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Am nächsten Morgen, einem Samstag, ging Gamache mit Henri im sanften Schneefall die Rue Sainte-Ursule hinauf, um im Petit Coin Latin zu frühstücken. Als er mit einer Schale Café au Lait vor sich auf sein omelette wartete, las er die Wochenendausgaben und beobachtete die Jecken auf ihrem Weg zu den crêperies entlang der Rue Saint-Jean. Es war schön, einerseits dazuzugehören, andererseits aber auch nicht und mit Henri an seiner Seite in der wohligen Wärme des etwas abseits gelegenen Bistros zu sitzen.

Nach der Lektüre von Le Soleil und Le Devoir faltete er die Zeitungen und wandte sich wieder einmal den Briefen aus Three Pines zu. Er konnte sich bestens vorstellen, wie der stattliche, redegewandte und imposante Gabri im Bistro saß, das jetzt er führte, und sich beim Schreiben über den langen hölzernen Tresen beugte. In den Feldsteinkaminen an beiden Enden des Raums mit der Holzbalkendecke brannten jetzt bestimmt knisternde Scheite und verströmten Licht und Wärme und einladende Behaglichkeit.

Und selbst in Gabris leichtem Tadel am Chief Inspector schwang immer Wohlwollen und Besorgnis mit.

Fast spürte Gamache seine Gutmütigkeit, als er mit einem Finger über die Umschläge strich. Aber noch etwas anderes spürte er: die unerschütterliche Überzeugung des Mannes.

Olivier hat es nicht getan. Gabri wurde nicht müde, es in jedem Brief zu wiederholen, als würde es wahr, wenn er es nur oft genug wiederholte.

Warum sollte er die Leiche woandershin schaffen?

Gamaches Finger hörte auf, das Papier zu streicheln. Er blickte aus dem Fenster, griff nach seinem Handy, wählte eine Nummer.

Nach dem Frühstück kämpfte er sich die steile, glatte Straße hinauf, bog dann links ab, in Richtung Literary and Historical Society. Hin und wieder stieg er in einen Schneehaufen, um Familien vorbeizulassen. Die Kinder dick eingepackt, mumifiziert zum Schutz gegen den eisig kalten Quebecer Winter, auf dem Weg zu Bonhomme’s Ice Palace oder zur Eisrutsche oder zur cabane à sucre mit ihrem warmen Ahornsirup, der sich auf dem Schnee zu Karamell verhärtete. Die Abende des Carnaval waren für die Studenten, um zu feiern und zu trinken, aber die Tage waren für die Kinder.

Wieder einmal staunte Gamache über die Schönheit dieser alten Stadt mit ihren engen, verwinkelten Gassen, den Steinhäusern, den Blechdächern, auf denen sich der Schnee türmte. Es war, als befände man sich in einer alten europäischen Stadt. Doch Quebec City war mehr als ein attraktiver Anachronismus, ein hübscher Themenpark. Es war ein lebendiger, pulsierender Zufluchtsort, eine kultivierte Stadt, die viele Male den Besitzer gewechselt, aber nie ihr Herz verloren hatte. Die Flocken fielen jetzt dichter, aber der Wind war fast zum Erliegen gekommen. Mit dem Schnee und den Lichtern, den von Pferden gezogenen calèches, den gegen die Kälte dick eingepackten Menschen sah die Stadt, obwohl zu jeder Jahreszeit schön, im Winter noch zauberhafter aus.

Am Ende der Straße blieb er stehen, um Atem zu schöpfen. Er geriet immer weniger schnell außer Atem, je mehr sich sein Gesundheitszustand besserte. Dank der langen, schweigsamen Spaziergänge mit Reine-Marie, Émile oder Henri oder manchmal auch allein.

Dieser Tage war er jedoch nie allein. Er sehnte sich danach, nach köstlicher Einsamkeit.

Avec le temps, hatte Émile gesagt. Mit der Zeit. Und vielleicht hatte er recht. Seine körperliche Kraft kehrte zurück, warum nicht auch seine geistige Gesundheit?

Als er weiterging, merkte er, dass ein Stück vor ihm etwas passiert war. Polizeiautos. Bestimmt Ärger mit ein paar verkaterten Studenten, die nach Québec gekommen waren, um mit dem offiziellen Getränk des Winter Carnival Bekanntschaft zu machen, mit Caribou, einer fatalen Mischung aus Portwein und Hochprozentigem. Gamache hatte zwar keinen Beweis, aber er war ziemlich sicher, dass sein Cariboukonsum dafür verantwortlich war, dass ihm seit seinen Zwanzigern die Haare ausfielen.

Als er sich der Literary and Historical Society näherte, sah er mehr Polizeiautos und eine Absperrung.

Er blieb stehen. Auch Henri blieb stehen und ließ sich wachsam auf die Hinterläufe nieder.

Die schmale Nebenstraße war ruhiger, weniger befahren als die Hauptstraßen. Nur fünf Meter weiter konnte er Menschen vorbeiströmen sehen, die nichts von dem mitbekamen, was hier vor sich ging.

Am Fuß der Eingangstreppe der alten Bibliothek standen Polizisten. Andere liefen herum. Am Straßenrand stand ein Kastenwagen der Telefongesellschaft, ein Krankenwagen war gerade eingetroffen. Aber keine Blaulichter, keine Hektik.

Das konnte nur eins von zwei Dingen bedeuten. Entweder war es ein blinder Alarm gewesen, oder es bestand kein Grund zur Eile mehr.

Gamache wusste bereits, was von beidem zutraf. Ein paar der Polizisten, die am Krankenwagen lehnten, lachten und stupsten sich an. Dem Chief Inspector, der auf der anderen Straßenseite stand, schwoll angesichts ihrer Heiterkeit der Kamm. Das war etwas, was er an Tatorten unter keinen Umständen duldete. Es gab im Leben durchaus Platz für Gelächter, aber nicht angesichts eines frischen gewaltsamen Todes. Und hier handelte es sich um einen Todesfall. Das sagte ihm nicht nur sein Riecher, sondern auch die Begleitumstände. Das große Polizeiaufgebot, die fehlende Eile, der Krankenwagen.

Und dass es ein gewaltsamer Tod war, verriet ihm die Absperrung.

»Gehen Sie weiter, Monsieur.« Einer der Polizisten, jung und übereifrig, kam auf ihn zu. »Hier gibt es nichts zu sehen.«

»Ich wollte eigentlich in die Bibliothek«, sagte Gamache. »Wissen Sie, was passiert ist?«

Der junge Polizist drehte sich einfach um und ging weg, aber das störte Gamache nicht. Stattdessen beobachtete er die Polizisten, die sich innerhalb der Absperrung unterhielten. Während er und Henri außerhalb standen.

Ein Mann kam die Steintreppe herunter und sprach kurz mit einem der Wache stehenden Polizisten, bevor er zu einem zivilen Streifenwagen ging. Als er ihn erreichte, blickte er sich um, dann bückte er sich, um einzusteigen. Tat es aber dann doch nicht. Stattdessen richtete er sich langsam wieder auf und sah Gamache direkt an. Er starrte ihn zehn Sekunden oder länger an, was nicht lange ist, wenn man einen Schokokuchen isst, aber wenn man jemand ansieht, schon. Behutsam schloss er die Autotür wieder, ging auf das Absperrband zu und stieg darüber. Als der junge Polizist das sah, löste er sich von seinen Kollegen, eilte auf den Polizisten in Zivil zu und begann, neben ihm her zu gehen.

»Ich habe ihm bereits gesagt, dass er verschwinden soll.«

»So, haben Sie?«

»Ja. Soll ich ihn noch mal auffordern zu gehen?«

»Nein. Sie sollen mitkommen.«

Unter den neugierigen Blicken der anderen überquerten die beiden die verschneite Straße und steuerten direkt auf Gamache zu. Dann geschah erst einmal nichts, und die drei Männer schauten sich nur an.

Schließlich machte der Zivilbeamte einen Schritt zurück und salutierte. Verdutzt starrte der junge Cop neben ihm den großen Mann in Winterjacke, Schal und Wollmütze und mit dem Schäferhund an seiner Seite an. Sah genauer hin. Auf den gestutzten ergrauenden Bart, die nachdenklichen braunen Augen, die Narbe.

Dann erbleichte er, machte ebenfalls einen Schritt zurück und salutierte.

»Chef

Chief Inspector Gamache salutierte seinerseits und gab den beiden Männern mit einer kurzen Handbewegung zu verstehen, die Förmlichkeiten sein zu lassen. Sie gehörten nicht einmal zu seiner Behörde. Er war bei der Sûreté du Québec, sie waren von der lokalen Polizei von Quebec City. Aber er kannte den Zivilbeamten von Konferenzen, an denen sie beide teilgenommen hatten.

»Ich wusste nicht, dass Sie in Québec sind, Sir«, sagte der Mann in Zivil sichtlich erstaunt. Warum stand der Leiter der Mordkommission der Sûreté du Québec direkt vor seinem Tatort?

»Inspector Langlois, habe ich recht? Wie Sie vielleicht wissen, bin ich beurlaubt.«

Beide Männer nickten kurz. Jeder wusste das.

»Ich besuche hier nur einen Freund und stelle in der Bibliothek private Nachforschungen an. Was ist passiert?«

»Ein Telefontechniker hat heute Morgen eine Leiche gefunden. Im Keller.«

»Ein Mord?«

»Eindeutig. Der Tote wurde notdürftig verscharrt, aber wegen eines defekten Kabels musste der Mann von der Telefongesellschaft den Boden aufgraben, und dabei ist er auf die Leiche gestoßen.«

Gamache warf einen Blick auf das Gebäude. Vor Hunderten von Jahren hatte es als Gericht und Gefängnis gedient. Und als Hinrichtungsstätte. Die zum Tode Verurteilten waren an dem Fenster über der Eingangstür gehängt worden. Es war ein Ort, der vertraut war mit gewaltsamem Tod und Menschen, die ihn, auf beiden Seiten des Gesetzes, verhängten. Eben war es zu einem weiteren gekommen.

Während der Chief Inspector noch schaute, ging die Tür auf, und eine Gestalt erschien in der Öffnung. Wegen ihrer Winterkleidung und der großen Entfernung war sie schwer zu erkennen, aber er glaubte, in ihr eine der Mitarbeiterinnen der Bibliothek zu erkennen, eine ältere Frau. Sie schaute zu ihnen herüber und blieb stehen.

»Gerade ist jemand von der Rechtsmedizin eingetroffen, aber es sieht nicht so aus, als wäre das Opfer schon lange hier. Höchstens ein paar Stunden, keinesfalls Tage.«

»Zum Glück hat er noch nicht zu stinken begonnen«, sagte der junge Polizist. »Da muss ich jedes Mal fast kotzen.«

Gamache holte tief Luft, und sein Atem gefror sofort, als er ihn entweichen ließ. Aber er sagte nichts. Es war nicht seine Aufgabe, diesem Jungspund das rechte Verhalten im Angesicht des Todes beizubringen, den Respekt, den man in Gegenwart eines Verstorbenen zeigte. Die Empathie, die man brauchte, um das Opfer als Menschen und den Mörder als Menschen zu sehen. Man fasste einen Killer nicht mit Zynismus und Sarkasmus, mit schwarzem Humor und derben Sprüchen. Man fasste ihn, indem man genau hinschaute und überlegte und sich in ihn hineinversetzte. Dumme Kommentare halfen einem nicht zu entscheiden, welche Richtung man bei den Ermittlungen einschlagen sollte oder wie die Beweise zu deuten waren. Im Gegenteil, sie verschleierten die Wahrheit. Mit Angst.

Aber der junge Polizist war kein Auszubildender des Chief Inspectors, und es war auch nicht sein Fall. Das Ganze ging ihn nichts an.

Als er wieder zum Eingang der Bibliothek schaute, war die alte Frau nicht mehr zu sehen. Da sie in der kurzen Zeit nicht hätte weggehen können, nahm er an, dass sie sich wieder nach drinnen zurückgezogen hatte.

Das kam ihm eigenartig vor. Sich gegen die Kälte dick einzupacken, dann aber nicht wegzugehen.

Aber dieser Fall ging ihn nichts an, rief er sich noch einmal in Erinnerung. Er fiel nicht unter seine Zuständigkeit.

»Möchten Sie mit nach drinnen kommen, Sir?«, fragte Inspector Langlois.

Gamache lächelte. »Eben habe ich mir in Erinnerung gerufen, dass das nicht mein Fall ist, Inspector. Danke für Ihr Angebot, aber ich bleibe lieber hier draußen.«

Langlois warf dem jungen Polizisten neben ihm einen kurzen Blick zu, dann nahm er Gamache am Arm und führte ihn außer Hörweite.

»Ich habe Sie nicht nur aus Höflichkeit gefragt. Mein Englisch ist zwar nicht besonders, aber ganz passabel. Aber Sie sollten mal das Französisch der Bibliothekarin hören. Zumindest glaube ich, dass sie Französisch spricht. Sie scheint jedenfalls fest davon überzeugt zu sein. Aber ich verstehe kein Wort. Während der ganzen Vernehmung hat sie Französisch gesprochen und ich Englisch. Wie in einem Cartoon. Sie muss mich für einen absoluten Volltrottel halten. Mir blieb nichts anderes, als brav zu grinsen und zu nicken, und es könnte sein, dass ich sie gefragt habe, ob sie aus der Unterschicht kommt.«

»Warum haben Sie sie das gefragt?«

»Das wollte ich selbstverständlich nicht. Eigentlich wollte ich sie fragen, ob sie Zugang zum Keller hat, aber da ist es wohl zu einem Missverständnis gekommen.« Er lächelte reumütig. »Ich glaube, in einem Mordfall ist Klarheit angesagt.«

»Da könnten Sie durchaus recht haben. Was hat sie auf Ihre Frage erwidert?«

»Sie ist ziemlich hochgegangen und hat gesagt, dass die Nacht eine Erdbeere ist.«

»O je.«

Langlois seufzte frustriert. »Würden Sie also bitte mitkommen? Ich weiß, dass Sie Englisch sprechen, ich habe Sie bei verschiedenen Konferenzen gehört.«

»Aber woher wollen Sie wissen, dass ich nicht auch etwas durcheinander gebracht habe? Vielleicht ist die Nacht eine Erdbeere.«

»Wir haben mehrere Kollegen, deren Englisch besser ist als meines, und ich wollte gerade in der Station anrufen, damit einer von ihnen herkommt, aber dann habe ich Sie gesehen. Wir könnten Ihre Hilfe brauchen.«

Gamache zögerte. Und spürte ein Zittern in seiner Hand, die zum Glück unter seinen dicken Fäustlingen verborgen war. »Danke, dass Sie fragen.« Er begegnete dem Blick des Inspectors. »Aber ich kann nicht.«

Die beiden schwiegen sich an. Weit davon entfernt, sich zu ärgern, nickte der Inspector. »Ich hätte nicht fragen sollen. Entschuldigung.«

»Nein, nein. Ich bin froh, dass Sie es getan haben. Merci

Ohne dass es einer der beiden Männer bemerkte, wurden sie aus dem Fenster im ersten Stock beobachtet. Aus dem Fenster, das im vorigen Jahrhundert anstelle der Tür eingesetzt worden war, die auf die Plattform hinausgeführt hatte. Zur Exekution.

Elizabeth MacWhirter, den Schal hatte sie noch um den Hals, aber der Mantel hing wieder unten im Schrank, blickte auf die zwei Männer hinab. Davor hatte sie aus dem Fenster geschaut, um den ungewohnten Aktivitäten hinter ihr den Rücken zu kehren. Sie suchte Trost, Frieden in dem unveränderlichen Blick, der sich durch das Fenster bot. Sie konnte die St. Andrew’s Presbyterian Church sehen, das Pfarrhaus, die vertrauten Schrägdächer ihrer Heimatstadt. Und die Schneeflocken, die gemächlich herabschwebten, um auf ihnen zu landen, als gäbe es keine Sorgen auf der Welt.

Von diesem Fenster aus hatte sie den Mann und den Hund gesehen, die gleich außerhalb der Absperrung standen und das Geschehen beobachteten. Es war derselbe Mann, der mit seinem Schäferhund eine Woche lang jeden Tag still in der Bibliothek gesessen hatte. Gelesen, manchmal geschrieben, manchmal Winnie nach Büchern gefragt hatte, für die sich seit hundert Jahren oder länger keiner mehr interessiert hatte.

»Er sucht nach Informationen über die Schlacht auf der Abraham-Ebene«, hatte ihnen Winnie eines Nachmittags anvertraut, als sie auf der Galerie über der Bibliothek standen. »Und vor allem für die Korrespondenz zwischen James Cook und Louis-Antoine de Bougainville.«

»Warum?«, hatte Porter Wilson geflüstert.

»Woher soll ich das wissen?«, hatte Winnie erwidert. »Diese Bücher sind so alt, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass sie jemals jemand katalogisiert hat. Sie waren bereits für den nächsten Bücherbasar vorgemerkt, bevor er abgesagt wurde.«

Porter Wilson hatte auf den großen, stillen Mann auf dem Ledersofa hinabgeblickt.

Elizabeth MacWhirter war ziemlich sicher, dass Porter ihn nicht erkannt hatte. Was Winnie anging, war sie ganz sicher. Aber sie hatte ihn erkannt.

Und als ihm jetzt der Inspector der lokalen Polizei die Hand schüttelte und wegging, beobachtete sie den großen Mann mit dem Hund wieder und dachte an das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte.

Sie hatte mit dem Rest der Provinz, nein, des ganzen Landes CBC geschaut. Auf CNN war es, hatte sie später erfahren, sogar weltweit übertragen worden.

Sie konnte sich noch gut daran erinnern. Er in Uniform, ohne Bart, das Gesicht verunstaltet, die hässliche Narbe von der Sûreté-du-Québec-Offiziersmütze nur notdürftig verdeckt. Sein Mantel warm, aber bestimmt nicht warm genug, um ihn vor dem bitteren Tag zu schützen. Langsam und leicht hinkend war er an der Spitze des langen Trauerzugs aus Männern und Frauen in Uniform einhergeschritten. Ein fast endloses Geleit von Polizisten aus Québec, ganz Kanada, den Vereinigten Staaten, England und Frankreich. Und an der Spitze ihr Kommandant. Der Mann, der sie angeführt hatte, ihnen aber nicht in letzter Konsequenz gefolgt war. Nicht in den Tod. Nicht ganz.

Dieses Bild, das auf den Titelseiten der Tageszeitungen und vieler Zeitschriften erschienen war, von Paris Match und Maclean’s bis zur Newsweek und dem People Magazine.

Das Bild des Chief Inspectors, die Augen vorübergehend geschlossen, das leicht nach oben gewandte Gesicht zu einer Grimasse verzerrt, in einem Moment tiefster Qual. Fast nicht zu ertragen.

Sie hatte niemandem erzählt, wer der stille Mann in ihrer Bibliothek war, aber das würde sich nun ändern. Sie schlüpfte wieder in ihren Mantel und stieg vorsichtig die vereiste Eingangstreppe hinab, um ihm zu folgen. Er ging mit seinem Hund die Rue Sainte-Anne hinauf.

»Pardon«, rief sie. »Excusez-moi.« Er schlängelte sich fünfzig Meter vor ihr zwischen fröhlichen Touristen und feierwütigen Jecken hindurch. Als er an der Rue Sainte-Ursule links abbog, begann sie schneller zu gehen, aber als sie die Ecke erreichte, war er immer noch ein gutes Stück vor ihr. Sie rief »Bonjour« und winkte, aber er hatte ihr den Rücken zugekehrt, und falls er sie hörte, war ihm vermutlich nicht bewusst, dass er gemeint war.

Er näherte sich der Rue Saint-Louis und den Menschenmassen auf dem Weg zum Ice Palace. Unter den Tausenden von Menschen würde sie ihn bestimmt aus den Augen verlieren.

»Chief Inspector.«

Der Ruf war nicht so laut wie ihre bisherigen, aber der große Mann blieb wie angewurzelt stehen. Von ihm sah sie nur den Rücken, aber ihr entging nicht, wie ihn einige Leute mit bösen Blicken bedachten, weil sie ihm plötzlich ausweichen mussten, um auf dem schmalen Gehsteig nicht mit ihm zusammenzustoßen.

Er drehte sich um. Sie fürchtete, er könnte verärgert sein, aber sein Gesichtsausdruck war freundlich, forschend. Sein Blick streifte über die Menge von Gesichtern, bis er auf ihr haften blieb, die inzwischen stocksteif dastand. Er lächelte, und gemeinsam schlossen sie die Lücke zwischen ihnen.

»Désolé«, sagte sie, als sie einander erreichten. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich störe.«

»Aber nicht doch.«

Es kam zu einem Moment verlegenen Schweigens. Er äußerte sich nicht dazu, dass sie wusste, wer er war. Das war offensichtlich, und wie sie hielt er es nicht für nötig, mit Offensichtlichem Zeit zu vergeuden.

»Sie sind doch aus der Bibliothek?«, sagte er. »Was kann ich für Sie tun?«

Sie standen an der belebten Kreuzung von Saint-Louis und Sainte-Ursule. Familien versuchten, sich an ihnen vorbeizudrängen. Es brauchte nicht viel, um die schmale Durchgangsader zu verstopfen.

Sie zögerte. Gamache blickte sich um und deutete die Straße hinunter, dem Menschenstrom entgegen.

»Haben Sie Lust auf einen Kaffee? Ich kann mir vorstellen, dass Sie einen vertragen könnten.«

Sie lächelte, zum ersten Mal an diesem Tag, und seufzte. »Ja, s’il vous plaît

Sie kämpften sich ein Stück die Straße hinunter, blieben schließlich vor einem kleinen Haus stehen. Es war weiß gekalkt, mit einem knallroten Blechdach und einem Schild darauf. Aux Anciens Canadiens.

»Eigentlich eine Touristenfalle, aber um diese Zeit dürfte nicht viel los sein«, sagte Gamache auf Englisch und öffnete die Tür. Sie fanden sich in der für Québec nicht unüblichen Situation, dass die frankophone Person aus Höflichkeit Englisch sprach und die anglophone Französisch. Sie betraten das gedämpft beleuchtete, gemütliche Restaurant, das mit seinen Steinwänden und der niedrigen Decke mit den Originalbalken das älteste der Provinz war.

»Vielleicht sollten wir uns erst mal auf eine Sprache einigen«, schlug Gamache vor, nachdem sie Platz genommen hatten und der Kellner ihre Bestellung aufgenommen hatte.

Elizabeth lachte und nickte.

»Wie wär’s mit Englisch?«, fragte er. So nahe war sie ihm bisher noch nie gekommen. Er war Mitte fünfzig, wusste sie aus den Pressemeldungen. Er war kräftig, leicht korpulent, aber es waren seine Augen, die ihr besonders an ihm auffielen. Sie waren ruhig und von einem tiefen Braun.

Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte angenommen, sie seien stechend, kalt, analytisch, Augen, die so viele fürchterliche Dinge gesehen hatten, dass sich ihre weichen Zentren verhärtet hatten. Aber die Augen dieses Mannes waren nachdenklich, warm.

Der Kellner brachte ihr einen Cappuccino, ihm einen Espresso. Die letzten Frühstücksgäste waren im Aufbruch begriffen, und sie hatten einen Tisch in einer stillen Ecke bekommen.

»Sie wissen doch, was heute Morgen passiert ist?«, fragte Elizabeth MacWhirter. Der aromatische Kaffee war vorzüglich. Sie leistete sich nicht oft guten Kaffee, und dieser war ein wahrer Genuss.

»Inspector Langlois hat mir erzählt, dass im Keller der Literary and Historical Society eine Leiche gefunden wurde.« Gamache beobachtete sie, während er sprach. »Es war kein natürlicher Tod.«

Sie war ihm dankbar, dass er nicht Mord gesagt hatte. Das Wort war zu schockierend. Sie hatte es in der Sicherheit ihrer Gedanken ausprobiert, war aber noch nicht bereit, es in der Öffentlichkeit zu tun.

»Als wir heute Morgen zur Arbeit gekommen sind, haben die Telefone nicht funktioniert. Deshalb hat Mr. Wilson bei Bell Canada angerufen, um den Schaden beheben zu lassen.«

»Der Techniker ist schnell gekommen«, sagte Gamache.

»Sie kennen uns inzwischen. Das Gebäude ist alt, dringend renovierungsbedürftig. Die Telefonanlage ist oft ausgefallen, mal war es ein Kurzschluss, dann wieder hat eine Maus eine Leitung angenagt. Inzwischen dachten wir allerdings, wir hätten endlich Ruhe, weil erst vor Kurzem alle Leitungen erneuert worden sind.«

»Wann sind Sie heute Morgen in die Bibliothek gekommen?«

»Um neun. So bleibt uns eine Stunde, um Bücher einzuordnen und andere Dinge zu erledigen, bevor die Bibliothek um zehn Uhr für den Publikumsverkehr öffnet. Aber das wissen Sie ja inzwischen.«

Er lächelte. »Ja. Es ist eine wundervolle Bibliothek.«

»Wir sind sehr stolz auf sie.«

»Sie sind also um neun angekommen und haben sofort bei Bell angerufen?«

»Der Techniker war keine zwanzig Minuten später da. Er hat etwa eine halbe Stunde gebraucht, um die Fehlerquelle zu finden. Er dachte, es sei ein defektes Kabel im Keller. Wir haben alle mal wieder eine Maus im Verdacht gehabt.«

Sie hielt inne.

»Wann wurde Ihnen klar, dass es keine war?« Gamache spürte, dass sie jetzt Hilfe benötigte, um die Geschichte weiterzuerzählen.

»Wir haben ihn gehört. Den Techniker. Seine Schritte auf der Treppe. Er ist nicht gerade klein, und es hat sich wie eine ganze Rinderherde angehört. Er kam ins Büro gestürmt und stand erst mal einfach nur da. Dann ist es aus ihm herausgebrochen. Im Keller sei ein Toter. Er habe ihn ausgegraben. Armer Kerl. Wahrscheinlich wird er eine Weile brauchen, um sich von dem Schock zu erholen.«

Gamache pflichtete ihr bei. Manche steckten so etwas erstaunlich rasch weg, andere nie.

»Sie sagen, er hat den Toten ausgegraben. Hat Ihr Keller keinen Betonboden?«

»Nein, er ist aus gestampfter Erde. Ursprünglich hat er als Rübenkeller gedient.«

»Ich dachte, als Gefängnis. Waren dort unten früher keine Zellen?«

»Nein, die Zellen waren eine Etage darüber. Das unterste Kellergeschoss ist schon mehrere Hundert Jahre alt und wurde zur Lagerung von Lebensmitteln verwendet. Als der Techniker sagte, er habe eine Leiche gefunden, dachte ich, er meinte ein Skelett. In Quebec City werden ständig irgendwelche Knochen ausgegraben. Vielleicht ein hingerichteter Sträfling. Winnie und ich sind nachsehen gegangen. Ich bin gar nicht ganz reingegangen, das war auch nicht nötig. Wir konnten schon von der Tür aus sehen, dass es kein Skelett war. Der Mann kann noch nicht lange tot gewesen sein.«

»Das war sicher ein ziemlicher Schock für Sie.«

»Allerdings. Ich habe schon einige Tote gesehen, im Krankenhaus oder im Bestattungsinstitut. Einmal ist eine Freundin im Schlaf gestorben, und ich habe sie gefunden, als ich sie zum Bridge abholen wollte. Aber das war etwas anderes.«

Gamache nickte. Das konnte er verstehen. Es gab Orte, wo Tote sein sollten, und Orte, wo nicht. Unter einer Bibliothek, und nur notdürftig verscharrt, hatten sie nichts zu suchen.

»Was hat Ihnen der Inspector alles erzählt?«, fragte Elizabeth MacWhirter. Es brächte nichts, diesem Mann gegenüber Zurückhaltung zu üben, wurde ihr klar. Am besten, sie rückte gleich damit heraus.

»Leider habe ich ihm nicht allzu viele Fragen gestellt, aber er hat mir bestätigt, dass es ein gewaltsamer Tod war.«

Sie blickte auf ihre inzwischen leere Tasse hinab, die sie getrunken hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die rare Köstlichkeit vergeudet, nur noch ein Schaumrand davon übrig. Sie war versucht, ihn mit dem Finger herauszustreichen, ließ es aber sein.

Inzwischen war ihnen die Rechnung gebracht worden. Sie lag auf dem Tisch. Zeit zu gehen. Der Chief Inspector zog den Beleg zu sich heran, aber dabei beließ er es. Er schaute sie weiter an. Abwartend.

»Ich bin Ihnen gefolgt, um Sie um einen Gefallen zu bitten.«

»Ja, Madame?«

»Wir brauchen Ihre Hilfe. Sie kennen die Bibliothek. Ich glaube, Sie mögen sie.« Er neigte den Kopf. »Sie sind eindeutig mit dem Englischen vertraut, und nicht nur mit der Sprache. Ich fürchte mich vor dem, was das alles für uns bedeuten könnte. Wir sind eine kleine Community, und uns liegt sehr viel an der Literary and Historical Society.«

»Das ist mir durchaus klar. Aber bei Inspector Langlois sind Sie in guten Händen. Er wird Sie respektvoll behandeln.«

Sie musterte ihn kurz, dann rückte sie damit heraus. »Können Sie nicht einfach mal zu uns kommen und sich umsehen, vielleicht ein paar Fragen stellen? Sie machen sich keine Vorstellung, was für eine Katastrophe das ist. Nicht nur für das Opfer, auch für uns.« Sie fuhr rasch fort, bevor er seine Weigerung aussprechen konnte. »Ich weiß, was wir Ihnen damit zumuten. Wirklich.«

Gamache bezweifelte, dass sie das wusste, aber ihm war klar, dass sie es ehrlich meinte. Er blickte auf seine Hände hinab, die zu lockeren Fäusten geballt auf dem Tisch lagen. Er schwieg, und in die nun eintretende Stille schlich sich wie immer die jugendliche Stimme. Inzwischen vertrauter als die seiner eigenen Kinder.

»Und an Weihnachten besuchen wir zuerst Suzannes Familie und dann meine eigene. Ihre zum réveillon, meine für die Messe am Weihnachtsmorgen.« Die Stimme sprach immer weiter, über triviale, belanglose, alltägliche Dinge. Über die Dinge, die ein Durchschnittsleben ausmachten. Eine Stimme, die er nicht mehr blechern in seinen Ohren hatte, sondern mittlerweile in seinem Kopf, in seinem Bewusstsein. Ständig da, ständig sprechend. Unablässig.

»Bedaure, Madame, aber ich kann Ihnen nicht helfen.«

Er betrachtete die alte Frau, die ihm gegenübersaß. Mitte siebzig, schätzte er. Schlank, mit feinem Knochenbau. Sie trug kaum Make-up, nur ein wenig um die Augen und Lippenstift. Wenn weniger mehr war, hatte sie eine Menge. Sie war der Inbegriff kultivierter Zurückhaltung. Ihr Kostüm war nicht der letzte Schrei, aber mit seinem klassischen Schnitt käme es nie aus der Mode.

Sie hatte sich ihm als Elizabeth MacWhirter vorgestellt, und obwohl er kein gebürtiger Quebecer war, sagte ihm der Name etwas. Die MacWhirter Shipyards. Die MacWhirter-Papierfabriken im Norden der Provinz.

»Bitte. Wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen.«

Ihm war klar, wie viel sie diese Bitte kostete, denn sie wusste, in welche Situation sie ihn damit brachte. Und trotzdem hatte sie sie gestellt. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie verzweifelt sie sein musste. Ihre wachen blauen Augen lösten sich keinen Moment von den seinen.

»Désolé«, sagte er sanft, aber entschieden. »Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen. Und könnte ich Ihnen helfen, täte ich es. Aber …« Er sprach nicht zu Ende. Er wusste selbst nicht, was nach dem »aber« kommen sollte.

Sie lächelte. »Es tut mir leid, Chief Inspector. Ich hätte Sie gar nicht erst fragen sollen. Verzeihen Sie mir. Ich fürchte, meine eigenen Bedürfnisse haben mich blind gemacht. Ich bin sicher, Sie haben recht und Inspector Langlois wird seine Sache gut machen.«

»Ich verstehe, dass die Nacht eine Erdbeere ist«, sagte Gamache mit einem verhaltenen Lächeln.

»Oh, das haben Sie gehört?« Elizabeth lächelte. »Die arme Winnie. Kein Ohr für Sprachen. Lesen kann sie Französisch bestens, sie hatte in der Schule immer nur hervorragende Noten, aber mit dem Sprechen hapert es gewaltig. Ihr Akzent könnte einen Zug zum Stehen bringen.«

»Inspector Langlois hat sie möglicherweise vor den Kopf gestoßen, weil er sie nach ihrer Herkunft gefragt hat.«

»Das war sicher nicht sehr hilfreich«, gab Elizabeth MacWhirter zu. Ihre Heiterkeit verflog, um wieder Besorgnis zu weichen.

»Es besteht überhaupt kein Grund zur Sorge«, versicherte er ihr.

»Aber ich glaube, Sie wissen nicht alles. Sie wissen nicht, wer der Tote ist.«

Das hatte sie mit gesenkter Stimme gesagt, im Flüsterton. Sie klang wie Reine-Marie, wenn sie ihren Enkelinnen ein Märchen vorlas. Es war die Stimme, die sie nicht für die gute Fee verwendete, sondern für die böse Hexe.

»Wer?« Auch Gamache senkte die Stimme.

»Augustin Renaud«, flüsterte Elizabeth MacWhirter.

Gamache setzte sich zurück und sah sie an. Augustin Renaud. Tot. In der Literary and Historical Society ermordet. Jetzt wusste er, warum Elizabeth MacWhirter so verzweifelt war.

Und er wusste, dass sie allen Grund dazu hatte.

Heimliche Fährten

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