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Am Fuß der Leiter angelangt, sah sich Gamache um. Es waren mehrere Industrieleuchten aufgestellt worden, und aus einer der Kammern kam helles Licht. Wie alle anderen wurde auch er davon angezogen. Doch er widerstand der Versuchung und schaute stattdessen in das Dunkel, um seine Augen daran zu gewöhnen.

Wenig später sah er, was Männer und Frauen im Lauf mehrerer Hundert Jahre gesehen hatten. Ein niedriges steinernes Kellergewölbe, ein sous-sol, wie es auf Französisch hieß. Kein Sonnenstrahl war je dorthin vorgedrungen, nur Dunkelheit, hin und wieder durchbrochen von Kerzenschein, Walöllampen, Gaslaternen und nun zu guter Letzt von blendend hellen elektrischen Scheinwerfern. Greller als die Sonne, hier heruntergebracht, um die dunkelste aller Taten sichtbar zu machen.

Das Auslöschen eines Menschenlebens.

Und nicht nur irgendein Menschenleben, das von Augustin Renaud.

Ungeachtet seiner Paranoia hatte Porter Wilson recht, fand Gamache. Die Leute, die Québecs Unabhängigkeit von Kanada wollten, wären begeistert. Alles, was ein schiefes Licht auf die englischsprachige Bevölkerung warf, war Wasser auf die Mühlen der Separatisten. Zumindest auf die der radikalen Gruppierungen. Die überwältigende Mehrheit der Separatisten, wusste Gamache, waren maßvolle, vernünftige, anständige Menschen. Aber einige waren ganz schön verrückt.

Die Decke des Vorraums, in dem Gamache und sein junger Führer standen, war niedrig, wenn sie das auch nicht unbedingt für die Menschen gewesen war, die sie gebaut hatten. Aufgrund schlechter Ernährung und harter Lebensbedingungen waren sie einige Zentimeter kleiner gewesen. Trotzdem, vermutete Gamache, hätten sich die meisten geduckt, wie er das jetzt tat. Der Boden war aus Erde, und es war kühl, aber nicht kalt hier unten. Sie waren deutlich unter der Frostgrenze, unter der Sonne, aber auch unter der gefrorenen Erde. In einer Art schwelendem Fegefeuer, nie heiß, nie kalt.

Der Chief Inspector berührte die grobe Steinwand, fragte sich, wie viele längst verstorbene Männer und Frauen sie ebenfalls berührt hatten, als sie hier heruntergekommen waren, um Wurzelgemüse aus dem Keller zu holen. Um hungernde Häftlinge bis zu ihrer Hinrichtung am Leben zu halten.

Von der kleinen Kammer ging ein Raum ab. Der Raum mit dem Licht.

»Nach Ihnen«, sagte Gamache und folgte dem Polizisten.

Drinnen mussten sich seine Augen erneut an die Lichtverhältnisse gewöhnen, aber diesmal brauchten sie nicht so lang. Einige der großen Industrielampen waren so ausgerichtet, dass ihr Licht vom steinernen Deckengewölbe und den Wänden zurückgeworfen wurde, aber die meisten leuchteten direkt in eine Ecke des Raums. Und in dieser Ecke waren eine Handvoll Männer und Frauen damit beschäftigt, Fotos zu machen, Proben zu nehmen, etwas zu inspizieren. Was das war, konnte Gamache nicht erkennen, aber er konnte es sich vorstellen.

Eine Leiche.

Inspector Langlois richtete sich auf, klopfte sich den Schmutz von den Knien und kam auf ihn zu. »Gut, dass Sie doch gekommen sind.«

Sie schüttelten sich die Hände.

»Zuerst war ich unschlüssig. Aber dann hat mich auch Madame MacWhirter gebeten herzukommen. Als eine Art Schlichter zwischen den Anglos und Ihnen.«

Langlois grinste. »Hält sie das wirklich für nötig?«

»Wollten Sie das denn nicht auch?«

Der Inspector nickte. »Natürlich. Und ich bin froh, dass Sie hier sind. Aber sollten wir es nicht lieber auf inoffizieller Ebene belassen? Können wir Sie einfach als eine Art Berater betrachten?« Langlois blickte hinter sich. »Möchten Sie ihn sich mal anschauen?«

»S’il vous plaît.«

Es war ein Anblick, der dem Chief Inspector vertraut war. Ein Polizeiteam in der Anfangsphase eines Ermittlungsverfahrens, bei der Aufnahme von Beweisen, die eines Tages einen Mann oder eine Frau des Mordes überführen würden. Der Rechtsmediziner richtete sich gerade auf. Es war ein junger Arzt aus dem Hôtel-Dieu-Krankenhaus, wo es eine Zweigstelle der Quebecer Rechtsmedizin gab. Seiner Gefasstheit nach zu schließen, hatte er Erfahrung.

»Damit wurde er von hinten niedergeschlagen.« Der Arzt deutete auf eine halb im Boden vergrabene Schaufel neben der Leiche. Er richtete sich beim Sprechen an Inspector Langlois, schaute aber immer wieder kurz zu Gamache. »Ziemlich simpel das Ganze. Ein paar Schläge von hinten. Sonst scheint es keine Spuren von Gewalteinwirkung zu geben, aber um das mit Sicherheit sagen zu können, muss ich ihn mir erst auf dem Seziertisch ansehen.«

»Wie lang ist er schon tot?«, fragte Langlois.

»Zwölf Stunden, plus/minus eine Stunde. Was die Umgebung angeht, haben wir Glück. Absolut konsistent. Kein Schnee oder Regen, keine Temperaturschwankungen. Erkläre ich Ihnen später alles genauer.« Er wandte sich ab, packte seine Sachen zusammen, nickte Langlois und Gamache zu. Doch statt zu gehen, blieb er stehen und blickte sich im Keller um.

Er schien nicht gehen zu wollen. Als Langlois ihn fragend ansah, legte der junge Arzt etwas von seinem offiziellen Gehabe ab und rückte damit heraus.

»Möchten Sie, dass ich bleibe?«

»Warum?«, fragte Langlois in wenig einladendem Ton.

Aber der Arzt ließ nicht locker. »Sie wissen schon.«

Jetzt wandte sich ihm Inspector Langlois ganz zu.

»Nein, weiß ich nicht.«

»Na ja«, stotterte der Arzt. »Für den Fall, dass Sie noch was finden.«

Gamache spürte, wie der Inspector neben ihm erstarrte. Er neigte sich ihm zu und flüsterte: »Vielleicht sollte er tatsächlich bleiben.«

Als Langlois darauf mit verhärteter Miene nickte, trat der Rechtsmediziner aus dem Lichtkegel in die scharf abgegrenzte Dunkelheit. Und wartete dort.

Für den Fall.

Alle Anwesenden wussten, für welchen Fall.

Chief Inspector Gamache trat auf die Leiche zu. Das grelle Licht überließ nichts der Phantasie. Es wurde von der schmutzigen Kleidung des Toten zurückgeworfen, von seinem langen strähnigen weißen Haar, von seinem verzerrten Gesicht. Von seinen über Resten von Erde eng verschränkten Händen. Von den grauenhaften Verletzungen an seinem Kopf.

Gamache kniete neben ihm nieder.

Ja, er war es unverkennbar. Der auffällige schwarze Schnurrbart, in krassem Gegensatz zu den weißen Haaren. Die langen, buschigen Augenbrauen, die von Karikaturisten so gern gezeichnet wurden. Die Knollennase und die wilden, fast irren blauen Augen. Sogar im Tod durchdringend.

»Augustin Renaud«, sagte Langlois. »Keine Frage.«

»Und Samuel de Champlain?«

Gamache hatte laut ausgesprochen, was jeder in diesem Raum, jeder in diesem sous-sol, jeder in diesem Gebäude dachte. Aber niemand in Worte gefasst hatte. Das »für den Fall«.

»Irgendwelche Spuren von ihm?«

»Noch nicht«, sagte Langlois unfroh.

Denn wo Augustin Renaud war, war immer noch jemand.

Samuel de Champlain. Obwohl fast vierhundert Jahre tot, klammerte er sich an Augustin Renaud.

Champlain, der Québec 1608 gegründet hatte, war lange tot und begraben.

Bloß wo?

Das war die große Frage, die die Quebecer nicht losließ. Irgendwie war ihnen im Lauf der Jahrhunderte ihr Gründervater abhandengekommen.

Sie wussten, wo untere Chargen aus dem frühen 17. Jahrhundert begraben waren, Lieutenants und Captains von Champlains Brigade. Sie hatten unzählige Missionare exhumiert und wieder begraben. Für die Pioniere, die Farmer, die Nonnen, die ersten habitants war gesorgt. Mit ehrwürdigen Gräbern und Grabsteinen, besucht von Schulkindern, an Jahrestagen von Priestern, von Touristen und Fremdenführern. Die Quebecer waren vertraut mit Namen wie Hébert, Frontenac und Marie de l’Incarnation, und es waren zahllose Geschichten über deren Selbstlosigkeit und Tapferkeit in Umlauf.

Aber einer fehlte. Die sterblichen Überreste von einem fehlten.

Vom Vater Québecs, dem meistverehrten, verdientesten, couragiertesten, dem ersten Quebecer.

Samuel de Champlain.

Und ein Mann hatte sein ganzes Erwachsenenleben lang versucht, ihn zu finden. Augustin Renaud hatte unter weiten Teilen der Altstadt von Quebec City geschaufelt und gehackt und Tunnel gegraben und war jedem noch so abstrusen Anhaltspunkt gefolgt.

Und hier war er jetzt, unter der Literary and Historical Society, der Bastion des anglophonen Québec. Mit einer Schaufel.

Selbst tot. Ermordet.

Warum war er hier? Darauf schien es nur eine Antwort zu geben.

»Soll ich den Premierminister verständigen?«, fragte Langlois Gamache.

»Ja. Den Premierminister und den Minister for Public Security. Den Chief Archeologist. Die Voice of English-Speaking Québec. Die Saint-Jean-Baptiste Society. Die Parti Québécois.« Gamache sah Langlois streng an. »Dann müssen Sie eine Pressekonferenz anberaumen und die Öffentlichkeit verständigen. In gleichem Umfang. Gleichzeitig.«

Der Vorschlag erstaunte Langlois sichtlich. »Halten Sie es nicht für besser, die Sache eher herunterzuspielen? Ich meine, es ist nur Augustin Renaud, nicht der Premierminister. Der Mann war ein Spinner. Niemand hat ihn ernst genommen.«

»Aber seine Suche hat man ernst genommen.«

Inspector Langlois sah Gamache an, sagte aber nichts.

»Sie können natürlich machen, was Sie wollen«, sagte der Chief Inspector, der durchaus Verständnis für den Mann hatte. »Aber als Ihr Berater rate ich Ihnen das. Sagen Sie es allen, und sagen Sie es ihnen schnell, bevor militante Einzelpersonen anfangen, Gerüchte zu verbreiten.«

Gamache schaute vom Rand des blendend hellen Lichtkegels in die dunklen Gewölbe hinter dem Hauptkeller.

War Samuel de Champlain in diesem Moment hier? Armand Gamache, der sich ausführlich mit der Geschichte Québecs befasst hatte, spürte einen frisson, einen Schauder.

Und wenn es schon ihm so ging, dachte er, wie würde es dann erst anderen gehen?

Elizabeth MacWhirter fühlte sich krank. Sie kehrte dem Fenster den Rücken zu, einem Fenster und einem Blick, der ihr immer Freude bereitet hatte. Bis jetzt. Immer noch sah sie durch das Fenster die vertrauten Blechdächer, die Schornsteine, die soliden Feldsteinhäuser, den mittlerweile dichter fallenden Schnee, aber sie sah auch die TV-Übertragungswagen und die Fahrzeuge mit den Logos von Radiosendern. Sie sah Männer und Frauen, die sie aus dem Fernsehen und von Fotos in Le Soleil und La Presse kannte. Journalisten. Und nicht von der Boulevardpresse. Nicht nur von Allô Police, obwohl die auch da waren. Nein, seriöse Kommentatoren.

Sie standen vor dem Gebäude, hatten sich, von Kameras umzingelt, im Scheinwerferlicht aufgereiht und berichteten der Provinz von ihren Eindrücken. Elizabeth MacWhirter fragte sich, was sie sagten.

Etwas Gutes konnte es nicht sein, nur verschiedene Grade von schlimm.

Sie hatte die Mitglieder der Bibliothek angerufen, um ihnen das Wenige mitzuteilen, was ihr zu Ohren gekommen war. Es hatte nicht lang gedauert.

Augustin Renaud ist im Keller gefunden worden. Ermordet. Gebt es an die anderen weiter.

Wieder schaute sie aus dem Fenster auf die rasch zusammenströmenden Reporter und den Schnee hinaus, ein regelrechter Sturm von beidem. Sie stöhnte.

»Was hast du denn?«, fragte Winnie, die zu ihrer Freundin ans Fenster gekommen war. »Ach so.«

Gemeinsam beobachteten sie, wie Porter Wilson die Treppe hinunterstieg, auf die drängelnden Reporter zuging und etwas abhielt, was auf eine Pressekonferenz hinauslief.

»O je«, seufzte Winnie. »Glaubst du, ich könnte ihn hiermit treffen?« Sie wog den ersten Band des Shorter Dictionary in der Hand.

»Du willst das Buch nach ihm werfen?« Elizabeth grinste.

»Nur schade, dass niemand der Bibliothek mal einen Bogen und ein paar Pfeile gespendet hat.«

Inspector Langlois saß am Kopfende des langen Holztischs in der Bibliothek der Literary and Historical Society. Der Raum war gleichzeitig intim und repräsentativ. Er roch nach Vergangenheit, nach einer Zeit, als es noch keine Computer gab und Informationen noch nicht »gegoogelt« oder »gebloggt« wurden. Als es noch keine Laptops und BlackBerries und all die anderen Tools gab, die Informationen mit Wissen verwechselten. Es war eine alte Bibliothek, voller alter Bücher und verstaubter alter Gedanken.

Sie war ruhig und behaglich.

Es war lange her, dass Inspector Langlois in einer Bibliothek gewesen war. Seit seiner Schulzeit nicht mehr. Einer Zeit neuer Erfahrungen und Aromen, die er für immer damit in Verbindung bringen würde. Sportsocken. In Schließfächern vergammelnde Bananen. Schweiß. Old-Spice-Rasierwasser. Herbal-Essence-Shampoo in den Haaren von Mädchen, die er geküsst hatte und mehr. Ein Geruch so süß, so mit Sehnsucht aufgeladen, dass er immer noch körperlich darauf reagierte, wenn er ihm in die Nase stieg.

Und Bibliotheken. Still. Ruhig. Ein Rückzugsort vor dem Tumult eines Teenagerlebens. Als die Herbal-Essence-Mädchen sich losgerissen und sich über ihn lustig gemacht hatten, als die Sportsockenjungs ihn geschubst hatten und er lachend zurückgeschubst hatte. Raufend. Den Schrecken hinter wilden Augen versteckt.

Er erinnerte sich, wie es sich angefühlt hatte, sich in die Bibliothek zurückzuziehen, geschützt vor jeglichen Angriffen, aber umgeben von Dingen, weit gefährlicher als alles, was auf Schulfluren unterwegs war.

Denn hier waren Gedanken untergebracht.

Der junge Langlois hatte sich gesetzt und sich diese Macht angeeignet. Die Macht, die man bekam, wenn man über Informationen, Wissen, kluge Gedanken verfügte und über einen Ort der Ruhe, an dem man das alles anhäufen konnte.

Inspector Langlois von der Mordkommission von Quebec City ließ den Blick durch die zweigeschossige Bibliothek mit ihrem gedrechselten Holz und den alten Folianten wandern und dachte über die Leute nach, die er gleich vernehmen würde. Leute, die zu all diesen Büchern, all dieser Ruhe, all dieser Macht Zugang hatten.

Anglos.

Rechts von ihm saß sein Assistent und machte sich Notizen. Links von ihm saß der Mann, den er bis zu diesem Tag nur aus der Ferne oder im Fernsehen gesehen oder Statements abgeben gehört hatte. Bei Gerichtsverhandlungen, öffentlichen Anhörungen, Talkshows. Und bei den Begräbnissen vor sechs Wochen. Aus der Nähe sah Chief Inspector Gamache anders aus. Langlois hatte ihn immer nur im Anzug und mit sauber gestutztem Schnurrbart gesehen. Jetzt trug der Mann nicht nur Strickjacke und Cordhose, sondern auch einen Vollbart. Mit grauen Strähnen. Und eine Narbe über der linken Schläfe.

»Alors«, begann Langlois. »Bevor der Erste reinkommt, sollten wir noch mal durchgehen, was wir bisher wissen.«

»Das Opfer«, las sein Assistent von seinem Notizblock ab, »wurde als Augustin Renaud identifiziert. Alter: zweiundsiebzig Jahre. Seine nächsten Angehörigen wurden verständigt, ebenso eine Ex-Frau. Keine Kinder. Sie wird ihn noch offiziell identifizieren, aber es besteht kein Zweifel. Sein Führerschein und seine Gesundheitskarte weisen ihn als Augustin Renaud aus. In seiner Geldbörse waren fünfundvierzig Dollar in Scheinen, in seinen Hosentaschen drei Dollar und zweiundzwanzig Cent in Münzen. Als die Leiche vom Fundort entfernt wurde, wurden unter ihr weitere achtundzwanzig Cent gefunden, die vermutlich aus seiner Hosentasche gerutscht sind. Lauter neue Münzen. Alle kanadisch.«

»Gut«, sagte Langlois. »Weiter.«

Chief Inspector Gamache neben ihm hörte zu. Er hielt mit einer Hand die andere auf dem Tisch fest.

»Außerdem haben wir unter der Leiche eine Umhängetasche mit einem von ihm selbst gezeichneten Stadtplan Québecs gefunden.«

Auf diesem Stadtplan, der jetzt vor ihnen auf dem Tisch lag, waren sämtliche Areale der Stadt eingezeichnet, in denen Renaud auf der Suche nach Champlain Ausgrabungen durchgeführt hatte. Das Ganze war ergänzt durch teils Jahrzehnte zurückreichende Anmerkungen.

»Irgendwelche Ideen?«, fragte Langlois den Chief Inspector, als alle drei Männer den Plan studierten.

»Das hier finde ich interessant.« Gamaches Finger verharrte über einem weißen Fleck auf der Karte, auf der nur Häuser und Straßen eingetragen waren, die für Renauds Suche von Bedeutung gewesen waren. Stellen, an denen Samuel de Champlain hätte begraben sein können. Die Basilica, das Café Buade, mehrere Restaurants und Wohnhäuser, die das Pech gehabt hatten, von Renaud ins Visier genommen zu werden.

Es war, als hätte der Rest der herrlichen Altstadt für Augustin Renaud nicht existiert.

Und an der Stelle, auf die Gamaches Finger jetzt zeigte, war die Literary and Historical Society. Sie fehlte. Nicht eingetragen. Nicht existent in der um Champlain kreisenden Welt Renauds.

Langlois nickte. »Ist mir auch schon aufgefallen. Vielleicht ist er einfach noch nicht dazu gekommen, sie einzuzeichnen.«

»Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Gamache.

»Was glauben Sie?«

»Ich glaube, dass es ein Fehler wäre, sich von Renauds Leidenschaft auf eine falsche Fährte locken zu lassen. Möglicherweise hat dieser Mord gar nichts mit Champlain zu tun.«

»Warum hat er dann hier gegraben?«, fragte der junge Assistent.

»Gute Frage.« Gamache lächelte reuevoll. »An sich müsste ein Zusammenhang bestehen.«

»Allerdings.« Langlois packte den Stadtplan wieder in die Umhängetasche. Gamache fragte sich, warum Renaud nur wegen eines einzigen Blatts Papier die große Ledertasche dabeigehabt hatte.

»Sonst war da nichts drinnen?« Gamache deutete mit dem Kopf auf die Tasche in Langlois’ Hand. »Nur der Stadtplan?«

»Ja. Warum?«

»Er hätte den Plan in seine Hosentasche stecken können. Warum die Tasche?«

»Gewohnheit«, sagte der Assistent. »Wahrscheinlich hatte er sie immer dabei. Für den Fall, dass er was findet.«

Gamache nickte. Wahrscheinlich hatte er recht.

»Laut Aussagen des Rechtsmediziners wurde Renaud gestern Abend gegen elf mit der Schaufel erschlagen«, sagte Langlois. »Er fiel mit dem Gesicht voran auf die Erde, und es wurde der Versuch unternommen, ihn zu verscharren.«

»Nicht tief«, sagte der Assistent. »Nicht gründlich. Halten Sie es für möglich, dass er gefunden werden sollte?«

»Hier stellt sich die Frage, wie häufig jemand in den Keller geht«, sagte Langlois. »Das werden wir fragen müssen. Schicken Sie schon mal den Ersten rein, den Präsidenten.« Er zog seine Notizen zu Rate. »Porter Wilson.«

Wilson kam herein. Er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber er war schockiert, diese Bibliothek, seine Bibliothek, von der Polizei besetzt zu sehen.

Er hatte nichts gegen die Franzosen. Sonst wäre es auch gar nicht möglich, in Quebec City zu leben. Es wäre ein qualvolles Leben und eine unnötige Marter. Nein, Porter Wilson wusste, dass die Frankophonen entgegenkommend und offen, rücksichtsvoll und verlässlich waren. Die meisten. Radikale gab es auf beiden Seiten.

Und das war sein Problem. Tom Hancock, der Geistliche, hielt ihm das immer wieder vor. Dass er immer noch in »Seiten« dachte, egal, wie viele Jahre vergangen waren, egal, wie viele französische Freunde er hatte. Da spielte es auch keine Rolle, dass seine Tochter einen Frankophonen geheiratet hatte und seine Enkel auf französische Schulen gingen und er selbst perfekt Französisch sprach.

Trotzdem dachte er in »Seiten« und sah sich selbst als Außenseiter. Weil er ein Anglo war. Dennoch fühlte er sich genauso als Quebecer wie alle anderen im Raum. Seine Familie war schon seit Jahrhunderten hier. Er hatte länger in Québec gelebt als dieser junge Polizist oder der Mann am Kopfende des Tischs oder Chief Inspector Gamache.

Er war hier geboren, hatte sein ganzes Leben lang hier gelebt, würde hier begraben werden. Und dennoch, trotz all ihrer Freundlichkeit, würde er nie als Quebecer gelten, nie ganz dazugehören.

Außer hier. In der Literary and Historical Society, im Herzen der Altstadt. Hier war er zu Hause, in einer englischen Welt, geschaffen von englischen Wörtern, umgeben von den Büsten früherer bedeutender Anglos.

Doch heute, während seiner Wache, waren die Franzosen eingefallen und hatten die Lit and His besetzt.

»Bitte.« Inspector Langlois stand rasch auf und deutete auf einen Stuhl. Er sprach in seinem besten, mit einem starken Akzent behafteten Englisch. »Nehmen Sie doch Platz.«

Als ob Mr. Wilson eine Wahl hätte. Sie waren die Gastgeber und er der Gast. Er schluckte eine Entgegnung hinunter und setzte sich, allerdings nicht auf den angezeigten Stuhl.

»Wir hätten ein paar Fragen an Sie«, begann der Inspector und kam sofort zur Sache.

Im Lauf der nächsten Stunde vernahmen sie alle Anwesenden. Von Porter Wilson erfuhren sie, dass die Bibliothek jeden Abend um sechs abgeschlossen wurde und bei seiner Ankunft an diesem Morgen noch immer verschlossen gewesen war. Ihm war nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Langlois’ Leute hatten das große, alte Schloss der Eingangstür untersucht, und wenn es auch keinerlei Spuren aufwies, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte, hätte es ein cleverer Sechsjähriger ohne Schlüssel aufbekommen.

Eine Alarmanlage gab es nicht.

»Wozu bräuchten wir auch eine?«, hatte Porter Wilson mit einer Gegenfrage geantwortet. »Nicht einmal wenn wir geöffnet haben, kommt jemand. Weshalb sollte da jemand kommen, wenn wir geschlossen haben?«

Sie erfuhren, dass die Bibliothek der einzige Ort in der Altstadt von Quebec City war, wo man englische Bücher finden konnte.

»Und wie es scheint, haben Sie eine Menge davon«, sagte Gamache. »Als ich mich in den Fluren und Hinterzimmern der Bibliothek umgesehen habe, ist mir nicht entgangen, dass viele Bücher der Öffentlichkeit gar nicht zugänglich sind.«

Das war eine krasse Untertreibung, dachte er angesichts der überall herumstehenden Bücherkisten.

»Was soll das heißen?«

»Nichts. Es ist mir nur aufgefallen.«

»Das ist natürlich richtig«, gab Wilson widerstrebend zu. »Und es werden täglich mehr. Jedes Mal wenn jemand stirbt, hinterlässt er uns seine Bücher. Nur so erfahren wir überhaupt, dass jemand tot ist. Wenn eine Kiste mit wertlosen Büchern ankommt. Darauf ist mehr Verlass als auf die Todesanzeigen im Chronicle-Telegraph

»Sind sie alle wertlos?«, fragte Langlois.

»Na ja, einmal war ein schönes Buch mit Zeichnungen dabei.«

»Wann war das?«

»1926.«

»Können Sie nicht wenigstens ein paar davon verkaufen?«, fragte Gamache.

Porter Wilson starrte den Chief Inspector an. Gamache starrte zurück. Er konnte sich nicht erklären, was diesen plötzlich so giftigen Blick provoziert hatte.

»Soll das ein Witz sein?«

»Nein, Monsieur.«

»Wir können es einfach nicht. Einmal haben wir es versucht, aber die Mitglieder haben es nicht gutgeheißen.«

»1926?«, fragte Langlois.

Wilson antwortete nicht.

Als Nächste kam Winnie Manning an die Reihe und bestätigte, dass die Nacht wirklich eine Erdbeere sei, fügte aber hinzu, dass die Engländer gute Kürbisse seien und die Bibliothek eine besonders umfangreiche Abteilung für Matratzen und Matratzenkriegführung habe.

Sie wandte sich Gamache zu. »Das ist übrigens ein Thema, das Sie interessieren dürfte.«

»Stimmt«, gab der Chief Inspector zur Überraschung Langlois’ und seines Assistenten zu. Als Winnie gegangen war, um, wie sie sagte, eine neue Serie von Türknöpfen zu Wasser zu lassen, erklärte Gamache seinen Kollegen, was es damit auf sich hatte.

»Sie hat ›Marine‹ gemeint, nicht ›Matratzen‹.«

»Im Ernst?«, fragte der Assistent, der sich zwar Notizen gemacht, aber zugleich beschlossen hatte, sie sofort zu verbrennen, damit niemand denken könnte, er sei bekifft gewesen.

Winnies Platz wurde von Mr. Blake eingenommen.

»Stuart Blake«, stellte sich der alte Mann vor, als er auf dem ihm angebotenen Stuhl Platz nahm und sie mit höflichem Interesse ansah. Er war tadellos gekleidet, glattrasiert, das Gesicht rosig und weich. Die Augen wach. Er sah Gamache an und lächelte.

»Monsieur l’inspecteur.« Er neigte den Kopf. »Désolé. Ich hatte ja keine Ahnung, wer Sie sind.«

»Aber das Entscheidende wussten Sie«, sagte Gamache. »Dass ich diese großartige Bibliothek brauchte. Mehr mussten Sie nicht wissen.«

Mr. Blake lächelte, verschränkte die Hände und wartete. Die Ruhe in Person.

»Wenn mich nicht alles täuscht, verbringen Sie viel Zeit in der Bibliothek«, sagte Inspector Langlois.

»Das ist richtig. Schon viele Jahre, seit meiner Pensionierung.«

»Was haben Sie beruflich gemacht?«

»Ich war Anwalt.«

»Dann also Maître Blake«, sagte Langlois.

»Nein, bitte nicht. Ich bin schon lange im Ruhestand. ›Mister‹ genügt vollauf.«

»Wie lange engagieren Sie sich schon für die Literary and Historical Society?«

»Auf die eine oder andere Weise schon mein ganzes Leben lang. Und davor meine Eltern und Großeltern. Sie war die erste historische Gesellschaft des Landes, müssen Sie wissen. Schon vor den Nationalarchiven. Sie existiert seit 1824, aber damals war sie noch nicht in diesem Gebäude.«

»Dieses Gebäude«, griff Gamache den Anknüpfungspunkt auf, »blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück, nicht wahr?«

»Das kann man wohl sagen.« Mr. Blake wandte sich dem Chief Inspector zu. »Zur Literary and Historical Society wurde es erst 1868. Ursprünglich war es die Redoubt Royale, eine Kaserne. Auch Kriegsgefangene wurden hier untergebracht, hauptsächlich Amerikaner. Dann diente es als Gefängnis. Hier fanden öffentliche Hinrichtungen statt.«

Gamache sagte nichts, auch wenn er es interessant fand, dass es diesem gebildeten, kultivierten Mann Vergnügen zu bereiten schien, ihnen von derartiger Barbarei zu erzählen.

»Sie wurden gleich da draußen gehängt.« Er deutete in Richtung Eingangstür. »Wenn Sie an Gespenster glauben, sind Sie hier genau richtig.«

»Haben Sie welche gesehen?« Mit dieser Frage überraschte Gamache sowohl Langlois als auch den jungen Polizisten.

Blake zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Aber manchmal, wenn niemand hier ist, spüre ich ihre Anwesenheit.«

»Sind Sie oft hier, wenn sonst niemand hier ist?«, fragte Gamache freundlich.

»Manchmal. Ich finde es hier sehr friedlich. Wie Sie, wenn mich nicht alles täuscht.«

»C’est la vérité«, pflichtete ihm der Chief Inspector bei. »Allerdings habe ich keinen Schlüssel, um außerhalb der Öffnungszeiten herzukommen. Sie schon. Und Sie machen auch Gebrauch davon, nehme ich an.«

Wieder zögerte Mr. Blake. »Ja, aber nicht oft. Nur wenn ich nicht schlafen kann, weil mir etwas keine Ruhe lässt.«

»Wie was zum Beispiel?«, fragte Gamache.

»Zum Beispiel, welche Gräser auf Rum Island wachsen oder wann der letzte Quastenflosser gefangen wurde.«

»Und hat Sie so eine Frage auch gestern Nacht beschäftigt?«

Die zwei Männer sahen einander an. Schließlich lächelte Mr. Blake und schüttelte den Kopf.

»Nein. Gestern Nacht habe ich tief und fest geschlafen. Wie schon Shakespeare sagt, der beste Weg zu innerem Frieden ist ein reines Gewissen.«

Oder gar keines, dachte Gamache und beobachtete Mr. Blake aufmerksam.

»Kann das jemand bestätigen?«, fragte Inspector Langlois.

»Ich bin Witwer. Ich habe meine Frau vor acht Jahren verloren, deshalb nein, ich habe keine Zeugen.«

»Désolé«, sagte Langlois. »Aber, Mr. Blake, weshalb, glauben Sie, war Augustin Renaud gestern Nacht hier?«

»Liegt das nicht auf der Hand? Er muss gedacht haben, Champlain wäre hier begraben.«

Und da war sie. Die naheliegendste Antwort.

»Ist er das?«

Blake lächelte. »Nein, das würde mich sehr wundern.«

»Warum könnte er gedacht haben, dass Champlain hier liegt?«, fragte Langlois.

»Warum hat Augustin Renaud irgendetwas gedacht? Ist jemals jemand aus seiner Logik schlau geworden? Vielleicht hat er seinen Grabungen keine archäologischen Kriterien zugrunde gelegt, sondern alphabetische, und er ist gerade bei L angelangt. Das ergibt nicht mehr oder weniger Sinn als sonst eine seiner Überlegungen. Der arme Mann«, fügte Blake hinzu. »Ich nehme an, Sie werden dort unten graben?«

»Im Moment ist es noch ein Tatort.«

»Höchst eigenartig.« Mr. Blake sagte es fast zu sich selbst. »Was wollte Augustin Renaud ausgerechnet hier, in der Lit and His?«

»Und warum hat ihn jemand umgebracht?«, fragte Langlois.

»Hier«, fügte Gamache hinzu.

Schließlich wurde Elizabeth MacWhirter hereingerufen. Sie setzte sich.

»Was genau ist hier Ihr Job?«, fragte Langlois.

»Na ja, ›Job‹ trifft es vielleicht nicht ganz. Wir sind alle ehrenamtlich tätig. Früher wurden wir noch für unsere Tätigkeit bezahlt, aber die Regierung hat die finanziellen Mittel für Bibliotheken gekürzt, weshalb alles Geld, das wir bekommen, in die Instandhaltung fließt. Allein die Heizung ist eine Katastrophe, und wir haben gerade alle elektrischen Leitungen erneuern lassen. Hätten wir das nicht getan, hätten wir Mr. Renaud vielleicht nie gefunden.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Langlois.

»Als wir sämtliche Kabel neu haben verlegen lassen, haben wir auch die Telefonleitungen erneuert und im Keller unter der Erde verlegt. Wäre das Kabel nicht durchtrennt worden, hätten wir die Leiche nie gefunden. Sie wäre zubetoniert worden.«

»Pardon?«, sagte Langlois.

»Nächste Woche Montag sollten die Bauarbeiter anrücken.«

Die Männer sahen einander an.

»Wollen Sie damit sagen«, setzte der Inspector an, »wenn Renaud oder sein Mörder letzte Nacht beim Graben nicht die Telefonleitung durchtrennt hätte, wäre der gesamte Kellerboden betoniert worden? Sozusagen versiegelt?«

Elizabeth MacWhirter nickte.

»Wer wusste, dass das geplant war?«, fragte Langlois.

»Alle.« Sie ging zu einem Tisch, kam mit drei Broschüren zurück und verteilte sie. Auf dem Deckblatt war es angekündigt.

Strom- und Telefonleitungen sowie der Kellerboden sollten erneuert werden.

Chief Inspector Gamache faltete die Broschüre wieder zusammen, legte sie vor sich auf den Tisch und sah die schlanke alte Frau an.

»Hier steht, dass die Arbeiten durchgeführt werden sollen, aber nicht wann. Das Wann scheint mir allerdings bedeutsam.«

»Sie haben natürlich recht, Chief Inspector, aber der Zeitpunkt, zu dem mit den Renovierungsmaßnahmen begonnen werden sollte, war kein Geheimnis. Viele wussten darüber Bescheid. Der Vorstand, die ehrenamtlichen Mitarbeiter, die Bauarbeiter.«

»Woher haben Sie das Geld für diese Maßnahmen? Das muss einiges kosten.«

»Ja, es ist teuer«, gab sie zu. »Wir haben Zuschüsse und Spenden erhalten und Bücher verkauft.«

»Der Bücherbasar hat also vor nicht allzu langer Zeit stattgefunden«, sagte Langlois. »Wie wir von Monsieur Wilson erfahren haben, hat er nicht viel eingebracht.«

»Das ist noch eine Untertreibung«, sagte Elizabeth MacWhirter. »Es war eine Katastrophe. Wir haben ein paar Kisten voll verkauft, Bücher, die schon jahrzehntelang herumgestanden haben und immer mehr verstaubt sind. Eine Schande. Sie sollten in Sammlungen stehen, wo sie geschätzt werden, und nicht hier herumliegen. Und Gott weiß, wie dringend wir das Geld benötigen. Es erschien uns als die perfekte Lösung. Statt überflüssiger Bücher neue Leitungen.«

»Und warum wurde es ein Fehlschlag?«, fragte Gamache.

»Wegen der Community. Es wurde wohl beschlossen, dass wir nicht nur eine Bibliothek sind, sondern ein Museum, und jedes jemals gespendete Buch ein Schatz. Ich glaube, die Bücher wurden zu Symbolen.«

»Symbole wofür?«, fragte Gamache.

»Für den Wert der englischen Sprache, der englischen Kultur. Es wurden Befürchtungen laut, dass keinerlei Hoffnung mehr bestünde, wenn nicht einmal die Lit and His die englische Sprache, das geschriebene Wort zu schätzen wüsste. Bücher waren plötzlich nicht mehr nur Bücher, sondern Symbole für die englische Community. Sie mussten unbedingt erhalten werden. Sobald dieser Punkt einmal erreicht war, gab es keine Diskussion mehr. Und erst recht keine Bücherbasare.«

Gamache nickte. Sie hatte vollkommen recht. Von diesem Moment an war die Schlacht verloren. Danach blieb nur noch der Rückzug.

»Und deshalb haben Sie die Verkäufe eingestellt?«

»Ja. Deshalb stehen überall in den Fluren diese Kartons herum. Wenn noch ein alter Anglo stirbt, platzt die Literary and Historical Society aus allen Nähten.« Sie lachte, aber es war ein bitteres Lachen.

»Warum war Augustin Renaud Ihrer Meinung nach hier?«, fragte Langlois.

»Aus demselben Grund, den auch Sie vermuten. Er muss geglaubt haben, dass Champlain hier liegt.«

»Wie könnte er zu dieser Ansicht gelangt sein?«

Elizabeth MacWhirter zuckte mit den Achseln, und selbst das wirkte bei ihr kultiviert. »Warum hat er geglaubt, Champlain sei unter diesem chinesischen Restaurant begraben? Oder in dieser Grundschule? Warum hat Augustin Renaud irgendetwas gedacht?«

»Ist er jemals hierhergekommen?«

»Ja, gestern Nacht.«

»Ich meine, haben Sie ihn vorher schon einmal hier gesehen?«

Elizabeth MacWhirter zögerte.

»Im Gebäude selbst war er meines Wissens nie. Aber an der Eingangstür habe ich ihn gesehen. Gestern Morgen.«

Der junge Assistent war so perplex, dass tatsächlich etwas Relevantes gesagt worden war, dass er darüber fast vergaß, es zu Protokoll zu bringen. Doch dann legte sein Stift los.

»Und weiter?«

»Er wollte mit dem Vorstand sprechen.«

»Wann war das?«

»Gegen halb zwölf. Wir hatten die Tür abgeschlossen. Das tun wir bei einer Vorstandssitzung immer.«

»Er ist einfach unangekündigt aufgetaucht?«

»Ja.«

»Woher wusste er überhaupt von der Sitzung?«

»Wir haben eine Annonce in die Zeitung gesetzt.«

»Le Soleil

»In den Quebec Chronicle-Telegraph

»In den was?«

»In den Chronicle-Telegraph.« Elizabeth buchstabierte es für den Assistenten. »Er ist die älteste Zeitung Nordamerikas«, fügte sie automatisch hinzu.

»Und weiter?«, sagte der Inspector. »Er stand also plötzlich vor der Tür. Was ist dann passiert?«

»Er hat geklingelt, und Winnie ist öffnen gegangen und wieder zurückgekommen, um uns seine Bitte mitzuteilen. Sie hat ihn unten warten lassen, vor der Tür.«

»Und was haben Sie geantwortet?«

»Wir haben abgestimmt und beschlossen, ihn nicht zu empfangen. Einstimmig.«

»Warum nicht?«

Elizabeth MacWhirter überlegte. »Ich fürchte, wir sind für Neues, für jede Art von Veränderung schwer zu haben. Davon kann auch ich mich nicht ausnehmen. Wir haben uns in einem ruhigen und ereignislosen, aber sehr angenehmen Leben eingerichtet. Einem Leben, das auf Traditionen basiert. Wir wissen, dass sich jeden Dienstag ein Bridgeclub hier trifft, sie servieren Ingwerkekse und Orange-Pekoe-Tee. Wir wissen, die Reinigungskraft kommt am Donnerstag, und wir wissen, wo die Papierhandtücher aufbewahrt werden. Am selben Ort, an dem sie meine Großmutter aufbewahrt hat, als sie die Sekretärin der Lit and His war. Es ist kein aufregendes Leben, aber für uns hat es Bedeutung.«

Sie hielt inne und wandte sich Chief Inspector Gamache zu.

»Das alles hat Augustin Renauds Besuch zu gefährden gedroht«, sagte er.

Sie nickte.

»Wie hat er reagiert, als Sie sich geweigert haben, ihn vorzulassen?«, fragte Gamache.

»Ich bin nach unten gegangen, um es ihm zu erklären. Er war nicht erfreut, hat es aber akzeptiert und gesagt, dass er wieder kommen würde. Ich dachte nicht, dass das schon so bald wäre.«

Sie erinnerte sich, dass die massive Holztür nur einen Spaltbreit offen gestanden hatte, als wäre sie eine Nonne und er ein Sünder an der Klosterpforte. Sein weißes Haar hatte unter seiner Pelzmütze hervorgestanden und sein schwarzer Schnurrbart war von seinem wütend hervorgestoßenem Atem voller Raureif und Eiszapfen gewesen. Die blauen Augen nicht nur irr, sondern fanatisch.

»Sie können mich nicht aufhalten, Madame«, hatte er gesagt.

»Ich habe nicht die Absicht, Sie aufzuhalten, Monsieur Renaud«, hatte sie in der Hoffnung erwidert, dabei sachlich und freundlich zu klingen.

Aber sie hatten beide gewusst, dass sie log. Sie wollte ihn genauso dringend aufhalten, wie er nach drinnen wollte.

Als alle Vernehmungen beendet waren, kehrte Gamache ins Büro zurück. Dort saßen alle beim Tee zusammen.

»Willkommen in unserem kleinen Rettungsboot.« Elizabeth MacWhirter stand auf und lud ihn ein, Winnie, Porter Wilson und ihr Gesellschaft zu leisten. Sie deutete lächelnd auf die Teekanne. »Und das ist unser Treibstoff.«

Henri kam hechelnd auf Gamache zu, um ihn zu begrüßen.

»Hoffentlich hat er Ihnen nicht zu viele Umstände gemacht.« Gamache tätschelte Henris Flanke, dann setzte er sich und ließ sich eine Tasse starken Tee geben.

»Überhaupt nicht«, sagte Winnie. »Wie geht es jetzt weiter?«

»Mit den Ermittlungen? Sie werden den Obduktionsbefund abwarten und sich ausführlich mit Augustin Renauds Aktivitäten, mit seinen Freunden und Verwandten befassen. Wer Interesse an seinem Tod haben könnte.«

Sie saßen um den Tisch herum. Nicht gerade dicht aneinandergedrängt, aber viel fehlte nicht.

»Sie haben gesagt, Monsieur Renaud wollte den Vorstand sprechen.« Gamache wandte sich Elizabeth MacWhirter zu.

»Das hast du ihnen erzählt?« Wilsons Ton war noch schroffer als sonst. »Musste das sein?«

»Sie hatte keine Wahl«, sagte Gamache. »Sie alle hätten es uns erzählen sollen. Ihnen muss bewusst gewesen sein, dass es wichtig ist.« Er bedachte sie mit einem strengen Blick. »Sie wollten ihn zwar nicht vorlassen, aber hätten Sie sich irgendwann angehört, was er zu sagen hatte?«

Er wandte sich jetzt an Porter Wilson, merkte aber, dass alle Elizabeth MacWhirter ansahen, die still blieb.

»Irgendwann, vielleicht. Aber es hätte uns nichts gebracht, nur eine Menge …« Wilson suchte nach dem richtigen Wort. »Unannehmlichkeiten.«

»Monsieur Renaud hatte enorme Überzeugungskraft.« Gamache erinnerte sich an die erbitterten Kampagnen, die der Amateurarchäologe gegen jeden gestartet hatte, der ihm bei seinen Grabungen Steine in den Weg legte.

»Allerdings«, pflichtete ihm Wilson bei. Je mehr ihm die volle Tragweite der jüngsten Ereignisse bewusst wurde, umso erschöpfter wirkte er. Es war schon schlimm genug gewesen, dass Augustin Renaud unter der Lit and His nach Champlain hatte graben wollen, aber was dann passiert war, war noch schlimmer.

»Könnte ich das Sitzungsprotokoll sehen?«

»Es ist noch nicht fertig«, sagte Elizabeth MacWhirter.

»Ihre Notizen genügen vollauf.«

Er wartete. Schließlich reichte sie ihm ihren Notizblock, und er setzte seine Lesebrille auf. Er achtete beim Überfliegen des Protokolls vor allem darauf, wer an der Sitzung teilgenommen hatte.

»Hier sehe ich, dass Tom Hancock und Ken Haslam dabei waren, aber früher gegangen sind. Waren sie noch da, als Augustin Renaud aufgetaucht ist?«

»Ja«, sagte Wilson. »Sie sind kurz danach gegangen. Wir waren alle da.«

Gamache studierte das Protokoll weiter, dann schaute er Elizabeth MacWhirter über seine Brille hinweg an.

»Von Monsieur Renauds Besuch steht hier aber nichts.«

Elizabeth MacWhirter wich Gamaches Blick nicht aus. Als sie ihn um Hilfe gebeten hatte, hatte sie ganz offensichtlich nicht damit gerechnet, dass er ihnen so viele Fragen stellen würde, und vor allem nicht so unangenehme.

»Ich habe es ganz bewusst nicht vermerkt. Er hat ja auch nicht mit uns gesprochen. Es ist nichts geschehen.«

»Es ist eine ganze Menge geschehen, Madame«, sagte Gamache. Ihm war aber auch nicht entgangen, dass sie »ich« gesagt hatte, nicht »wir«. Versuchte sie, die Verantwortung von den anderen abzuwälzen? Nahm sie alles auf ihre Kappe? Oder war es tatsächlich ihre einsame Entscheidung gewesen?

Vielleicht saßen sie tatsächlich in einem Rettungsboot. Jedenfalls hatte Gamache inzwischen eine klare Vorstellung, wer der Kapitän war.

Heimliche Fährten

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