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Gabri saß in dem abgenutzten Sessel am prasselnden Feuer. Um sich herum im Bistro, das jetzt er führte, hörte er das vertraute Stimmengewirr der Mittagsgäste. Lachende, miteinander plaudernde Menschen. An einigen Tischen lasen die Leute still die Samstagszeitung oder ein Buch, andere waren zum Frühstück gekommen und blieben über Mittag und waren vielleicht auch zum Abendessen noch hier.

Es war ein ereignisloser Februarsamstag, mitten im tiefsten Winter, und das Bistro war erfüllt vom Gebrabbel der Unterhaltungen, untermalt vom Klappern von Besteck auf Porzellan. Seine Freunde Peter und Clara Morrow waren bei ihm, außerdem Myrna, der der Buchladen nebenan gehörte. Auch Ruth hatte versprochen zu kommen, was in der Regel hieß, dass sie nicht auftauchen würde.

Durch das Fenster konnte er sehen, dass das Dorf Three Pines unter einer dicken Schneeschicht lag, und es schneite immer noch. Ein Blizzard würde es nicht werden, dafür war der Wind nicht stark genug, aber Gabri rechnete mit mindestens dreißig Zentimetern Neuschnee. Das war das Problem mit dem Quebecer Winter. Er mochte harmlos und geradezu schön erscheinen, konnte einen aber überrumpeln.

Die Dächer der Häuser des Dorfs waren weiß, und aus den Schornsteinen stieg Rauch auf. Der Schnee lag hoch auf den immergrünen Gewächsen und den drei mächtigen Kiefern, die wie Wächter auf der anderen Seite des Dorfangers standen. Die vor den Häusern geparkten Autos waren weiße Buckel geworden, wie alte Grabhügel.

»Glaubt mir, diesmal werde ich es tun«, sagte Myrna und nahm einen Schluck von ihrer heißen Schokolade.

»Nein, wirst du nicht«, sagte Clara lachend. »Jeden Winter kündigst du es an und tust es dann doch nicht. Außerdem ist es längst zu spät.«

»Habt ihr nicht die Last-Minute-Angebote gesehen? Hier.« Myrna hielt ihrer Freundin den Reiseteil der Wochenendausgabe der Montreal Gazette hin und deutete auf eine Anzeige.

Clara las mit hochgezogenen Augenbrauen. »Hört sich wirklich nicht schlecht an. Kuba?«

Myrna nickte. »Ich könnte heute noch rechtzeitig zum Abendessen dort sein. Vier-Sterne-Hotel. All inclusive.«

»Lass mal sehen.« Gabri beugte sich zu Clara. Irgendwie hatte sie es geschafft, Marmelade auf die Zeitung zu kleckern, obwohl weit und breit keine Marmelade zu sehen war. Das war, wie alle wussten, Claras besondere Begabung. Sie schien klebrige Brotaufstriche und große Kunstwerke hervorzubringen. Auf ihren Porträts fanden sich interessanterweise nie Marmeladenkleckse oder Croissantbrösel.

Gabri überflog die Zeitungsseite, dann lehnte er sich in seinen Sessel zurück. »Nein, kein Interesse. Condé Nast hat bessere Angebote.«

»Condé Nast hat halbnackte, olivenölglänzende Männer, die sich an Traumstränden rekeln«, sagte Myrna.

»Sag ich doch«, sagte Gabri. »All inclusive.«

Jeden Samstag führten sie die gleiche Unterhaltung. Verglichen Reiseangebote für Strandurlaube, wählten unter Karibik-Kreuzfahrten, diskutierten über die Frage Bahamas oder Barbados, San Miguel de Allende oder Cabo San Lucas. Exotische Orte, weit fort von endlos fallendem Schnee. Tief und locker und alles unter sich begrabend.

Aber so verlockend die Angebote auch sein mochten, sie flogen nie hin. Gabri wusste, warum. Myrna, Clara und Peter wussten, warum. Und es war nicht, wie Ruth vermutete: »Ihr Schlappschwänze kriegt einfach euren Arsch nicht hoch.«

Das traf es nicht wirklich.

Gabri nahm einen Schluck von seinem Café au Lait und schaute in die züngelnden Flammen, lauschte dem vertrauten Brabbeln vertrauter Stimmen. Er schaute durch das Bistro mit seinen alten Deckenbalken, den breiten Bodendielen, den Koppelfenstern, den nicht zueinander passenden, aber bequemen alten Möbeln. Und auf das still daliegende Dorf.

An keinem Ort konnte es jemals wärmer sein als in Three Pines.

Durch das Fenster sah er das Auto die Rue du Moulin herunterkommen, vorbei am neuen Wellnesshotel oben auf dem Hügel, vorbei an der Kirche St. Thomas und um den Dorfanger herum. Es fuhr langsam und hinterließ tiefe Reifenspuren im frisch gefallenen Schnee. Schließlich hielt es neben Jane Neals altem Ziegelhaus.

Es war ein unbekanntes Fahrzeug. Wäre Gabri ein Hund gewesen, hätte er gebellt. Nicht zur Warnung, nicht aus Angst, nein, vor Freude.

Es kam nicht oft vor, dass es Leute nach Three Pines verschlug, es sei denn, sie verfuhren sich und landeten aus Versehen in dem winzigen Dorf. Verirrt. Gestrandet.

So hatten Gabri und sein Partner Olivier Three Pines entdeckt. Aus Versehen. Sie hatten andere, größere Pläne für ihre Zukunft gehabt, aber sobald sie diesen Ort einmal gesehen hatten, war es um sie geschehen. Das Dorf mit seinen Feldstein-Cottages, den holzschindelverkleideten Häusern und United-Empire-Loyalist-Bauten, den Beeten mit winterharten Rosen, Ritterspornen und Wicken, der Bäckerei und dem Gemischtwarenladen. Statt New York oder Boston oder auch Toronto im Sturm zu nehmen, hatten sie sich in der tiefsten Provinz niedergelassen. Und wollten nie mehr von hier weg.

Olivier hatte das Bistro aufgemacht, es mit Funden aus der Nachbarschaft eingerichtet, allesamt käuflich. Dann hatten sie die ehemalige Posthalterei auf der anderen Straßenseite gekauft und eine Pension daraus gemacht. Das war Gabris Baby gewesen.

Aber jetzt, seit Olivier nicht mehr hier war, führte Gabri auch das Bistro. Hielt es für seine Freunde offen. Und für Olivier.

Gabri sah einen Mann aus dem Auto steigen. Um ihn erkennen zu können, war er zu weit entfernt. Außerdem trug er wegen des Schnees eine dicke Winterjacke, Mütze und Schal. Er hätte sogar eine Frau sein können oder weiß Gott wer. Aber Gabri stand auf, und sein Herz hüpfte vor Freude.

»Was ist?«, fragte Peter. Er nahm ein langes Bein vom anderen und beugte sich mit seinem schlanken Oberkörper vor. Auf seinem attraktiven Gesicht spiegelte sich Neugierde, Erleichterung über die Ablenkung von der Urlaubsdiskussion. Obwohl ebenfalls Künstler, war Peter nicht gut in »Was-wäre-wenn«-Unterhaltungen. Er nahm sie zu ernst und geriet in Panik, wenn Clara damit ankam, dass sie sich auf der Queen Mary 2 für lumpige fünfzehntausend Dollar in eine Princess Suite upgraden lassen könnten. Das war dann seine Cardio-Übung für den Tag. Nachdem er die heute überstanden hatte, konzentrierte er sich auf Gabri, der den Fremden auf seiner auffallend langsamen Wanderung durch den Schnee beobachtete.

»Nichts«, sagte Gabri. Er hätte nie zugegeben, was er in diesem Moment dachte, was er jedes Mal dachte, wenn das Telefon klingelte, wenn es an der Tür klopfte oder wenn ein unbekanntes Auto im Dorf auftauchte.

Gabri blickte auf den Couchtisch hinab, auf dem neben ihren Getränken und einer Schale mit Schokoladenkeksen das dicke Diane-de-Poitiers-Schreibpapier mit dem angefangenen Brief lag. Dem gleichen, den er jeden Tag schrieb und mit einer Lakritzpfeife verschickte.

Warum sollte Olivier die Leiche woandershin schaffen?, hatte er geschrieben. Und dann hinzugefügt: Olivier hat es nicht getan. Er würde den Brief am Nachmittag aufgeben, und morgen würde er Chief Inspector Gamache wieder einen schreiben.

Doch jetzt ging, oder eher schleppte sich, ein Mann im dichten Schneefall auf das Bistro zu. Auf den zwanzig Metern von seinem Auto hatte sich bereits Schnee auf seiner Mütze, seinem Schal, seinen schmalen Schultern gesammelt. Olivier hatte schmale Schultern.

Der Schneemann erreichte das Bistro und öffnete die Tür. Die Außenwelt wehte herein, und die Leute schauten kurz auf, bevor sie wieder zu ihren Mahlzeiten, ihren Unterhaltungen, ihrem Leben zurückkehrten. Langsam schälte sich der Mann aus seinen Wintersachen. Erst kamen der Schal und die Stiefel, dann schüttelte er die Jacke aus, und der Schnee fiel auf den Holzboden und schmolz. Er schlüpfte in eins der Pantoffelpaare, die man sich aus einem Korb neben der Tür nehmen konnte.

Gabris Herz schlug wie wild. Hinter ihm diskutierten Myrna und Clara weiter darüber, ob es sich für ein paar Tausend Dollar mehr lohnen könnte, sich in die Queen Suites upgraden zu lassen.

Er wusste, dass es Olivier nicht sein konnte. Nicht wirklich. Trotzdem. Vielleicht hatte sich Gamache von den vielen Briefen überzeugen lassen und seine Freilassung erwirkt. Vielleicht eine Last-Minute-Aktion, wie die Reiseangebote, eine Last-Minute-Entlassung, die Olivier nach Hause gebracht hatte, statt ihn in den sonnigen Süden zu entführen.

Gabri machte einen Schritt nach vorn, er konnte nicht mehr anders.

»Gabri?«, fragte Peter und stand auf.

Gabri ging in die Mitte des Bistros.

Der Mann hatte die Mütze abgenommen und sich dem Raum zugewandt. Langsam kamen die Unterhaltungen zum Erliegen, als es allen zu dämmern begann.

Es war nicht Olivier. Es war einer der Männer, die ihn weggebracht, festgenommen, wegen Mordes ins Gefängnis gesteckt hatten.

Inspector Beauvoir blickte sich im Raum um und lächelte unsicher.

Als am Morgen der Anruf des Chief Inspectors eingegangen war, hatte Beauvoir im Keller gerade ein Bücherregal gebaut. Er selbst las nicht, aber seine Frau Enid schon, und deshalb machte er es für sie. Sie war oben und sang. Nicht laut und nicht gut. Er konnte sie das Frühstücksgeschirr spülen hören.

»Bei dir alles okay da unten?«, rief sie.

Nein, ganz und gar nicht, wollte er zurückschreien. Er langweilte sich zu Tode. Er hasste es zu schreinern, hasste die dämlichen Kreuzworträtsel, die sie ihm zusteckte. Hasste die Bücher, die sie neben dem Sofa stapelte, hasste die Kissen und Decken, die ihm überallhin folgten, in ihren Armen, als ob er ein Invalide wäre. Hasste, wie viel er ihr zu verdanken hatte. Hasste, wie sehr sie ihn liebte.

»Alles bestens«, rief er nach oben.

»Sag einfach Bescheid, wenn du was brauchst.«

»Mach ich.«

Er ging zur Werkbank hinüber, blieb stehen, um Atem zu schöpfen. Seine täglichen Physioübungen hatte er heute schon absolviert. Er war nicht besonders diszipliniert gewesen, bis ihm der Doktor klargemacht hatte, dass er sich Enids erstickender Fürsorge umso eher entziehen könnte, je konsequenter er sie durchzog.

Der Arzt hatte es zwar nicht unbedingt so ausgedrückt, aber das war, was Beauvoir herausgehört hatte, und es war ihm Motivation genug gewesen. Um wieder zu Kräften zu kommen, machte er seine Übungen morgens, mittags und abends. Aber nicht übertreiben. Er merkte schnell, wenn er es übertrieb. Manchmal hatte er allerdings das Gefühl, dass es sich lohnte. Lieber starb er bei dem Versuch zu entkommen, als noch viel länger gefangen zu sein.

»Keks?«, trällerte sie nach unten.

»Ja, Sahneschnitte«, antwortete er. Es war ihr kleiner Scherz. Er hörte sie lachen und fragte sich, wie weh es täte, sich mit der Stichsäge die Hand abzutrennen. Aber nicht die Waffenhand, die brauchte er vielleicht noch.

»Nein, Spaß beiseite. Hast du Lust auf ein paar Kekse? Ich überlege, ob ich welche machen soll.«

»Klar, gern. Merci

Beauvoir hatte nie wirklich Kinder gewollt, aber jetzt hätte er gern welche gehabt. Vielleicht würde Enid dann sie mit ihrer Liebe ersticken. Die Kinder würden ihn retten. Kurz taten sie ihm leid. Er konnte richtig sehen, wie sie von ihrer nie erlahmenden bedingungslosen, unerbittlichen Liebe in die Tiefe gezogen wurden. Aber was soll’s, sauve qui peut.

Dann klingelte das Telefon.

Und sein Herz stand still. Er hatte angenommen, gehofft, dass es das irgendwann tun würde. Es war ziemlich nervig, ein Herz zu haben, das jedes Mal, wenn das Telefon läutete, stillstand. Ganz besonders ärgerlich war es, wenn sich jemand verwählte. Aber statt besser zu werden, wurde es eher schlimmer. Er hörte Enid zum Telefon stürzen, und er wusste, dass sie rannte, weil sie wusste, wie sehr ihn das Geräusch aufregte.

Und er hasste sich, weil er sie hasste.

Er hörte sie »Ja, allô?« sagen, und sofort wurde er an diesen verhängnisvollen Tag zurückversetzt.

»Mordkommission.« Die Sekretärin des Chefs war ans Telefon gegangen. Das Großraumbüro der Mordkommission nahm eine ganze Etage des Hauptquartiers der Sûreté du Québec in Montréal ein. Es gab aber auch ein paar abgetrennte Bereiche, darunter ein Zimmer mit Beauvoirs geliebten Markern, mit Tafeln und Pinnwänden und mit langen Papierbogen an den Wänden. Alles gut organisiert.

Als Stellvertreter des Chief Inspectors hatte Beauvoir ein eigenes Büro.

Und der Chef hatte ein großes Büro in der Ecke, mit Fenstern, durch die man auf Montréal hinausblickte. Von dort leitete Armand Gamache die Polizeioperationen der gesamten Provinz und befasste sich mit Morden in einem Territorium, das von der Grenze zu Ontario bis zum Atlantik reichte, von der Grenze zu Vermont und New York bis zum Polarkreis. Sie hatten, über die ganze Provinz verteilt, Polizeistationen mit Hunderten von Ermittlern sowie Sondereinheiten, die für Distrikte ohne eigene Mordkommissionen zuständig waren.

Alles koordiniert von Chief Inspector Gamache.

Beauvoir war gerade in Gamaches Büro gewesen, um über einen besonders vertrackten Fall in Gaspé zu sprechen, als das Telefon läutete. Gamaches Sekretärin war drangegangen. Beauvoir hatte auf die Uhr an der Wand geschaut, als das Telefon klingelte. 11:18 Uhr.

»Mordkommission«, hatte sie sich gemeldet.

Und seitdem war nichts mehr, wie es einmal gewesen war.

Ein leises Klopfen an der Tür riss Elizabeth MacWhirter aus ihrer Träumerei. Sie hatte auf die Mitgliederliste gestarrt und den Zeitpunkt, an dem sie alle anrufen sollte, hinausgeschoben. Aber sie wusste, der richtige Moment war längst dagewesen und verstrichen. Sie hätte es schon vor einer Stunde tun sollen. Es gingen bereits Anfragen von allen möglichen Nachrichtenmedien der englischen Community ein, darunter CBC Radio und die englischsprachige Wochenzeitung Chronicle-Telegraph. Sie, Winnie und Porter Wilson hatten sich in Zurückhaltung geübt, damit aber nur den Eindruck erweckt, etwas vertuschen zu wollen.

Reporter waren unterwegs.

Und dennoch zögerte Elizabeth die Anrufe hinaus und klammerte sich, wie ihr sehr wohl bewusst war, an die letzten Momente von so etwas wie Normalität. An ihr beschauliches, ereignisloses Leben, in dem sie als ehrenamtliche Bewahrer einer verstaubten und ziemlich unwichtigen Vergangenheit fungierten, einer Vergangenheit allerdings, die ihnen teuer war.

Wieder ertönte das Klopfen. Nicht lauter, aber hartnäckig. Waren die Reporter bereits hier? Sie würden allerdings wie die Polizei gegen die Tür dreschen, vermutete sie. Dieses Klopfen hatte jedoch etwas Flehentliches, nichts Forderndes.

»Ich gehe schon«, sagte Winnie. Sie durchquerte den großen Raum und stieg die zwei Stufen zur Tür hinauf. Elizabeth MacWhirter und Porter Wilson beobachteten sie von ihren Schreibtischen an den großen Venezianischen Fenstern. Sie konnten nicht sehen, mit wem Winnie sprach. Ebenso wenig konnten sie hören, was gesprochen wurde, aber sie schien dem Besucher etwas zu erklären zu versuchen. Dann schien es, als versuchte sie, die Tür zuzudrücken. Schließlich gab sie auf, machte die Tür auf und drehte sich um.

»Chief Inspector Gamache möchte dich sprechen«, sagte sie fast wie in Trance zu Elizabeth MacWhirter.

»Wer?«, fragte Porter Wilson und sprang von seinem Schreibtisch auf. Nachdem die alte Bibliothekarin an die Tür gegangen war, übernahm jetzt er das Kommando.

Winnie machte die Tür ganz auf, und da stand Armand Gamache. Er sah die Anwesenden an, nahm aber zugleich die Umgebung in sich auf. Das Büro, das ein paar Stufen tiefer lag als die Tür, hatte hohe Bogenfenster und eine Decke wie eine Kathedrale. Mit seinen holzvertäfelten Wänden – Böden und Bücherregale waren ebenfalls aus Holz – sah es aus wie eine altmodische Miniaturturnhalle, in der man sich geistig, nicht körperlich betätigte.

»Tut mir leid, wenn ich störe«, sagte der Chief Inspector und kam herein. Er hatte die Winterjacke abgenommen, und darunter trug er eine Kamelhaarjacke, Hemd und Krawatte und dazu eine dunkelblaue Cordhose. An seiner Seite war Henri, sein Schäferhund.

Porter Wilson starrte ihn an. Winnie stieg rückwärts die Treppe hinunter. Elizabeth stand von ihrem Schreibtisch auf und ging Gamache entgegen.

»Sind Sie also doch gekommen.« Sie reichte ihm lächelnd die Hand. Er ergriff sie und hielt sie.

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Porter Wilson.

»Ich habe ihn gebeten, herzukommen und die Ermittlungen zu beaufsichtigen. Das ist Chief Inspector Gamache.« Elizabeth MacWhirter wartete auf Zeichen des Erkennens. »Von der Sûreté du Québec.«

»Ich weiß, wer er ist«, log Porter Wilson. »Schon die ganze Zeit.«

»Chief Inspector Gamache, darf ich Ihnen den Präsidenten unserer Gesellschaft vorstellen«, sagte Elizabeth MacWhirter. »Porter Wilson.«

Die zwei Männer schüttelten sich die Hände.

»Wir brauchen keine Hilfe«, sagte Wilson. »Wir kommen bestens allein zurecht.«

»Ich weiß, ich wollte nur sicherheitshalber noch einmal nachfragen. Sie waren so freundlich, mich Ihre Bibliothek nutzen zu lassen. Deshalb dachte ich, ich biete Ihnen als Gegenleistung etwas von meiner Sachkenntnis an.«

»Das fällt nicht einmal unter Ihre Zuständigkeit«, grummelte Wilson und kehrte dem Chief Inspector den Rücken zu. »Die Separatisten werden begeistert sein. Woher sollen wir wissen, dass Sie nicht einer von ihnen sind?«

Am liebsten wäre Elizabeth MacWhirter im Boden versunken. »Porter, ich bitte dich, er ist hier, um uns zu helfen. Ich habe ihn ausdrücklich darum gebeten herzukommen.«

»Darüber können wir später reden.«

»Nicht alle Separatisten möchten Ihnen schaden, Monsieur«, sagte Gamache freundlich, aber bestimmt. »Sie haben allerdings recht, dass das nicht unter meine Zuständigkeit fällt. Ich finde jedoch beeindruckend, dass Sie das wissen.« Amüsiert beobachtete Elizabeth MacWhirter, wie Wilson dahinzuschmelzen begann. »Offensichtlich sind Sie über die politischen Entwicklungen bestens auf dem Laufenden.« Wilson nickte und entspannte sich weiter. Wenn das so weiterging, dachte Elizabeth MacWhirter, kuschelte er sich noch schnurrend in Gamaches Schoß.

»Großstädte fallen nicht unter die Zuständigkeit der Sûreté«, fuhr Gamache fort. »Der Tod Monsieur Renauds ist Sache der Mordkommission von Quebec City. Zufällig kenne ich Inspector Langlois, der so freundlich war, mich ebenfalls zu bitten, ihn und seine Leute zu unterstützen. Nach längerer Überlegung«, Gamache sah Elizabeth MacWhirter an, »habe ich deshalb beschlossen, einfach mal einen Blick auf die Angelegenheit zu werfen.« Er wandte sich wieder Wilson zu. »Selbstverständlich nur mit Ihrem Einverständnis, Sir.«

Um ein Haar wäre Porter Wilson in Ohnmacht gefallen. Winnie und Elizabeth tauschten Blicke. Hätten sie nur geahnt, dass es so einfach wäre. Doch dann verdüsterte sich Wilsons Miene wieder.

Vielleicht war das gar keine Verbesserung. Nachdem sie die Polizei zunächst ganz auf Abstand gehalten hatten, mussten sie sich jetzt sogar mit zwei Behörden herumschlagen.

Von dem Toten erst gar nicht zu reden.

»Könnte ich Henri vielleicht hier bei Ihnen lassen, solange ich unten im Keller bin?«

»Aber selbstverständlich«, sagte Winnie und nahm die Leine an sich. Gamache gab ihr auch ein paar Leckerli für Henri, tätschelte ihm den Kopf, ermahnte ihn, sich zu benehmen, und ging.

»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, hörte er Wilson sagen, als sich die Tür schloss. Er vermutete, dass er es hören sollte. Andererseits gefiel es auch ihm ganz und gar nicht.

Auf dem Flur wartete ein Polizist in Uniform auf ihn, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg durch das Labyrinth aus Korridoren und Treppen. Gamache musste zugeben, dass er komplett die Orientierung verloren hatte, und er vermutete, dass es dem Polizisten ähnlich ging. Auf den Linoleumböden reihten sich Kartons mit Büchern und Papieren, prächtige Treppen führten zu versifften Toiletten und verlassenen Büros. Sie kamen zu zwei riesigen Holztüren, öffneten sie und betraten einen prunkvollen, extrem hohen Ballsaal, an den ein gleichermaßen prunkvoller zweiter angrenzte. Beide waren bis auf ein paar Leitern und die allgegenwärtigen Bücherkisten leer. Eine davon öffnete er. Mehr ledergebundene Bücher. Er wusste, wenn er eins herausnahm, war er verloren, deshalb ließ er es bleiben und folgte dem zunehmend frustrierten Polizisten einen weiteren Flur hinunter.

»So was habe ich noch nie gesehen«, sagte der Polizist. »Diese ganzen schönen Räumlichkeiten, vollkommen ungenutzt. Finde ich irgendwie nicht richtig. Was machen sie mit diesem tollen Gebäude? Sollte es nicht für was Sinnvolles genutzt werden?«

»Für was zum Beispiel?«

»Keine Ahnung. Aber irgendwas muss es doch geben, wofür es jemand nutzen könnte.«

»Es nutzt ja jemand.«

»Les Anglais.«

Gamache blieb stehen. »Excusez-moi?«

»Les têtes carrés«, verdeutlichte der junge Polizist.

Die Quadratschädel.

»Sie werden diese Leute mit Respekt behandeln«, sagte Gamache. »Sie sind genauso wenig têtes carrés wie wir Froschfresser sind.« Sein Ton war hart und scharf. Der Polizist fuhr zusammen.

»Das war nicht böse gemeint.«

»Wirklich nicht?« Gamache sah den jungen Polizisten finster an, der starrte zurück. Schließlich lächelte Gamache verhalten. »Sie werden dieses Verbrechen nicht aufklären, wenn Sie diese Leute beleidigen oder sich über sie lustig machen. Lassen Sie sich nicht blenden.«

»Jawohl, Sir.«

Sie gingen weiter, durch endlose Flure, vorbei an prachtvollen Räumen, vorbei an desolaten Räumen, alle leer. Als ob die Literary and Historical Society sich vollkommen zurückgezogen und in dieser herrlichen Bibliothek, in der General Wolfe über sie wachte, neu formiert hätte.

»Hier rüber, Sir. Wir sind da, glaube ich.«

Sie stiegen ein paar Stufen zu einem uniformierten Polizisten hinunter, der neben einer Falltür gelangweilt Wache stand. Als er den Chief Inspector sah, straffte er die Schultern. Gamache nickte und schaute seinem jungen Führer zu, wie er die Metallleiter hinunterkletterte.

Darauf war Gamache nicht vorbereitet gewesen.

Unten angekommen, blickte der Polizist zu ihm herauf und wartete, sein Gesichtsausdruck inzwischen nicht mehr dienstbeflissen, sondern fragend. Worauf wartete der Mann? Dann schaltete er. Er stieg die Leiter wieder ein paar Sprossen hinauf und streckte Gamache die Hand entgegen.

»Keine Angst, Sir«, sagte er ruhig. »Ich passe schon auf.«

Gamache sah die Hand an. »Ich glaube Ihnen.« Er kletterte vorsichtig nach unten und griff nach der kräftigen Hand.

Jean-Guy Beauvoir saß mit einem Bier und einem Steaksandwich am Feuer. Peter und Clara leisteten ihm Gesellschaft, Myrna und Gabri saßen auf dem Sofa am Kamin.

Es war das erste Mal, dass Beauvoir nach Three Pines kam, seit sie Olivier Brulé wegen des Mordes an dem Eremiten Jakob verhaftet hatten. Er blickte in das große offene Feuer und erinnerte sich, wie er die Ziegel auf der Rückseite des Kamins herausgelöst und seinen Arm bis zur Schulter in die Öffnung gesteckt und darin herumgetastet hatte. Voller Angst, was er dort spüren könnte. War in dem Loch ein Rattennest? Mäuse? Spinnen? Gar Schlangen.

So sehr er sich auch für die Rationalität in Person hielt, hatte er dennoch eine blühende, ungezügelte Phantasie. Seine Hand streifte etwas Weiches und Raues. Er erstarrte mitten in der Bewegung. Mit klopfendem Herzen, seine Vorstellungskraft auf Hochtouren, zwang er sich, die Hand herauszuziehen. Sie hatte sich um das Ding geschlossen, das er hervorholte.

Das Sûreté-Team hatte sich um ihn geschart und sah ihm zu. Chief Inspector Gamache, Agent Isabelle Lacoste und der Neue, Agent Paul Morin.

Langsam zog er den Gegenstand aus seinem Versteck in der Rückwand des Kamins. Ein grober, mit einer Schnur zugebundener Leinensack. Er hatte ihn auf den Tisch gelegt, auf dem jetzt sein Bier und der Teller mit seinem Sandwich standen. Und er hatte den Arm ein zweites Mal in das Loch im Kamin gesteckt und noch etwas gefunden. Einen Leuchter, schlicht, schön, geschmackvoll. Genauer, eine Menora. Jahrhunderte alt, vielleicht sogar Jahrtausende, wie Experten später sagten.

Aber die Experten hatten noch etwas gesagt, etwas Konkreteres.

Dieser alte Leuchter, der in so viele Behausungen Licht gebracht, so viele feierliche Zeremonien erhellt hatte, der verehrt, versteckt, beim Gebet umringt, wie ein Schatz gehütet worden war, diese Menora war auch dazu benutzt worden, einen Menschen zu töten.

Das Blut und die Haare des Einsiedlers befanden sich ebenso darauf wie seine Fingerabdrücke. Und die Fingerabdrücke einer einzigen weiteren Person.

Olivier.

Und in dem Leinensack? Eine Holzfigur, die der Eremit geschnitzt hatte. Seine schönste Arbeit. Eine gekonnte Darstellung eines lauschenden, sitzenden jungen Mannes. Schlicht, kraftvoll, vielschichtig. Sie erzählte von tiefer Einsamkeit, von Sehnsucht und Verlangen. Die Figur stellte eindeutig Olivier dar, wie er dasaß und lauschte. Und noch etwas erzählte sie.

Jakobs Skulpturen waren Zehntausende, schließlich sogar Hunderttausende von Dollar wert gewesen. Er hatte sie Olivier geschenkt, weil er ihn mit Lebensmitteln versorgt und ihm Gesellschaft geleistet hatte, und Olivier hatte sie verkauft. Und sehr viel Geld damit verdient.

Aber das hatte Olivier nicht genügt, er hatte mehr gewollt. Er hatte es auf das einzige Ding abgesehen, das ihm der Eremit nicht hatte geben wollen. Das Ding in dem Säckchen.

Jakobs letzte Schnitzerei, sein kostbarster Besitz.

Und Olivier wollte ihn unbedingt haben.

In einem Anfall von Wut und Gier hatte er dem Eremiten zuerst das Leben, dann die wunderschöne und unbezahlbare Mordwaffe und den Leinensack genommen und alles versteckt.

In der Rückwand des Kamins, in den Beauvoir jetzt starrte.

Einmal entdeckt, hatte die Holzfigur zu sprechen begonnen. Sie hatte nur eins zu sagen und sagte es in aller Deutlichkeit, immer und immer wieder. Es war Olivier, der ihren Schöpfer getötet hatte.

Nachdem sie die Figur und die Tatwaffe und all die anderen Beweise entdeckt hatten, stand außer Frage, was als Nächstes geschehen musste. Der Chief Inspector verhaftete Olivier Brulé. Er wurde des Totschlags für schuldig befunden und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Unter Schmerzen hatte Three Pines diese schreckliche Wahrheit schließlich akzeptiert.

Bis auf Gabri, der dem Chief Inspector jeden Tag einen Brief schrieb, um ihm diese eine Frage zu stellen: Warum sollte Olivier die Leiche woandershin schaffen?

»Wie geht es dem Chief Inspector?«, fragte Myrna und beugte ihren ausladenden Oberkörper vor. Sie war eine große, kräftige Schwarze. Eine Psychologin im Ruhestand, jetzt Inhaberin des Buchladens nebenan.

»Gut. Wir sprechen jeden Tag miteinander.«

Die ganze Wahrheit erzählte er ihnen natürlich nicht. Dass es Chief Inspector Gamache nicht einmal annähernd »gut« ging. Ebenso wenig wie ihm selbst.

»Wir haben ein paarmal telefoniert«, sagte Clara.

Clara Morrow, Ende vierzig, stand, wie jedermann wusste, kurz davor, in der Kunstwelt groß rauszukommen. In wenigen Monaten würde im Musée d’art contemporain de Montréal, kurz MAC, eine Einzelausstellung von ihr eröffnet. Ihr widerspenstiges dunkles Haar wurde von erstem Grau aufgehellt, und sie sah immer aus, als käme sie gerade aus einem Windkanal.

Ihr Mann Peter war das genaue Gegenteil. Während sie klein war und ein wenig füllig wurde, war er groß und schlank. Jedes graue Haar an seinem Platz, seine Kleidung schlicht und tadellos.

»Wir haben ein paarmal mit ihm gesprochen«, sagte Peter. »Und ich weiß, dass du in engem Kontakt mit ihm stehst.« Er wandte sich Gabri zu.

»Wenn man jemanden belästigen als ›in engem Kontakt stehen‹ bezeichnen kann.« Gabri lachte und deutete auf den noch nicht zu Ende geschriebenen Brief auf dem Tisch, bevor er sich Beauvoir zuwandte. »Hat Gamache Sie hergeschickt? Rollen sie Oliviers Fall neu auf?«

Beauvoir schüttelte den Kopf. »Leider nein. Ich bin nur hier, um ein paar Tage Urlaub zu machen. Ein bisschen ausspannen.«

Er hatte ihnen in die Augen gesehen und gelogen.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, Jean-Guy?«, hatte Chief Inspector Gamache ihn am Morgen gefragt. »Ich würde es selbst tun, aber ich glaube nicht, dass es etwas bringen würde. Wenn jemand irgendwo einen Fehler gemacht hat, dann ich. Sie sehen bestimmt eher, wo genau.«

»Wir waren alle an den Ermittlungen beteiligt, Sir«, hatte Beauvoir gesagt. »Nicht nur Sie. Wir waren uns bei unseren Schlussfolgerungen alle einig. Es bestand nicht der geringste Zweifel. Wie kommen Sie jetzt plötzlich darauf, uns könnte ein Fehler unterlaufen sein?« Er war mit dem verhassten Telefon im Keller gewesen. Und wenn das Telefon schon ihm so zuwider war, fragte sich Beauvoir, wie musste es dann erst dem Chef damit gehen?

Er glaubte nicht, dass ihnen ein Fehler unterlaufen war. Im Gegenteil, er war fest davon überzeugt, dass die Ermittlungen gegen Olivier lückenlos, gründlich und unanfechtbar waren.

»Warum hat er die Leiche woandershin geschafft?«, hatte Gamache gefragt.

Das war eine berechtigte Frage, musste Beauvoir zugeben. Der einzige kleine Makel eines perfekten Ermittlungsverfahrens. »Und was soll ich jetzt tun?«

»Fahren Sie nach Three Pines und stellen Sie ein paar weitere Fragen.«

»Wie zum Beispiel? Wir haben alle Fragen gestellt, alle Antworten erhalten. Olivier hat den Eremiten ermordet. Point final. Ende der Diskussion. Die Geschworenen haben es genauso gesehen. Außerdem liegt der Mord inzwischen fünf Monate zurück. Wie soll ich da jetzt noch neue Beweise finden?«

»Davon gehe ich nicht aus«, hatte der Chef gesagt. »Wenn uns ein Fehler unterlaufen ist, dann bei ihrer Auslegung.«

Beauvoir hatte gezögert. Er wusste, dass er nach Three Pines fahren und tun würde, worum ihn der Chef bat. Das täte er immer. Würde ihn der Chief Inspector auffordern, Vernehmungen nackt durchzuführen, täte er es. Aber so etwas würde er selbstverständlich nie verlangen. Deshalb vertraute er ihm. Bedingungslos.

Flüchtig spürte er wieder den Stoß, den Druck und dann das Entsetzen, als seine Beine einknickten und ihm bewusst wurde, was passiert war. Er war auf den schmutzigen Boden der verlassenen Fabrik gesackt. Und er hatte, aus großer Ferne, die vertraute Stimme gehört, wie sie schrie.

»Jean-Guy!« Die Stimme, die so selten laut wurde, aber in diesem Moment schon.

Wieder sprach der Chef mit ihm, aber jetzt, als er über die beste Strategie nachdachte, war seine Stimme ruhig und bedächtig. »Sie werden als Privatmann hinfahren, nicht als Mordermittler. Sie werden nicht versuchen, seine Schuld zu beweisen. Nein, versuchen Sie, die Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.«

»Wie meinen Sie das?«

»Fahren Sie nach Three Pines und versuchen Sie zu beweisen, dass Olivier den Eremiten Jakob nicht ermordet hat.«

Und nun saß Jean-Guy Beauvoir hier und versuchte so zu tun, als fände er diese Leute sympathisch.

Was nicht der Fall war.

Jean-Guy Beauvoir fand nicht viele Menschen sympathisch, und die in Three Pines hatten ihm wenig Anlass gegeben, diese Einstellung zu überdenken. Sie waren hinterlistig, verschlagen, arrogant und nur mit Mühe zu verstehen, vor allem die Anglos. Sie waren gefährlich, denn sie verbargen ihre Gedanken und Gefühle hinter einem lächelnden Gesicht. Wer konnte schon sagen, was wirklich in ihren Köpfen vor sich ging? Sie sagten das eine und dachten das andere. Wer wusste schon, welches ranzige Etwas zusammengerollt in dem Raum zwischen Worten und Gedanken hauste?

Ja, diese Leute machten vielleicht einen netten und fürsorglichen Eindruck. Aber sie waren gefährlich.

Je früher er hier fertig wurde, umso besser, dachte Beauvoir und lächelte sie über den Rand seines Bierglases hinweg an.

Heimliche Fährten

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