hatte eine eigene Firma aufgebaut. Doch damit nicht genug, hatte Ken Haslam noch etwas anderes Bemerkenswertes getan.

Er hatte sich für das berüchtigte Eiskanurennen angemeldet. Als Mitglied von Tom Hancocks Team. Damit war er nicht nur das älteste Mitglied seines, sondern aller Teams. Vielleicht sogar der Älteste, der jemals an dem Rennen teilgenommen hatte.

Als Elizabeth MacWhirter jetzt Ken Haslam, still und ruhig, und Tom Hancock, jung, vital und attraktiv, betrachtete, fragte sie sich, ob die zwei Männer vielleicht mehr Gemeinsamkeiten hatten, als es schien. Vielleicht gab es in beider Leben Dinge, über die sie nicht sprachen.

Nicht zum ersten Mal machte sich Elizabeth MacWhirter Gedanken über Tom Hancock. Warum er sich dafür entschieden hatte, ihr Pastor zu werden, und warum er innerhalb der Stadtmauern der Altstadt von Quebec City blieb. Man musste speziell gestrickt sein, um sich für ein Leben in einer regelrechten Festung zu entscheiden.

»Gut, fangen wir an«, sagte Porter Wilson und setzte sich noch aufrechter.

»Winnie ist noch nicht da«, sagte Elizabeth MacWhirter.

»Wir können nicht länger warten.«

»Warum nicht?«, fragte Tom Hancock ohne jeden Vorwurf. Trotzdem hörte Wilson einen heraus.

»Weil es schon nach halb elf ist und du derjenige bist, der zur Eile gedrängt hat«, sagte Wilson, zufrieden, dass dieser Punkt an ihn ging.

Wieder einmal schaffte es Porter, dachte Elizabeth MacWhirter, einen Freund anzuschauen und einen Feind zu sehen.

»Das ist durchaus richtig. Trotzdem habe ich nichts dagegen zu warten«, erwiderte Tom Hancock lächelnd. Er war nicht bereit, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen.

»Ich schon. Der erste Punkt der Tagesordnung?«

Sie berieten eine Weile über den Kauf neuer Bücher, bevor Winnie eintraf. Klein und energisch, war sie unerschütterlich loyal. Gegenüber der englischen Community, gegenüber der Lit and His, aber vor allem gegenüber ihrer Freundin Elizabeth.

Sie kam hereingerauscht, bedachte Porter Wilson mit einem vernichtenden Blick und setzte sich neben Elizabeth MacWhirter.

»Wie ich sehe, hast du ohne mich angefangen«, sagte sie, an ihn gewandt. »Ich habe dir doch gesagt, dass es bei mir etwas später wird.«

»Hast du. Was aber nicht heißt, dass wir hätten warten müssen. Wir sprechen gerade über die neuen Bücher, die wir kaufen wollen.«

»Und auf die Idee, dass man darüber am besten mit der Bibliothekarin sprechen sollte, bist du nicht gekommen?«

»Jetzt bist du ja hier.«

Der Rest der Anwesenden verfolgte den Wortwechsel wie ein Match in Wimbledon, wenngleich mit merklich weniger Interesse. Es war ziemlich klar, wer am Drücker war und wer gewinnen würde.

Fünfzig Minuten später hatten sie fast alle Tagesordnungspunkte abgehakt. Es war noch ein Haferkeks übrig, und alle Anwesenden starrten ihn an, waren aber zu höflich, ihn zu nehmen. Sie hatten über die Heizkosten gesprochen, über eine Veranstaltung, um neue Mitglieder anzuwerben, über die schäbigen alten Schmöker, die ihnen in Testamenten anstelle von Geld hinterlassen wurden. Die Bücher enthielten in der Regel Predigten oder grauenhafte viktorianische Lyrik oder langweilige Berichte über Fahrten auf dem Amazonas oder Reisen durch Afrika, um irgendwelche armen wilden Tiere zu schießen und auszustopfen.

Sie berieten, ob sie einen weiteren Bücherbasar veranstalten sollten, aber angesichts des jüngsten Debakels fiel diese Diskussion sehr kurz aus.

Elizabeth MacWhirter machte sich Notizen und musste sich zwingen, die Kommentare der einzelnen Mitglieder nicht stumm nachzuäffen. Es war eine Liturgie. Vertraut und seltsam tröstlich. Die gleichen Worte, bei jeder Sitzung immer aufs Neue wiederholt. Immer und immer wieder. Amen.

Plötzlich unterbrach ein Geräusch die einlullende Liturgie, ein Geräusch, so ungewöhnlich und erschreckend, dass Porter Wilson fast von seinem Stuhl aufsprang.

»Was war das?«, hauchte Ken Haslam. Für seine Verhältnisse war es fast ein Schrei.

»Die Türglocke, glaube ich«, sagte Winnie.

»Die Türglocke?«, fragte Wilson. »Ich wusste gar nicht, dass wir eine haben.«

»1897 eingebaut, nachdem der Lieutenant Governor zu Besuch kam und nicht eingelassen wurde«, sagte Mr. Blake, als wäre er dabei gewesen. »Hab sie nie selbst gehört.«

Doch da hörte er sie wieder. Ein langes, schrilles Läuten. Sobald alle eingetroffen waren, hatte Elizabeth die Eingangstür der Literary and Historical Society abgeschlossen. Um nicht gestört zu werden. Doch da kaum einmal jemand zu Besuch kam, war es mehr Gewohnheit als Notwendigkeit. Außerdem hatte sie einen Zettel an die massive Holztür gehängt. Wegen einer Vorstandssitzung öffnet die Bibliothek erst mittags wieder. Danke. Merci.

Die Glocke ertönte erneut. Inzwischen nahm der Besucher den Finger gar nicht mehr vom Klingelknopf.

Immer noch schauten sie einander fragend an.

»Ich geh nachsehen«, sagte Elizabeth MacWhirter.

Porter Wilson blickte auf seine Unterlagen hinab. Nur nichts überstürzen.

»Nein.« Winnie stand auf. »Ich geh. Bleib du nur.«

Sie sahen Winnie hinterher, als sie auf den Flur hinausging, hörten ihre Schritte auf der Holztreppe. Dann trat Stille ein. Nach einer Weile kamen ihre Schritte zurück.

Sie lauschten dem näherkommenden Klacken ihrer Absätze. Winnies Gesicht war blass und ernst, als sie in der Tür erschien.

»Da ist jemand. Jemand, der mit dem Vorstand sprechen will.«

»Und?«, fragte Wilson, dem wieder einfiel, dass eigentlich er den Vorsitz hatte, nachdem die nicht mehr ganz junge Frau nachsehen gegangen war. »Wer ist es?«

»Augustin Renaud«, antwortete sie und sah die Gesichter, die sie machten. Hätte sie »Dracula« gesagt, hätten sie nicht bestürzter sein können. Im Fall der Engländer äußerte sich »bestürzt« allerdings nur in hochgezogenen Augenbrauen.

Jede Braue im Raum war hochgezogen. Selbst General Wolfe hätte ein erstauntes Gesicht gemacht, wäre er dazu in der Lage gewesen.

»Ich habe ihn nicht hereingelassen«, sagte sie in die Stille hinein.

Wie um das zu unterstreichen, ertönte die Türglocke wieder.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Winnie, doch statt sich an Porter Wilson zu wenden, sah sie Elizabeth MacWhirter an. Das taten auch die anderen.

»Wir stimmen ab«, sagte Elizabeth MacWhirter schließlich. »Sollen wir ihn hereinlassen?«

»Er steht nicht auf der Tagesordnung«, führte Mr. Blake an.

»Richtig«, sagte Porter Wilson in dem Bemühen, die Kontrolle wieder an sich zu reißen. Aber selbst er sah Elizabeth MacWhirter an.

»Wer ist dafür, Augustin Renaud zum Vorstand sprechen zu lassen?«, fragte sie.

Nicht eine Hand wurde gehoben.

Ohne die Entscheidung im Protokoll zu vermerken, ließ Elizabeth MacWhirter ihren Stift sinken und stand mit einem knappen Nicken auf. »Ich werde es ihm sagen.«

»Ich komme mit«, sagte Winnie.

»Nein, meine Liebe, du bleibst hier. Ich bin gleich wieder zurück.« Sie blieb in der Tür stehen und ließ den Blick über die Anwesenden und General Wolfe streifen. »Ich bitte euch. Was soll schon so schlimm daran sein?«

Aber die Antwort darauf wussten alle. Wenn Augustin Renaud auftauchte, hieß das nie etwas Gutes.

Heimliche Fährten

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