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Armand Gamache machte es sich auf dem abgenutzten Ledersofa unter der Büste von General Wolfe bequem. Er nickte dem alten Mann ihm gegenüber zu und zog die Briefe aus seiner Umhängetasche. Nach dem Stadtspaziergang mit Émile und Henri war er nach Hause gegangen, um seine Post und seine Notizen zu holen. Er hatte alles in seine Tasche gepackt und sich mit Henri erneut auf den Weg gemacht.

In die totenstille Bibliothek der Literary and Historical Society.

Dort blickte er jetzt auf den dicken braunen Umschlag, der neben ihm auf dem Sofa lag. Die Briefe aus seinem Büro in Montréal, die an Émiles Adresse weitergeleitet worden waren. Agent Isabelle Lacoste hatte seine Post durchgesehen und eine Nachricht beigefügt.

Cher Patron,

es war gut, neulich mit Ihnen zu sprechen. Ich beneide Sie um die paar Wochen in Québec. Ich liege meinem Mann ständig in den Ohren, dass wir mit den Kindern zum Carnaval fahren sollten, aber er findet, sie sind noch zu klein dafür. Wahrscheinlich hat er recht. In Wirklichkeit möchte ich einfach gern selbst hin.

Die Vernehmung des Verdächtigen (ganz schön schwer, ihn so zu nennen, wo wir doch alle wissen, dass es keinerlei Verdacht gibt, nur Gewissheit) geht weiter. Ich habe nicht gehört, was er, wenn überhaupt etwas, gesagt hat. Wie Sie wissen, wurde eine Royal Commission eingesetzt. Haben Sie schon vor ihr ausgesagt? Ich habe meine Vorladung heute erhalten. Ich bin nicht sicher, was ich ihnen erzählen soll.

Gamache ließ den Zettel kurz sinken. Agent Lacoste würde ihnen natürlich die Wahrheit erzählen. Wie sie sich für sie darstellte. Anders konnte sie aufgrund ihres Wesens und ihrer Ausbildung gar nicht. Vor seiner Abreise hatte er alle in seiner Abteilung angewiesen zu kooperieren.

Wie das auch er getan hatte.

Er wandte sich wieder der Nachricht zu.

Noch weiß niemand, wohin das alles führen oder wo es enden wird. Aber es wird alles Mögliche gemunkelt. Die Stimmung ist angespannt.

Ich halte Sie auf dem Laufenden.

Isabelle Lacoste

Schwer geworden sank der Brief langsam in seinen Schoß. Er starrte geradeaus vor sich hin und sah Bilder von Agent Isabelle Lacoste, die ungebeten in seinem Bewusstsein aufblitzten. Wie sie sich über ihn beugte und auf ihn einzuschreien schien, obwohl er kein Wort hören konnte. Er spürte, wie sie mit ihren kleinen, kräftigen Händen seinen Kopf packte, sah, wie ihr Gesicht näher kam, wie ihr Mund sich bewegte, wie sie ihm mit eindringlichen Blicken etwas zu vermitteln versuchte. Spürte Hände, die ihm die Schutzweste vom Leib rissen. Sah das Blut an ihren Händen, sah ihren Gesichtsausdruck.

Dann sah er sie wieder.

Beim Begräbnis. Den Begräbnissen. In Uniform und in Reih und Glied mit dem Rest der berühmten Mordkommission der Sûreté du Québec. Und er, wie er seinen Platz an der Spitze des Trauerzugs einnahm. Was für ein bitterkalter Tag. Um diejenigen zu Grabe zu tragen, die in dieser verlassenen Fabrik unter seinem Kommando gestorben waren.

Er schloss die Augen und atmete tief ein, roch den Hauch von Moschus in der Luft der Bibliothek. Den Geruch von Alter und Beständigkeit, von Ruhe und Frieden. Von altmodischer Möbelpolitur, von Holz, von in abgegriffenem Leder gebundenen Wörtern. Er roch, ganz schwach nur, seinen eigenen Duft. Rosenwasser und Sandelholz.

Und er dachte an etwas Schönes, etwas Erfreuliches, an eine Art sicheren Hafen. Und fand ihn in Reine-Marie, erinnerte sich an ihre Stimme, die er am Morgen durchs Handy gehört hatte. Gutgelaunt. Zu Hause. In Sicherheit. Ihre Tochter Annie würde mit ihrem Mann zum Abendessen vorbeikommen. Einkäufe mussten erledigt, Blumen gegossen und E-Mails beantwortet werden.

Er konnte sie vor sich sehen, wie sie in ihrer Wohnung in Outremont beim Telefonieren am Regal stand, das sonnige Zimmer voller Bücher und Zeitschriften und bequemer Möbel, aufgeräumt und friedlich.

Das alles strahlte, wie auch Reine-Marie, eine gewisse Ruhe aus.

Und er spürte, wie sein rasender Puls langsamer, sein Atem ruhiger wurde. Mit einem letzten langen Atemzug schlug er die Augen auf.

»Möchte Ihr Hund etwas Wasser?«

»Wie bitte?« Gamache, der erst in die Gegenwart zurückfinden musste, sah den alten Mann, der ihm gegenübersaß, auf Henri deuten.

»Ich habe meinen Seamus auch immer hierher mitgenommen. Er hat zu meinen Füßen gelegen, während ich gelesen habe. Wie Ihr Hund. Wie heißt er?«

»Henri.«

Vom Klang seines Namens plötzlich hellwach, setzte sich der junge Schäferhund auf. Seine großen Ohren schlackerten hin und her, wie Satellitenschüsseln, die ein Signal aufzufangen versuchten.

»Bitte, Monsieur«, sagte Gamache mit einem Lächeln, »sagen Sie bloß nicht B-A-L-L, sonst ist alles zu spät.«

Sein Gegenüber lachte. »Seamus ist immer völlig aus dem Häuschen geraten, wenn ich B-U-C-H gesagt habe. Dann wusste er, dass wir hierherkommen. Ich glaube, ihm hat es hier noch besser gefallen als mir.«

Gamache kam nun schon fast eine Woche täglich in die Bibliothek und hatte mit Ausnahme der geflüsterten Unterhaltungen, die er mit der alten Bibliothekarin auf der Suche nach Büchern über die Schlacht auf der Abraham-Ebene geführt hatte, mit niemand gesprochen.

Er empfand es als Erleichterung, nichts sagen und nichts erklären zu müssen, nicht das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass eine Erklärung gewünscht oder verlangt wurde. Das käme noch früh genug auf ihn zu. Erst einmal hatte er sich nach Frieden gesehnt und ihn in dieser kaum bekannten Bibliothek gefunden.

Obwohl er seinen Mentor seit Jahren regelmäßig besucht hatte und zu der Überzeugung gelangt war, das alte Québec bestens zu kennen, war er nie in diesem Gebäude gewesen. Hatte es unter all den schönen Wohnhäusern und Kirchen, Klöstern, Schulen, Hotels und Restaurants nicht einmal bemerkt.

Doch hier, ein Stück die Rue Saint-Stanislas hinauf, wo Émiles altes Steinhaus stand, hatte Gamache inmitten der Bücher einer alten englischen Bibliothek einen Zufluchtsort gefunden. Wo auch sonst?

»Möchte er Wasser?«, fragte der alte Mann noch einmal. Er schien helfen zu wollen, und obwohl Gamache nicht glaubte, dass Henri etwas brauchte, sagte er: »Ja, bitte.« Gemeinsam verließen sie die Bibliothek und gingen den holzvertäfelten Flur hinunter, vorbei an den Porträts ehemaliger Präsidenten der Literary and Historical Society. Es war, als wäre der alte Bau mit seiner eigenen Geschichte überkrustet.

Das verlieh ihm etwas Ruhiges, Beständiges. Obwohl das für den Großteil der Altstadt innerhalb der dicken Stadtmauern von Quebec City galt. Der einzigen Stadt Nordamerikas, die befestigt war, vor Angriffen geschützt.

In der jetzigen Zeit hatte das eher symbolische Bedeutung als praktische Gründe, aber Gamache wusste, dass Symbole mindestens ebenso viel bewirken konnten wie Bomben. Denn Männer und Frauen schieden dahin und Städte fielen, aber Symbole hatten Bestand und konnten sogar an Bedeutung gewinnen.

Symbole waren unsterblich.

Der alte Mann goss Wasser in eine Schüssel, und Gamache trug sie in die Bibliothek zurück und stellte sie auf ein Handtuch, damit kein Wasser auf die breiten dunklen Holzdielen kam. Henri zeigte natürlich kein Interesse.

Die beiden Männer setzten sich wieder. Gamache stellte fest, dass der Mann ein dickes Fachbuch über Gartenbau las. Er selbst wandte sich wieder seinen Briefen zu. Eine Auswahl von Schreiben, von denen Isabelle Lacoste dachte, sie könnten ihn interessieren. Die meisten von mitfühlenden Kollegen aus aller Welt, andere von Bürgern, die ihm ebenfalls ihre Empfindungen mitteilen wollten. Er las sie alle, beantwortete sie alle, war aber froh, dass ihm Agent Lacoste nur eine Auswahl geschickt hatte.

Ganz zum Schluss las er den Brief, von dem er bereits wusste, dass er dabei sein würde. Das war er immer. Jeden Tag. In einer inzwischen vertrauten Handschrift, hingeworfen, fast unleserlich, aber Gamache hatte sich an das Gekritzel gewöhnt und konnte es inzwischen entziffern.

Cher Armand,

diese Worte kommen mit meinen Gedanken und Gebeten, dass es Ihnen besser geht. Wir sprechen oft von Ihnen und hoffen, dass Sie uns besuchen kommen. Ruth sagt, Sie sollen Reine-Marie mitbringen, weil sie Sie eigentlich nicht leiden kann. Aber sie hat mich gebeten, Ihnen hallo zu sagen und dass Sie ihr vom Hals bleiben sollen.

Gamache musste grinsen. Das war noch eins der freundlicheren Dinge, die Ruth Zardo zu Menschen sagte. Fast liebevoll. Fast.

Allerdings habe ich auch eine Frage. Warum sollte Olivier die Leiche woandershin schaffen? Das ergibt keinen Sinn. Er hat es nicht getan.

Herzlich

Gabri

Wie immer hatte Gabri eine Lakritzpfeife beigelegt. Gamache nahm sie aus dem Umschlag, und nach kurzem Zögern bot er sie seinem Gegenüber an.

»Lakritze?«

Der Mann blickte zu Gamache auf, dann auf die schwarze Pfeife hinab.

»Sie bieten einem Fremden Süßigkeiten an? Da muss ich doch hoffentlich nicht die Polizei rufen.«

Gamache spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Hatte ihn der Mann erkannt? War das eine versteckte Botschaft? Aber die blassblauen Augen des Mannes waren vollkommen arglos, und er lächelte. Er griff nach der Pfeife, brach sie mittendurch und gab Gamache das größere Stück zurück. Das Stück mit der Zuckerflamme, das größte und beste Stück.

»Merci, vous êtes très gentil.« Danke, sehr freundlich von Ihnen, sagte der Mann.

»C’est moi qui vous remercie.« Ich habe zu danken, erwiderte Gamache. Es war ein üblicher, aber deswegen keineswegs unaufrichtiger Wortwechsel zwischen dankbaren Menschen. Der Mann hatte perfektes, gebildetes, kultiviertes Französisch gesprochen. Vielleicht mit einem leichten Akzent, aber Gamache wusste, dass das möglicherweise ein Vorurteil seinerseits war, weil er den Mann als englischsprachig erkannt hatte, während er selbst frankophon war.

Sie aßen die Süßigkeit und lasen ihre Bücher. Henri machte es sich bequem, und um halb vier machte Winnie, die Bibliothekarin, das Licht an. Über der Altstadt und der alten Bibliothek innerhalb ihrer mächtigen Mauern ging bereits die Sonne unter.

Gamache fühlte sich an eine Matrjoschka-Puppe erinnert. Das äußerste Gesicht war das von Nordamerika, und dahinter befand sich das von Kanada und dahinter Québec. Und hinter Québec? Eine noch kleinere Gemeinschaft, die kleine englische Community. Und dahinter?

Dieser Ort. Die Literary and Historical Society. Die neben der Community auch alle ihre Aufzeichnungen, Gedanken, Erinnerungen und Symbole in sich barg. Gamache musste nicht zu der Figur über ihm hinaufschauen, um zu wissen, wen sie darstellte. Dieses Gebäude barg ihre Führer, ihre Sprache, ihre Kultur und ihre Errungenschaften. Von der frankophonen Mehrheit außerhalb seiner Mauern längst vergessen oder erst gar nicht wahrgenommen, aber hier am Leben gehalten.

Es war ein außergewöhnlicher Ort, von dessen Existenz kaum ein Frankokanadier wusste. Als er Émile davon erzählte, hatte es sein alter Freund zunächst für einen Witz, eine Erfindung, gehalten, und das, obwohl er nur zwei Straßen weiter wohnte.

Ja, es war wie eine Matrjoschka. Unter jeder Puppe eine kleinere, bis ganz drinnen dieses Kleinod zum Vorschein kam. Aber nistete es dort oder verbarg es sich nur?

Gamache beobachtete Winnie, wie sie in der Bibliothek mit ihren deckenhohen Bücherregalen und den indianischen Teppichen auf dem Parkett herumging, vorbei an dem langen Holztisch und der Sitzgruppe. Letztere bestand aus zwei Ledersesseln und dem abgenutzten Ledersofa, auf dem Gamache saß, seine Briefe und seine Bücher auf dem Couchtisch. Bogenfenster durchbrachen die Bücherregale und durchfluteten den Raum mit Licht, wenn es welches gab, das sie hereinlassen konnten. Aber das auffallendste Element der Bibliothek war der geschwungene Balkon über ihnen. Man erreichte ihn und die bis an die Stuckdecke reichende zweite Etage mit ihren Bücherregalen über eine gusseiserne Wendeltreppe.

Der Raum war voll von Büchern. Von Licht. Von Frieden.

Gamache konnte nicht fassen, dass er nie etwas von der Existenz dieses Orts gewusst hatte. Er war eines Tages eher zufällig darauf gestoßen, als er einen Spaziergang machte, um die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben. Aber schlimmer noch als die kurz aufblitzenden, ungebetenen Bilder waren die Geräusche. Die Schüsse und das unter dem Kugelhagel berstende Holz und Mauerwerk. Die lauten Rufe, dann die Schmerzensschreie.

Aber lauter als all das war die ruhige, vertrauensvolle junge Stimme in seinem Kopf.

»Ich glaube Ihnen, Sir.«

Armand und Henri verließen die Bibliothek und brachen zu ihrer Einkaufsrunde auf, kauften bei J.A. Moisan verschiedene Rohmilchkäse, Pâté und Lammfleisch, in dem Lebensmittelladen gegenüber Obst und Gemüse und in der Bäckerei Paillard in der Rue Saint-Jean ein frisches, warmes Baguette. Da er vor Émile nach Hause kam, legte er frische Scheite auf das Feuer, um das kalte Haus zu wärmen. Es war 1752 erbaut worden, und wenn seine Steinmauern auch einen Meter dick waren und problemlos einer Kanonenkugel standgehalten hätten, waren sie dem Winterwind doch wehrlos ausgeliefert.

Während Armand das Essen zubereitete, wurde es wärmer im Haus, und als Émile eintraf, war es wohlig warm und vom Duft von Rosmarin, Knoblauch und Lammfleisch erfüllt.

»Salut«, rief Émile von der Eingangstür. Kurz darauf erschien er mit einer Flasche Rotwein in der Küche und griff nach dem Korkenzieher. »Mmh, riecht ja schon köstlich.«

Gamache trug das Tablett mit Baguette, Käse und Pâté ins Wohnzimmer und stellte es auf den Tisch am Feuer. Émile brachte den Wein.

»Santé.«

Die zwei Männer saßen mit Blick auf den Kamin und prosteten sich zu. Als beide etwas zu essen hatten, sprachen sie über den Verlauf ihres Tages. Émile erzählte von seinem Mittagessen mit Freunden in der Bar des Château Frontenac und den Recherchen, die er für die Société Champlain anstellte. Gamache berichtete von den stillen Stunden in der Bibliothek.

»Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?« Émile nahm einen Bissen Wildschweinpâté.

Gamache schüttelte den Kopf. »Aber es muss dort irgendwo sein. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Wir wissen, dass die französischen Truppen 1759 allenfalls eine halbe Meile von hier entfernt auf die Engländer gewartet haben.«

Es war die Schlacht, die jedes Quebecer Schulkind im Unterricht durchnahm und in der Phantasie mit hölzernen Musketen und imaginären Pferden immer wieder neu austrug. Die schreckliche Schlacht, die das Schicksal der Stadt, der Region, des Landes und des Kontinents entscheiden sollte. Die Schlacht auf der Abraham-Ebene, auch Battle of Quebec genannt, die 1759 den Siebenjährigen Krieg ein für alle Mal beendete. Welche Ironie, dass nach den jahrelangen erbitterten Kämpfen, die Franzosen und Engländer um die Herrschaft über Neufrankreich geführt hatten, die Entscheidungsschlacht so kurz war. Aber brutal.

Während Gamache sprach, stellten sich beide Männer die Szenerie vor. Ein kalter Septembertag, die Truppen unter Général Montcalm eine Mischung aus französischen Eliteeinheiten und Quebecern, die mehr Erfahrung mit Guerillataktiken als mit konventioneller Kriegführung hatten. Die Franzosen wollten unbedingt die Belagerung Québecs aufheben, wo fürchterlicher Hunger herrschte. Mehr als fünfzehntausend Kanonenkugeln waren auf die kleine Stadt niedergegangen, und jetzt, kurz vor Wintereinbruch, musste dem Ganzen ein Ende gemacht werden, wenn nicht alle den Tod finden sollten. Männer, Frauen, Kinder. Krankenschwestern, Nonnen, Zimmerleute, Lehrer. Alle würden sterben.

Général Montcalm und sein Heer wollten aufs Ganze gehen und es in einer ruhmreichen Schlacht mit den starken englischen Truppen aufnehmen.

Montcalm, ein tapferer, erfahrener Soldat, ein Befehlshaber, der immer an vorderster Front stand und mit gutem Beispiel voranging. Für seine Männer ein Held.

Und sein Gegner? Ein ebenso fähiger und tapferer Kommandant, General Wolfe.

Québec war an einer Engstelle des Flusses auf einem Felsvorsprung erbaut worden. Das war ein gewaltiger strategischer Vorteil. Kein Feind konnte die Stadt direkt angreifen, dazu hätte er die steilen Felswände erklimmen müssen, und das war unmöglich.

Aber ein Stück flussaufwärts konnten sie angreifen, und dort wartete Montcalm. Es gab jedoch noch eine andere Möglichkeit, ein nur geringfügig weiter entferntes Areal. Dorthin schickte Montcalm, ganz der gewiefte Feldherr, einen seiner besten Männer, seinen Aide-de-camp, Colonel Bougainville.

Und so legte er sich Mitte September 1759 auf die Lauer.

Doch Montcalm hatte einen Fehler gemacht. Einen verhängnisvollen Fehler. Sogar mehrere, wie Armand Gamache, Student der Geschichte Québecs, zu beweisen entschlossen war.

»Eine hochinteressante Theorie, Armand«, sagte Émile. »Und du glaubst, der Schlüssel dafür ist in dieser kleinen Bibliothek zu finden? In einer englischen Bibliothek?«

»Wo sonst?«

Émile Comeau nickte. Er war erleichtert, dass sein Freund Interesse für etwas zeigte. Als Armand und Reine-Marie eine Woche zuvor zu ihm gekommen waren, hatte Émile einen Tag gebraucht, um sich an Gamaches Veränderungen zu gewöhnen. Und sie betrafen nicht nur den Vollbart und die Narben. Er wirkte auch gedrückt, niedergeschlagen, schien schwer unter den Vorfällen der jüngsten Vergangenheit zu leiden. Auch jetzt beschäftigte sich Gamache mit der Vergangenheit, aber wenigstens mit der eines anderen, nicht mit der eigenen. »Bist du schon dazu gekommen, deine Post zu lesen?«

»Ja, und ein paar Briefe habe ich sogar schon beantwortet.« Gamache holte das Bündel hervor. Nach kurzem Zögern rang er sich dazu durch, einen Brief herauszunehmen. »Würdest du den bitte mal lesen.«

Émile nahm einen Schluck von seinem Wein und begann zu lesen. Dann lachte er und gab Gamache den Brief zurück.

»Diese Ruth scheint wirklich einen Narren an dir gefressen zu haben.«

»Sie würde mir an den Zöpfen ziehen, hätte ich welche«, sagte Gamache grinsend. »Wenn mich nicht alles täuscht, kennst du sie sogar.« Und er zitierte:

»Wer kränkte dich einst

so über alle Maßen,

dass du jedem Annäherungsversuch

mit verächtlich gekräuselten Lippen begegnest?«

»Diese Ruth?«, sagte Émile. »Ruth Zardo? Die Dichterin?« Und dann sprach er das erstaunliche Gedicht zu Ende, das Werk, das inzwischen in Schulen ganz Québecs durchgenommen wurde.

»Indes wir, die gut dich kannten,

deine Freunde (und Gegenstand deiner Verachtung),

sehen konnten, deinen Mut im Angesicht der Furcht,

deinen Scharfsinn, deine Umsicht

und uns an dich erinnern werden

mit etwas, was an Liebe grenzt.«

Die zwei Männer schwiegen eine Weile, blickten in das prasselnde Feuer, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Über Liebe und Verlust und nicht mehr wiedergutzumachende Schäden.

»Ich dachte, sie wäre längst tot«, sagte Émile schließlich und bestrich das knusprige Brot mit Pâté.

Gamache lachte. »Gabri hat sie Reine-Marie vorgestellt, wie etwas, das sie beim Ausheben des Kellers gefunden haben.«

Émile griff erneut nach dem Brief. »Wer ist dieser Gabri? Ein Freund?«

Gamache zögerte. »Ja. Er wohnt in diesem kleinen Dorf, von dem ich dir erzählt habe. Three Pines.«

»Ich erinnere mich, dass du ein paarmal dort warst. Wegen irgendwelcher Mordermittlungen. Ich habe das Dorf mal auf der Landkarte gesucht. Südlich von Montréal, hast du gesagt. An der Grenze zu Vermont?«

»Ja.«

»Dann muss ich wohl blind gewesen sein«, fuhr Émile fort, »denn ich habe es nicht gefunden.«

Gamache nickte. »Anscheinend haben die Kartographen Three Pines übersehen.«

»Wie findet es dann überhaupt jemand?«

»Keine Ahnung. Vielleicht taucht es plötzlich vor einem auf.«

»Ich war blind, doch jetzt bin ich sehend«, zitierte Émile. »Nur sichtbar für einen Halunken wie dich?«

Gamache lachte. »Der beste Café au Lait und die besten Croissants von ganz Québec. Ich Halunke kann mich glücklich schätzen.« Er stand noch einmal auf und legte einen weiteren Packen Briefe auf den Couchtisch. »Diese hier wollte ich dir auch zeigen.«

Émile las sie, während Gamache seinen Wein trank und Käse und Baguette aß. Er fühlte sich wie zu Hause in diesem Zimmer, das so vertraut und gemütlich war wie sein eigenes.

»Alle von diesem Gabri«, sagte Émile schließlich und tätschelte den Packen Briefe neben sich. »Wie oft schreibt er dir?«

»Jeden Tag.«

»Jeden Tag? Ist er von dir besessen? Eine Bedrohung?« Émile beugte sich vor, sein Blick plötzlich scharf, ohne jede Spur von Humor.

»Nein, nein, keine Angst. Er ist ein Freund.«

»Warum sollte Olivier die Leiche woandershin schaffen?«, las Émile aus einem der Briefe. »Es ergibt keinen Sinn. Er hat es nicht getan. Er schreibt in jedem Brief das Gleiche.« Émile nahm ein paar weitere und überflog sie. »Was meint er damit?«

»Es geht um einen Fall, in dem ich vergangenen Herbst ermittelt habe, am Labor-Day-Wochenende. In Oliviers Bistro in Three Pines wurde eine Leiche gefunden. Das Opfer hatte einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen. Er war tödlich.«

»Nur einen?«

Seinem Mentor war die Bedeutung dieses Details sofort aufgefallen. Ein einziger tödlicher Schlag. Das kam äußerst selten vor. Wenn eine Person erschlagen wurde, bekam sie meist mehrere Schläge ab. Normalerweise geriet der Mörder in Wut und schlug immer weiter auf sein Opfer ein. Es blieb fast nie bei einem einzigen Schlag, fest genug, um tödlich zu sein. Jemand hatte also genügend Wut für einen brutalen Schlag gehabt, aber auch genügend Selbstbeherrschung, um es bei diesem einen zu belassen. Eine beängstigende Kombination.

»Das Opfer hatte keinen Ausweis einstecken, aber dann haben wir versteckt im Wald eine Hütte gefunden. Dort hat er gelebt, und dort ist er ermordet worden. Du hättest sehen sollen, was wir da alles gefunden haben, Émile.«

Comeau hatte eine blühende Phantasie, gespeist von Jahrzehnten grausiger Funde. Er wartete darauf, dass Gamache ihm das Grauen in der Hütte beschrieb.

»Die reinste Schatzkammer.«

»Schatzkammer?«

»Ja.« Gamache lächelte, als er Émiles Gesicht sah. »Damit haben wir auch nicht gerechnet. Es war unglaublich. Sie war voller Antiquitäten und Kunstgegenstände. Dinge von unschätzbarem Wert.«

Jetzt hatte er die uneingeschränkte Aufmerksamkeit seines Mentors. Die schlanken Hände ineinander verschränkt, saß Émile vornübergebeugt da, entspannt und aufmerksam. Einmal ein Jäger von Mördern, immer einer. Und einer, der Blut riechen konnte. Alles, was Gamache über Morde wusste, hatte er von diesem Mann gelernt. Und noch einiges mehr.

»Ich höre«, sagte Comeau.

»Signierte Erstausgaben, alte Keramiken, Kristallgläser. Tausende Jahre alt. Ein Paneel aus dem Bernsteinzimmer und Geschirr, das einmal Katharina der Großen gehört hat.«

Und eine Geige. Von einem Moment auf den nächsten war Gamache wieder in dieser Hütte und sah Agent Paul Morin vor sich. Wie er schlaksig, unsicher, jung nach der Geige griff, sie unter sein Kinn klemmte, sich in sie hineinlehnte. Und mit einem Mal ergab sein Körper einen Sinn, als ob er dafür gemacht war, dieses Instrument zu spielen. Er füllte die urige Blockhütte mit dem schönsten, zu Herzen gehendsten keltischen Klagelied.

»Armand?«

»Entschuldigung.« Gamache kehrte in das Steinhaus in Quebec City zurück. »Ich musste gerade an was denken.«

Sein Mentor sah ihn forschend an. »Alles in Ordnung?«

Gamache nickte und lächelte. »An eine Melodie.«

»Habt ihr herausgefunden, wer diesen Einsiedler umgebracht hat?«

»Ja, haben wir. Die Beweislast war erdrückend. Wir haben die Tatwaffe und andere Gegenstände aus der Hütte im Bistro gefunden.«

»War dieser Olivier der Mörder?« Émile hob die Briefe hoch, und Gamache nickte.

»Niemand konnte es so richtig glauben, ich auch nicht, aber es war so.«

Émile betrachtete seinen Gast. Er kannte Armand gut. »Du mochtest ihn, diesen Olivier?«

»Er war ein Freund. Ist ein Freund.«

Gamache erinnerte sich, wie er in dem lauten Bistro gesessen hatte und in seinen Händen den Beweis hielt, der seinem Freund zum Verhängnis wurde. Die erschreckende Einsicht, dass Olivier tatsächlich der Mörder war. Er hatte die Schätze des Mannes aus der Blockhütte geraubt. Aber nicht nur das. Er hatte ihm das Leben geraubt.

»Du hast gesagt, die Leiche wurde im Bistro gefunden. Aber ermordet wurde er in der Hütte? Ist es das, was Gabri meint? Warum sollte Olivier die Leiche aus der Hütte ins Bistro geschafft haben?«

Gamache sagte lange nichts, und Émile drängte ihn nicht. Er nahm einen Schluck Wein, hing seinen eigenen Gedanken nach, blickte in die zarten Flammen und wartete.

Schließlich sah Gamache Émile an. »Gabris Frage ist durchaus berechtigt.«

»Sind die beiden ein Paar?«

Gamache nickte.

»Na ja, er kann einfach nicht glauben, dass es Olivier war. Verständlich.«

»Stimmt, er kann es nicht glauben. Trotzdem ist es eine berechtigte Frage. Falls Olivier den Eremiten in seiner Hütte im Wald ermordet hat, warum ihn dann an einen Ort bringen, wo er gefunden würde?«

»Noch dazu in sein eigenes Lokal.«

»Nein, hier wird die Sache kompliziert. Er hat die Leiche in ein Wellnesshotel in der Nähe gebracht. Er gibt zu, sie dorthin geschafft zu haben, um es zu ruinieren. Er hat das Hotel als Bedrohung betrachtet.«

»Du hast also deine eigene Antwort.«

»Genau das ist der Punkt«, sagte Gamache und drehte sich zu Émile herum. »Olivier behauptet, er hätte den Eremiten bereits tot in seiner Hütte gefunden und daraufhin beschlossen, mit der Leiche der Konkurrenz zu schaden. Er sagt, er hätte die Leiche nie woandershin gebracht, wenn er den Mann ermordet hätte. Er hätte sie liegen lassen. Oder sie in den Wald geschleppt, damit sie von den Kojoten gefressen wurde. Weshalb sollte ein Mörder jemanden umbringen und dann dafür sorgen, dass seine Leiche gefunden wird?«

»Augenblick.« Émile ordnete seine Gedanken. »Du sagst, die Leiche wurde in Oliviers Bistro gefunden. Wie kam es dazu?«

»Für Olivier ist es einfach dumm gelaufen«, sagte Gamache. »Der Inhaber des Hotels hatte die gleiche Idee. Als er die Leiche bei sich fand, brachte er sie ins Bistro, um Olivier zu ruinieren.«

»Reizende Gegend. Super Klima in der Gastronomie.«

Gamache nickte. »Es hat eine Weile gedauert, aber schließlich haben wir die Hütte und ihren kostbaren Inhalt gefunden. Und die Beweise, dass der Eremit dort ermordet wurde. Die Spurensicherung hat uns bestätigt, dass nur zwei Personen in der Hütte gewesen sein können. Der Eremit und Olivier. Und dann haben wir in Oliviers Bistro mehrere Gegenstände aus der Hütte gefunden, einschließlich der Tatwaffe. Olivier hat zugegeben, sie gestohlen zu haben …«

»Ganz schön dumm.«

»Geldgierig.«

»Hast du ihn festgenommen?«

Gamache nickte, als er an diesen fürchterlichen Tag zurückdachte, an dem er die Wahrheit erfahren hatte und entsprechend hatte handeln müssen. Und er sah Oliviers Gesicht vor sich und, noch schlimmer, das von Gabri.

Dann der Prozess, die Beweisaufnahme, die Aussage.

Das Urteil.

Gamache blickte auf die Briefe auf dem Sofa hinab. Jeden Tag einer, seit Oliviers Verurteilung. Alle herzlich, alle mit der gleichen Frage.

Warum sollte Olivier die Leiche woandershin schaffen?

»Du nennst diesen Mann immer nur den Eremiten. Wer war er?«

»Ein tschechischer Immigrant. Er hieß Jakob, aber das ist alles, was wir über ihn wissen.«

Émilie sah ihn an, dann nickte er. Es war ungewöhnlich, dass ein Mordopfer nicht identifiziert werden konnte, aber nicht völlig ausgeschlossen, insbesondere wenn es sich um jemanden handelte, der eindeutig nicht hatte identifiziert werden wollen.

Die zwei Männer gingen ins Esszimmer mit der nackten Steinwand und der offenen Küche, die erfüllt war vom Duft von Lammbraten mit Gemüse. Nach dem Essen packten sie sich warm ein, legten Henri die Leine an und traten in die bitterkalte Nacht hinaus. Ihre Sohlen knirschten auf dem gefrorenen Schnee, als sie sich den Menschenmassen anschlossen, die zur Eröffnung des Carnaval de Québec durch den großen Torbogen in der Stadtmauer auf die Place D’Youville strömten.

Im Trubel der Festivitäten, inmitten der fiedelnden Musikanten, der Schlittschuh laufenden Kinder und des Feuerwerks, das den Himmel über der Stadt erhellte, wandte Émile sich Gamache zu.

»Warum hat Olivier die Leiche woandershin geschafft, Armand?«

Gamache wappnete sich gegen das unablässige Krachen, die Lichtexplosionen, die drängelnden, johlenden Menschenmassen um sie herum.

Am anderen Ende der verlassenen Fabrik sah er Jean-Guy Beauvoir getroffen zu Boden fallen. Er sah die bewaffneten Männer über sich, wie sie das Feuer eröffneten, an einem Ort, der nahezu unbewacht hätte sein sollen. Er hatte einen Fehler gemacht. Einen verhängnisvollen Fehler.

Heimliche Fährten

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