Читать книгу Heimliche Fährten - Louise Penny - Страница 8

6

Оглавление

Es war früher Nachmittag, und Jean-Guy Beauvoir merkte, dass er bereits einen Fehler gemacht hatte. Keinen schweren, aber ärgerlich war es trotzdem.

Er musste nach Montréal zurückfahren und Olivier Brulé vernehmen. Das hätte er schon tun sollen, bevor er nach Three Pines gefahren war. Stattdessen hatte er die letzte Stunde in aller Ruhe im Bistro verbracht. Alle waren gegangen, aber nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass er den besten Platz hatte, den wuchtigen, abgenutzten Ledersessel am Kamin. Er tunkte ein Orangen-Cantuccino in seinen Café au Lait und blickte durch das beschlagene Fenster in den gemächlich, aber beständig fallenden Schnee hinaus. Billy Williams war zwar schon mit dem Schneepflug vorbeigekommen, aber inzwischen merkte man kaum mehr etwas davon.

Beauvoir senkte den Blick auf das Dossier in seiner Hand und nahm in der behaglichen Wärme die Lektüre wieder auf. Eine halbe Stunde später blickte er auf die Schiffsuhr auf dem Kaminsims. Zwanzig nach eins.

Zeit zu gehen.

Aber nach Montréal würde er nicht fahren. Nicht bei diesem Wetter.

Zurück in der Pension schlüpfte Beauvoir in seine lange Seidenunterwäsche, und nachdem er seine Kleidung strategisch darübergeschichtet hatte, zog er als Letztes seinen Skianzug an, den er selten trug. Er war lieber wie aus dem Ei gepellt, und im Skianzug kam er sich vor wie der Roboter in Lost in Space. Tatsächlich sah Québec im Winter aus wie der Sammelpunkt einer Invasion von Aliens.

Zum Glück war die Gefahr, im Wald dem Herausgeber von Vogue Hommes über den Weg zu laufen, relativ gering.

Er hörte seine Oberschenkel aneinanderwetzen und konnte kaum die Arme anlegen, als er im dichten Schneetreiben zum Wellnesshotel hinaufstapfte.

»Ja?«

Carole Gilbert kam an die Tür und sah den schneebedeckten Zombie an. Die alte Frau zeigte keinerlei Furcht, nicht einmal Überraschung. Anmutig wie eh und je machte sie zwei Schritte zurück und ließ den Alien in das von ihrem Sohn und dessen Frau geführte Hotel treten.

»Kann ich etwas für Sie tun?«

Beauvoir kam sich vor wie die Mumie, als er sich auszupacken begann. Ein regelrechtes B-Movie-Festival. Zum Schluss nahm er die Mütze ab, und Carole Gilbert lächelte freundlich.

»Inspector Beauvoir?«

»Ja, Madame. Comment allez-vous

»Danke, gut. Möchten Sie ein Zimmer? Ich habe Ihren Namen nicht im Belegungsplan gesehen.«

Sie schaute hinter sich in das große, offene Foyer mit dem schwarz-weiß gefliesten Boden, dem polierten Holzschreibtisch und den frischen Blumen, sogar im tiefsten Winter. Sehr einladend, und kurz wünschte sich Beauvoir, hier ein Zimmer gebucht zu haben. Doch dann erinnerte er sich an die Preise und weshalb er in Three Pines war.

Nicht wegen Massagen und Fünf-Gänge-Menüs, sondern um herauszufinden, ob Olivier den Eremiten tatsächlich umgebracht hatte.

Warum sollte Olivier die Leiche woandershin schaffen?

Und jetzt stand er genau da, wo Olivier den Eremiten hingelegt hatte. So viel hatte Olivier zugegeben. Er hatte den Toten an besagtem Labor-Day-Wochenende mitten in der Nacht durch den Wald geschleppt. Da die Tür nicht abgeschlossen gewesen war, hatte er die traurige Last einfach in das Hotelfoyer gelegt. Genau an diese Stelle.

Beauvoir blickte an sich hinab. Er schmolz, wie die Böse Hexe des Westens. Auf dem Fliesenboden hatte sich um seine schneebedeckten Stiefel eine Pfütze gebildet. Aber Carole Gilbert schien sich nicht daran zu stören. Ihr ging es mehr darum, dass er sich wohlfühlte.

»Nein, ich wohne in der Pension«, sagte er.

»Natürlich.« Er hielt nach Zeichen geschäftlicher Eifersucht in ihrer Miene Ausschau, entdeckte aber keine. Wie auch? Es schien unvorstellbar, dass die Inhaber dieses luxuriösen Wellnesshotels auf irgendeine andere Unterkunft eifersüchtig sein könnten, vor allem nicht auf Gabris etwas schäbige Pension.

»Was führt Sie dann zu uns?«, fragte sie beiläufig. »Sind Sie mit dem Chief Inspector hier?«

»Nein, ich habe Urlaub. Oder genauer, ich bin vom Dienst freigestellt.«

»Natürlich, das tut mir wirklich leid.« Und ganz so wirkte sie auch, ihre Miene plötzlich besorgt. »Wie dumm von mir. Wie geht es Ihnen?«

»Danke, gut. Besser.«

»Und Monsieur Gamache?«

»Auch besser.« Er musste zugeben, dass er es leid war, diese gut gemeinten Fragen zu beantworten.

»Gut zu hören.« Sie winkte ihn weiter nach drinnen, aber er bewegte sich nicht von der Stelle. Er hatte es eilig und konnte so etwas nie gut verbergen. Aber er versuchte es zumindest jetzt. Angeblich war er doch auf Urlaub hier.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie noch einmal. »Vermutlich sind Sie nicht für eine Fangopackung hergekommen? Oder zum Taiji?«

Ihr amüsierter Blick entging ihm nicht. Machte sie sich über ihn lustig? Er glaubte nicht. Eher galt ihr Spott ihr selbst und den Wellnessangeboten des Hotels. Ihr Sohn Marc und seine Frau Dominique hatten das heruntergekommene Anwesen vor etwa einem Jahr gekauft und ein luxuriöses Wellnesshotel daraus gemacht. Und seine Mutter, Carole Gilbert, dazu ermuntert, von Quebec City nach Three Pines zu ziehen und ihnen zu helfen, es zu führen.

»Ach, jetzt verstehe ich, wie Sie darauf kommen. Wegen meines Taiji-Outfits.« Um seinen Skianzug besser zur Geltung zu bringen, breitete er die Arme aus. Sie lachte. »Eigentlich wollte ich fragen, ob ich eins Ihrer Schneemobile ausleihen könnte? Sie haben doch welche für Ihre Gäste?«

»Aber sicher. Ich sage Roar Parra, dass er Ihnen eins fertig macht.«

»Merci. Ich würde gern zur Blockhütte fahren.«

Er beobachtete sie beim Sprechen, denn er hoffte, sie würde eine Reaktion zeigen. Das tat sie auch. Ihre freundliche Miene wurde eiskalt. Dabei war sie ihm eben noch wie die Ruhe in Person erschienen. Und obwohl es in ihrer Umgebung zu keiner wahrnehmbaren Veränderung gekommen war, wirkte sie auf einmal wie ein Eisblock und strahlte eine Kälte aus, die einen frösteln ließ.

»Ja? Warum?«

»Um sie mir noch einmal anzusehen. Um etwas zu tun zu haben.«

Sie musterte ihn aufmerksam, mit Augen wie ein Reptil. Dann kehrte die verbindliche Maske zurück, und Carole Gilbert wurde wieder die gentille grande dame des Herrenhauses.

»Bei diesem Wetter?« Sie spähte in den dichten Schneefall hinaus.

»Wenn ich mich vom Schnee davon abhalten ließe, etwas zu erledigen, bekäme ich im Winter nie etwas gebacken«, sagte er.

»Da haben Sie natürlich recht«, pflichtete sie ihm bei. Widerstrebend?, fragte er sich. »Sie haben vermutlich noch nicht gehört, dass inzwischen mein Mann in der Hütte wohnt.«

»Tatsächlich?« Das war ihm neu. Aber sie hatte »Mann« gesagt, nicht »Ex-Mann«. Sie waren schon Jahre getrennt gewesen, als Vincent Gilbert plötzlich ungebeten fast zur selben Zeit im Hotel aufgetaucht war, als die Leiche des Eremiten entdeckt wurde.

»Und Sie wollen nicht doch lieber eine Fangopackung?«, fragte sie. »Das ist auch nicht viel anders als eine Stunde in Vincents Gegenwart.«

Er lachte. »Nein, merci. Wird es ihm etwas ausmachen, wenn ich vorbeischaue?«

»Vincent? Ich versuche schon längst nicht mehr zu verstehen, was in ihm vorgeht.« Sie schien wieder etwas milder gestimmt und lächelte den schmelzenden Mann an. »Ich bin sicher, er freut sich über einen Besuch. Aber beeilen Sie sich lieber, bevor es zu spät wird.«

Es war bereits zwei Uhr nachmittags. Um vier würde es dunkel.

Und wenn die Wintersonne über einem Quebecer Wald unterging, kamen Monster aus dem Dunkel gekrochen. Keine B-Movie-Monster, keine Zombies oder Mumien oder Außerirdische. Nein, ältere Gespenster. Unsichtbare Wesen, die auf sinkenden Temperaturen angeritten kamen. Tod durch Erfrieren, Tod durch Erschöpfung. Oft genügte es, einen Schritt vom Pfad abzukommen, um sich hoffnungslos zu verirren. Der Tod, uralt und geduldig, wartete in Quebecer Wäldern nur darauf, dass die Sonne unterging.

»Kommen Sie.«

Carole Gilbert, elegant und zierlich, schlüpfte in ihren voluminösen Mantel und schloss sich der Alien-Armee an. Sie gingen durch große zarte Schneeflocken um das Hotel herum. In der Ferne konnte Inspector Beauvoir ein paar Langläufer auf gut markierten Loipen durch die Landschaft gleiten sehen. In wenigen Minuten würden sie im Hotel eintreffen, am Kamin buttrige Grogs oder heiße Schokolade schlürfen und mit rosigen Wangen und laufenden Nasen ihre Füße massieren, um den Kreislauf wieder in Gang zu bringen.

Falls sie im Hotel wohnten, waren sie gesund und wohlhabend und hatten es schön warm.

Und er würde in einem Wettlauf mit der sinkenden Sonne in den Wald fahren, zu einer Blockhütte, in der ein Mord passiert war und jetzt ein Arschloch lebte.

»Roar«, rief Carole Gilbert, und der kleine, gedrungene Mann im Schuppen richtete sich auf. Sein Haar und seine Augen waren fast schwarz, und er war kräftig gebaut.

»Madame Gilbert«, sagte er und nickte ihr zu. Nicht unterwürfig, aber respektvoll. Und Inspector Beauvoir merkte, dass dieser Frau ganz von selbst Respekt entgegengebracht wurde, weil sie andere mit Respekt behandelte. Wie jetzt den Waldarbeiter.

»Sie können sich doch bestimmt noch an Inspector Beauvoir erinnern.«

Erst nach einem verlegenen Moment des Zögerns streckte Roar Parra die Hand aus. Das wunderte Beauvoir nicht. Er und die anderen Mordermittler hatten dem Mann das Leben ziemlich schwer gemacht. Er, seine Frau Hanna und ihr Sohn Havoc hatten als Hauptverdächtige im Mordfall des Eremiten gegolten.

Der Inspector sah den ehemaligen Verdächtigen an. Ein Mann, der sich im Wald auskannte, der einen Pfad zur Hütte des Einsiedlers geschlagen hatte. Er war Tscheche. Der Tote war Tscheche. Sein Sohn Havoc hatte für Olivier gearbeitet und könnte ihm eines Nachts in den Wald gefolgt sein und die Blockhütte entdeckt haben. Und den Schatz.

Der Eremit hatte seine Schätze mit hoher Wahrscheinlichkeit beim Fall des Eisernen Vorhangs gestohlen. Von Leuten, die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems aus dem Ostblock in den Westen fliehen wollten. Von Leuten, die ihre kostbaren Familienstücke über Generationen hinweg vor den Kommunisten versteckt hatten, nur um sie jetzt dem falschen Mann anzuvertrauen. Dem Eremiten, bevor er ein Einsiedler wurde, als er noch ein Mann mit einem Plan war. Dem Plan, sie zu bestehlen. Aber er hatte ihnen mehr gestohlen als Antiquitäten und Kunstwerke. Er hatte ihnen Hoffnung gestohlen, und Vertrauen.

Hatte er Roar und Hanna Parra bestohlen? Hatten sie ihn aufgespürt?

Hatten sie ihn umgebracht?

Als Carole Gilbert ging, blieben die zwei Männer allein im Schuppen zurück.

»Warum wollen Sie noch mal zur Hütte?«

An diesem Klotz von einem Mann war nichts Subtiles.

»Aus purer Neugier. Was dagegen?«

Sie starrten einander an.

»Wollen Sie wieder Ärger machen?«

»Ich bin hier, um mich zu erholen. Ein kleiner Ausflug durch den Wald, mehr nicht. Wenn Sie sich nicht beeilen, wird es zu spät.«

War das Parras Absicht, fragte sich Beauvoir, als er den Helm über seine Wollmütze stülpte, sich rittlings auf das Schneemobil setzte und den Motor aufheulen ließ. Ließ er sich absichtlich Zeit, damit Beauvoir nach Einbruch der Dunkelheit im Wald stecken blieb?

Nein, entschied er. Zu raffiniert. Das war ein Mann, der seinen Feinden einen Schlag auf den Kopf verpasste. So einen, wie ihn der Eremit abbekommen hatte.

Ein kurzes Winken, und Beauvoir war auf und davon, unter sich das bebende Brummen des Motors. Er hatte in den zehn Jahren, die er bei der Mordkommission war, auf Dutzenden von Schneemobilen gesessen. Er mochte diese Dinger. Den Lärm, die starken Motoren, das Gefühl von Freiheit. Die beißende Kälte und den Schnee in seinem Gesicht. Sein Körper war vom Anzug geschützt und daher wohlig warm, fast zu warm. Er konnte den Schweiß auf seiner Haut spüren.

Beauvoir hatte die Griffe des Lenkers fest gepackt, und wenn er sich in eine Kurve legte, folgte ihm das schwere Gefährt. Aber irgendetwas war anders.

Irgendetwas stimmte nicht.

Nicht mit dem Schneemobil, nein, mit ihm. Er spürte ein vertrautes Stechen in seinem Bauch.

Das konnte nicht sein. Er saß doch nur, er strengte sich in keiner Weise an.

Immer weiter folgte er dem schmalen Weg, immer tiefer in den Wald hinein. Ohne Laub war der Wald kalt und kahl. Die Schatten waren scharf und lang, und das waren jetzt auch die Schmerzen in seinem Bauch, in den Flanken. Sie schossen in seinen Unterleib.

Beauvoir begann, tief zu atmen, aber die Schmerzen wurden schlimmer.

Schließlich musste er anhalten.

Sich den Bauch haltend, die Arme auf dem Lenker des Schneemobils verschränkt, sank er langsam vornüber. Der Motor lief weiter. Sein Kopf sank auf seine Arme und blieb darauf liegen. Er versuchte, sich auf das Vibrieren zu konzentrieren, auf das tiefe, beruhigende, vorhersehbare, Normalität suggerierende Geräusch. Aber seine Welt war auf eine einzige Empfindung zusammengeschrumpft.

Schmerz.

Unerträglicher, vertrauter Schmerz. Schmerz, von dem er geglaubt hatte, er wäre für immer weg, doch jetzt war er mitten in diesem dunkler werdenden Winterwald zurückgekehrt.

Er schloss die Augen, konzentrierte sich auf seinen Atem, hörte ihn, spürte ihn. Ein langes, sanftes Einatmen. Ein langes, sanftes Ausatmen.

Wie schwerwiegend war der Fehler, der ihm gerade unterlaufen war? Eine Stunde noch, bestenfalls ein bisschen länger, und im Wald wäre es vollkommen dunkel. Würde jemand Alarm schlagen? Würde ihn jemand vermissen? Würde Roar Parra einfach nach Hause gehen? Würde Carole Gilbert die Tür abschließen und ein weiteres Scheit aufs Feuer legen?

Dann spürte er eine Hand auf seinem Gesicht und riss den Kopf hoch. Doch die Hand hielt ihn zurück. Nicht gewaltsam, aber entschlossen. Beauvoirs Augen flogen auf und blickten in sehr blaue.

»Nicht bewegen. Bleiben Sie einfach so.«

Der Mann war alt. Sein Gesicht ausgezehrt, aber die Augen wach. Seine bloße Hand, die Beauvoirs Gesicht berührt hatte, glitt jetzt rasch unter den Schal und den Rollkragen zu Beauvoirs Puls.

»Schhh«, zischte der Mann sanft. Und Beauvoir blieb still.

Er wusste, wer der Mann war. Vincent Gilbert. Dr. Gilbert.

Das Arschloch.

Aber Gamache und Myrna, Old Mundin und andere behaupteten, er sei auch ein Heiliger.

Davon hatte Beauvoir nichts mitbekommen. Ihm war der Kerl durch und durch als ein Arschloch erschienen, als sie im Mord des Eremiten ermittelt hatten.

»Kommen Sie mit.« Gilbert langte über Beauvoir hinweg und machte den Motor des Schneemobils aus, dann legte er seine langen Arme um ihn und half ihm behutsam hoch. Langsam gingen die zwei Männer den Weg entlang. Gelegentlich blieb Beauvoir stehen, um Atem zu schöpfen. Einmal musste er sich übergeben. Gilbert säuberte ihm mit seinem Schal das Gesicht und wartete. Und wartete. Im Schnee und in der Kälte. Bis Beauvoir weitergehen konnte. Dann humpelten sie vorsichtig und wortlos tiefer in den Wald hinein, Beauvoir mit seinem ganzen Gewicht auf das große, nicht mehr ganz junge Arschloch gestützt.

Mit geschlossenen Augen konzentrierte sich Beauvoir ganz darauf, einen tapsenden Fuß vor den anderen zu setzen. Er spürte den von seiner Flanke ausstrahlenden Schmerz, aber auch den Kuss der Schneeflocken auf seinem Gesicht. Darauf versuchte er sich zu konzentrieren. Dann änderten sich seine Eindrücke. Sein Gesicht wurde nicht mehr von Schnee berührt, das Geräusch seiner Schritte wurde jetzt von Holz zurückgeworfen.

Sie waren in der Blockhütte. Fast weinte er, vor Erleichterung und Erschöpfung.

Als er beim Betreten der Hütte die Augen öffnete, sah er, scheinbar meilenweit entfernt auf der anderen Seite des einzigen Raums, ein großes Bett. Mit einer warmen Daunendecke und weichen Kissen darauf.

Und Beauvoir hatte nur noch einen Wunsch: durch diesen Raum, so viel größer, als er ihn in Erinnerung hatte, zu dem Bett auf der anderen Seite zu kommen.

»Gleich haben wir es geschafft«, flüsterte Dr. Gilbert.

Beauvoir starrte das Bett an, als wollte er es mit bloßer Willenskraft dazu bringen, ihm entgegenzukommen, als er und Gilbert sich über die hölzernen Bodendielen schleppten. Und dann, endlich. Endlich da.

Dr. Gilbert setzte ihn auf die Bettkante, und während Beauvoir in sich zusammensank, sein Kopf dem Kissen entgegentaumelte, hielt ihn der Doktor aufrecht und zog ihn aus.

Erst dann ließ er Beauvoir langsam auf das Bett sinken. Sein müder Kopf kam auf dem Kissen zum Liegen, und die weichen Flanelllaken wurden eng um ihn geschlagen und endlich, endlich auch die Daunendecke.

Und Beauvoir nickte ein, roch süßen Ahornrauch und selbstgemachte Suppe vom Herd und spürte, wie ihn die Wärme umhüllte, während draußen vor dem Fenster der Schnee höher wurde und die Dunkelheit nahte.

Wenige Stunden später erwachte Beauvoir und kam langsam wieder zu Bewusstsein. Seine Flanke schmerzte immer noch, als ob ihm jemand mit aller Kraft in die Seite getreten hätte, aber die Übelkeit war verflogen. Ihm war eine Wärmflasche ins Bett gelegt worden. Er drückte sie fest an seinen Bauch, krümmte sich mit dem Körper um sie.

So lag er schläfrig und träge im Bett, und allmählich begann er, seine Umgebung schärfer zu sehen.

Vincent Gilbert saß in einem großen Sessel am Kamin. Auf dem Tisch neben ihm stand ein Glas Rotwein, seine Füße ruhten in Pantoffeln auf einem Schemel, und er las ein Buch.

Das Innere der Blockhütte kam ihm zugleich vertraut und verändert vor. Die Wände waren immer noch aus Holzbalken, Fenster und Herd unverändert. Auf dem Boden lagen Teppiche, aber nicht mehr die schönen, handgeknüpften des Eremiten, sondern schlichte Flickenteppiche, ebenfalls von Hand gemacht, aber wesentlich rustikaler.

An den Wänden hingen ein paar Bilder, aber nicht die Meisterwerke, die der Eremit in der Hütte versteckt hatte. Es waren Werke von Quebecer Künstlern. Schön, aber nichts Besonderes.

Das Glas, aus dem Dr. Gilbert trank, sah wie ein gewöhnlicher Trinkbecher aus, keines dieser Kristallgläser, die sie nach dem Mord hier gefunden hatten.

Die größte Veränderung war jedoch, dass Dr. Gilbert eine Lampe, eine elektrische Lampe hatte, während dem Eremiten Kerzenleuchter aus Silber, Gold und feinstem Porzellan als Lichtquelle gedient hatten. Und auf dem Tisch neben Gilbert sah Beauvoir ein Telefon stehen.

Um die primitive kleine Hütte mit Strom zu versorgen, war tief in den Wald hinein eine Leitung verlegt worden.

Dann fiel Beauvoir ein, warum er den Ausflug in den Wald unternommen hatte.

Um noch einmal den Ort zu sehen, an dem der Mord begangen worden war. Er schaute in Richtung Tür und sah einen Teppich auf dem Boden. Genau da, wo der Blutfleck gewesen war. Vielleicht immer noch war.

Der Tod war in diese friedliche kleine Hütte gekommen, aber in welcher Gestalt? In der von Olivier oder von jemand anderem? Und wovon getrieben? Wie ihnen Chief Inspector Gamache immer wieder eingeschärft hatte, ging es bei einem Mord nie um eine Pistole oder ein Messer oder einen Schlag auf den Kopf, sondern darum, was den Täter zu seiner Tat getrieben hatte.

Was hatte den Einsiedler das Leben gekostet? Habgier, wie die Staatsanwaltschaft und Gamache geltend gemacht hatten? Oder etwas anderes? Angst? Wut? Rache? Eifersucht?

Die in der Hütte gefundenen Kunstschätze waren zwar außergewöhnlich gewesen, aber nicht der erstaunlichste Aspekt des Falls. In der Blockhütte war noch etwas anderes aufgetaucht, etwas wesentlich Beunruhigenderes.

Ein Wort, eingewebt in ein Spinnennetz. Oben, in einer Ecke der Hütte, wo das Dunkel am tiefsten war.

Woo.

Das Wort war auch unbeholfen in ein blutgetränktes Stück Holz geritzt worden. Es war dem Toten aus der Hand gefallen und unters Bett gekullert. Ein kleines hölzernes Wort. Woo.

Aber was bedeutete es?

Hatte es der Eremit in das Holzstück geritzt?

Das war wenig wahrscheinlich, denn er war ein hervorragender Schnitzer gewesen. Und das hölzerne Woo wirkte sehr unbeholfen, wie das Werk eines Kindes.

Die Anklage hatte plädiert, dass Olivier das Wort Woo in das Spinnennetz geflochten und in das Holz geritzt hatte, um dem Einsiedler solche Angst zu machen, dass er sich noch mehr in seiner Hütte verkroch. Und am Ende hatte Olivier tatsächlich zugegeben, dass das seine Absicht gewesen war, dass er den verrückten alten Mann in dem Eindruck hatte bestärken wollen, dass die Welt da draußen gefährlich war, voller Dämonen und Furien.

Das Chaos nähert sich, Old Son, hatte der Eremit Olivier am letzten Abend seines Lebens ins Ohr geflüstert. Olivier hatte ganze Arbeit geleistet. Der Eremit hatte tatsächlich Todesangst gehabt.

Aber obwohl Olivier alles andere zugab, stritt er zwei Dinge hartnäckig ab.

Dass er den Einsiedler getötet hatte.

Und dass er für das Wort Woo verantwortlich war.

Das Gericht hatte ihm nicht geglaubt. Olivier war für schuldig befunden und zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden. Chief Inspector Gamache hatte das Belastungsmaterial gegen seinen Freund mit schmerzender Gründlichkeit zusammengetragen. Und Inspector Beauvoir hatte sich mit voller Überzeugung daran beteiligt.

Und jetzt bat ihn der Chef, den Fall noch einmal zu zerpflücken und wieder neu zusammenzusetzen. Nur sollte er diesmal das Beweismaterial unter dem Gesichtspunkt betrachten, ob es Olivier vielleicht entlastete und auf jemand anders deutete.

Zum Beispiel auf den Mann, der jetzt mit ihm in der Blockhütte war.

Gilbert blickte auf und lächelte.

»Hallo.« Er klappte das Buch zu und stand langsam auf. Beauvoir musste sich erst in Erinnerung rufen, dass dieser große, schlanke Mann mit dem weißen Haar und dem forschenden Blick schon Ende siebzig war.

Gilbert setzte sich auf die Bettkante und lächelte aufmunternd. »Darf ich?«, fragte er, bevor er Beauvoir berührte. Beauvoir nickte. »Ich habe mit Carole telefoniert und ihr gesagt, dass Sie über Nacht bleiben«, fuhr Dr. Gilbert fort und zog die Daunendecke nach unten. »Sie ruft in der Pension an und sagt Gabri Bescheid. Damit er sich keine Sorgen macht.«

»Merci

Gilbert drückte mit seinen warmen Händen auf Beauvoirs Bauchdecke.

In den letzten zwei Monaten war Beauvoir unzählige Male abgetastet worden, vor allem in den ersten Tagen. Es war zu seinem neuen Wecker geworden. Alle paar Stunden war er aus seinem Medikamentetran gerissen worden, weil sich wieder jemand mit seinen kalten Händen an seinem Bauch zu schaffen gemacht hatte.

Niemand hatte sich wie Gilbert angefühlt. Ein paarmal zuckte Beauvoir zusammen, obwohl er sich vorgenommen hatte, sich zu beherrschen. Doch der Schmerz überrumpelte ihn. Sobald er Anzeichen von Unbehagen zeigte, hielt Gilbert in seiner Untersuchung inne und ließ Beauvoir zu Atem kommen. Erst dann machten seine Hände weiter.

»Wahrscheinlich hätten Sie den Ausflug mit dem Schneemobil bleiben lassen sollen.« Lächelnd zog Gilbert das Bettzeug und die Daunendecke wieder hoch. »Aber das wissen Sie wahrscheinlich selbst. Die Kugel hat einigen Schaden angerichtet. Die langfristigen Folgen sind vor allem auf eine Art Druckwelle zurückzuführen, die der Einschlag ausgelöst hat. Haben Ihnen das die Ärzte erklärt?«

Beauvoir schüttelte den Kopf.

»Vielleicht hatten sie zu viel zu tun. Die Kugel hat Ihre Flanke glatt durchschlagen. Wahrscheinlich haben Sie eine Menge Blut verloren.«

Beauvoir nickte und versuchte, die Erinnerungen in Schach zu halten.

»Zwar wurden Ihre inneren Organe nicht getroffen«, fuhr Dr. Gilbert fort, »aber das umgebende Gewebe wurde durch die Druckwellen, die der Einschlag ausgelöst hat, stark in Mitleidenschaft gezogen. Und das spüren Sie, wenn Sie sich, wie heute Nachmittag, überanstrengen. Aber die Verletzungen verheilen gut.«

»Merci«, sagte Beauvoir. Es half, die Gründe zu verstehen.

Und in diesem Moment wusste Beauvoir, dass der Mann ein Heiliger war. Er war von mehr als genug Ärzten und Ärztinnen abgetastet worden. Alle Heiler, alle mit den besten Absichten, einige behutsam, andere grob. Alle machten ihm klar, dass sie wollten, dass er am Leben blieb, aber keiner hatte ihm das Gefühl vermittelt, dass sein Leben kostbar war. Wert, gerettet zu werden. Überhaupt etwas wert.

Vincent Gilbert tat das. Seine Behandlung zielte nicht nur auf die Heilung von Fleisch und Blut und Knochen ab.

Gilbert klopfte die Bettdecke zurecht und wollte schon aufstehen, hielt aber noch einmal inne und griff nach einem kleinen Pillenfläschchen auf dem Nachttisch. »Das habe ich in Ihrer Tasche gefunden.«

Beauvoir griff danach, aber Gilbert schloss seine Hand darum und sah Beauvoir prüfend an. Es kam zu einer langen Pause. Schließlich gab Gilbert nach und öffnete seine Faust. »Seien Sie vorsichtig damit.«

Beauvoir nahm das Fläschchen und schüttelte eine Pille heraus.

»Lieber nur eine halbe«, sagte Gilbert und griff danach.

Beauvoir beobachtete, wie Dr. Gilbert die kleine Oxygesic-Tablette geschickt in zwei Teile brach.

»Ich habe sie nur für den Fall«, sagte Beauvoir und schluckte die winzige Tablettenhälfte, als Gilbert ihm einen sauberen Pyjama reichte.

»Für den Fall, dass Sie auf dumme Gedanken kommen?«, fragte Gilbert lächelnd. »Dann sollten Sie sich aber lieber eine zweite Packung besorgen.«

»Ha ha.« Doch Beauvoir spürte bereits, wie sich die Wärme ausbreitete und die Schmerzen nachließen und jede Spitze, die vielleicht in Gilberts Bemerkung mitschwang, verflog.

Als er sich anzog, beobachtete Beauvoir, wie der Doktor in der Küche zwei Schalen mit Suppe füllte und frisch gebackenes Brot aufschnitt.

»Heute Abend spielen doch Les Canadiens?« Gilbert kam mit dem Essen zurück und half Beauvoir, im Bett eine bequeme Stellung zu finden. »Möchten Sie das Spiel ansehen?«

»Ja, gern.«

Wenig später aßen sie Suppe und Baguette und verfolgten, wie die Montréal Canadiens die New York Rangers vom Eis fegten.

»Zu salzig«, schimpfte Gilbert. »Ich habe Carole extra gesagt, das Essen nicht so stark zu salzen.«

»Ich finde die Suppe genau richtig.«

»Dann haben Sie keinen Geschmack. Mit Poutine und Burgern aufgewachsen.«

Beauvoir sah Dr. Gilbert in der Erwartung an, ihn lächeln zu sehen. Doch sein einnehmendes Gesicht war verdrossen und wütend. Verwöhnt, launisch, zickig.

Das Arschloch war zurück. Oder war es die ganze Zeit da gewesen, in der trügerisch entspannten Gesellschaft des Heiligen?

Heimliche Fährten

Подняться наверх