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Nach dem Frühstück rief Gamache bei seinem Sohn in Paris an und hinterließ auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht mit der Nummer des Manoir. So tief in den Wäldern gab es keinen Handyempfang.

Der Tag plätscherte angenehm dahin, die Temperatur stieg langsam, aber stetig, bis sie irgendwann merkten, dass es richtig heiß war. Das Hotelpersonal schleppte Liegestühle durch den Garten und stellte sie für die schwitzenden Gäste an schattigen Plätzen auf.

»Spot!«

Der Ruf zerriss die schwüle Mittagsstille und ließ Gamache zusammenzucken.

»Spot!«

»Seltsam«, sagte Reine-Marie und nahm die Sonnenbrille ab, um ihren Mann anzusehen, »das klingt genauso, als würde jemand ›Feuer!‹ schreien.«

Gamache legte einen Finger zwischen die Seiten seines Buchs und blickte in die Richtung, aus der der Ruf kam. Er war neugierig, wie dieser »Spot« aussehen mochte. Wie ein Dalmatiner? Gefleckt?

Thomas Morrow rief noch einmal »Spot!« und steuerte über den Rasen auf einen gut gekleideten großen Mann mit grauen Haaren zu. Gamache nahm seine Sonnenbrille ab und sah genauer hin.

»Das heißt wohl, dass es mit der Ruhe und dem Frieden vorbei ist«, sagte Reine-Marie mit Bedauern. »Der widerwärtige Spot und sein grässliches Weib Claire sind eingetroffen.«

Gamache setzte die Brille wieder auf und blinzelte angestrengt, er war sich nicht sicher, ob er seinen Augen trauen sollte.

»Was ist?«, fragte Reine-Marie.

»Das errätst du nie.«

Die beiden Männer traten auf dem Rasen des Manoir Bellechasse aufeinander zu. Der distinguierte Thomas und sein jüngerer Bruder Spot.

Reine-Marie sah hinüber. »Aber das ist doch …«

»Ja, das glaube ich auch«, sagte Gamache.

»Und wo ist …«, Reine-Marie war völlig verwirrt.

»Keine Ahnung. Ach, da kommt sie ja.«

Um die Ecke des Manoir bog eine etwas derangiert aussehende Frau mit fliegenden Haaren, auf denen ein zerknautschter Sonnenhut thronte.

»Clara?«, flüsterte Reine-Marie Gamache zu. »Mein Gott, Armand, Spot und Claire Finney sind Peter und Clara Morrow. Das grenzt ja an ein Wunder.« Sie strahlte vor Freude. Die Neuankömmlinge, denen sie mit Grausen entgegengesehen hatte, entpuppten sich als ihre Freunde.

Jetzt begrüßte Sandra Peter, und Thomas umarmte Clara. Im Vergleich zu ihm war sie winzig und verschwand fast in seinen Armen, und als er sie wieder losließ, wirkte sie noch zerzauster.

»Du siehst richtig gut aus«, sagte Sandra, während sie Clara musterte und mit Befriedigung feststellte, dass diese an Hüften und Oberschenkeln ziemlich zugelegt hatte. Und unvorteilhaft gestreifte Shorts zu einem getupften Oberteil trug. Und so was nennt sich Künstlerin, dachte Sandra und fühlte sich gleich viel besser.

»Es geht mir auch gut. Sag mal, hast du abgenommen? Du musst mir unbedingt verraten, wie du das geschafft hast, Sandra. Ich würde wirklich gern zehn Pfund loswerden.«

»Du?«, rief Sandra. »Das hast du doch überhaupt nicht nötig.«

Die beiden Frauen entfernten sich Arm in Arm aus Gamaches Hörweite.

»Peter«, sagte Thomas.

»Thomas«, sagte Peter.

Sie nickten einander steif zu.

»Geht’s gut?«

»Könnte nicht besser sein.«

Sie sprachen Telegrammstil, kein Wort zu viel.

»Und selbst?«

»Hervorragend.«

Ihre Sprache beschränkte sich aufs Wesentliche. Über kurz oder lang wären nur noch Konsonanten übrig. Und danach kam Schweigen.

Gamache beobachtete sie von seinem schattigen Platz aus. Er wusste, dass er sich freuen sollte, seine Freunde hier zu sehen, und das tat er auch. Doch gleichzeitig stellte er fest, dass sich die Haare auf seinen Armen aufgerichtet hatten, und er spürte es in seinem Nacken kribbeln.

An diesem strahlenden, heißen Sommertag, an diesem idyllischen, friedlichen Ort war nicht alles so, wie es schien.

Clara ging zu der steinernen Brüstung der Terrasse, in der Hand ein Bier und ein Tomatensandwich, von dem unbemerkt Tomatenkerne auf ihre neue Baumwollbluse tropften. Sie versuchte, sich im Schatten zu verbergen, was nicht besonders schwierig war, da Peters Familie ihr sowieso kaum Beachtung schenkte. Sie war nichts weiter als die Schwiegertochter und Schwägerin. Am Anfang hatte sie sich darüber geärgert, aber inzwischen war sie froh.

Sie blickte auf die Staudenbeete und stellte fest, dass sie nur die Augen zusammenkneifen musste, und schon konnte sie so tun, als wäre sie zu Hause in Three Pines. So weit weg war das kleine Dorf ja auch gar nicht. Gleich hinter der nächsten Bergkette. Im Augenblick kam es ihr jedoch sehr weit weg vor.

Zu Hause schenkte sie sich im Sommer morgens immer eine Tasse Kaffee ein und ging barfuß hinunter zu dem Flüsschen Bella Bella hinter ihrem Haus, begleitet vom Duft von Rosen, Phlox und Lilien. Sie setzte sich in der milden Morgensonne auf eine Bank, trank ihren Kaffee und versank in den Anblick des gemächlich dahinfließenden Wassers, dessen Oberfläche im Sonnenschein golden und silbern glitzerte. Anschließend ging sie ins Atelier und malte bis zum Nachmittag. Dann holten Peter und sie sich jeder ein Bier und spazierten durch den Garten, oder sie trafen sich mit Freunden auf ein Glas Wein im Bistro. Es war ein ruhiges, beschauliches Leben. Genau, wie es ihnen gefiel.

Vor einigen Wochen war sie wie gewöhnlich zum Briefkasten geschlendert, um nach der Post zu sehen. Und da hatte sie die gefürchtete Einladung vorgefunden. Die rostige Klappe hatte beim Öffnen gequietscht, und schon als sie die Hand hineinsteckte, hatte sie gewusst, was es war. Sie spürte das dicke Papier des Umschlags zwischen ihren Fingern. Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn einfach wegzuwerfen, ihn in die blaue Papiertonne zu stopfen, damit man etwas Nützliches daraus machte, Klopapier zum Beispiel. Aber sie hatte es nicht getan. Stattdessen hatte sie die krakelige Schrift angestarrt, das unheilverkündende Gekritzel, das ein Gefühl bei ihr hervorrief, als würden Tausende von Ameisen über ihren Körper krabbeln, bis sie es nicht länger aushielt und den Umschlag aufriss. Es war die Einladung zum Familientreffen im Manoir Bellechasse Ende Juni. Einen Monat früher als sonst und genau zu der Zeit, zu der man in Three Pines die Fähnchen zur Feier von Saint-Jean-Baptiste abnahm und sich auf das alljährlich am ersten Juli auf dem Dorfanger stattfindende Fest zum kanadischen Nationalfeiertag vorbereitete. Es war der denkbar ungünstigste Termin, und sie war schwer in Versuchung, sich davor zu drücken, doch dann fiel ihr ein, dass sie in diesem Jahr an der Reihe war, die Spiele für die Kinder zu organisieren. Clara, die mit Kindern gut zurechtkam, solange sie sich vorstellte, sie wären junge Hunde, steckte plötzlich in der Zwickmühle und beschloss, die Entscheidung Peter zu überlassen. Aber da war noch etwas an dieser Einladung. Irgendetwas würde geschehen, während sie alle dort versammelt waren. Als Peter an diesem Nachmittag aus seinem Atelier gekommen war, hatte sie ihm den Umschlag gegeben und dabei sein schönes Gesicht beobachtet. Dieses Gesicht, das sie liebte, diesen Mann, den sie beschützen wollte. Was ihr meistens auch gelang. Aber nicht bei seiner Familie. Die griff von innen heraus an, und da konnte sie ihm nicht helfen. Sie sah seinen Gesichtsausdruck, zunächst verständnislos, doch dann begriff er.

Es würde schrecklich werden. Dennoch hatte er zu ihrer Überraschung zum Telefon gegriffen, seine Mutter angerufen und die entsetzliche Einladung angenommen.

Das war einige Wochen her, und jetzt war es plötzlich so weit.

Clara saß allein auf der Brüstung und betrachtete die anderen, wie sie in der grellen Sonne standen und Gin Tonic tranken. Keiner von ihnen trug einen Sonnenhut, lieber bekamen sie einen Hitzschlag oder Hautkrebs. Peter unterhielt sich mit seiner Mutter und beschirmte zum Schutz vor der Sonne die Augen mit der Hand, als wäre er mitten in einem militärischen Gruß erstarrt.

Während Thomas vornehm und elegant aussah, wirkte Sandra so, als sei sie in ständiger Alarmbereitschaft. Ihr Blick schoss hierhin und dorthin, beurteilte Essensportionen, beobachtete die hin und her eilenden Kellner, registrierte, wer wann was bekam, und verglich es mit dem, was ihr gebracht wurde.

Auf der anderen Seite der Terrasse, ebenfalls im Schatten, entdeckte Clara Bert Finney. Er schien seine Frau zu beobachten, was sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen ließ. Sie sah in dem Moment weg, als sein umherirrender Blick sie erfasste.

Clara trank einen Schluck von ihrem kalten Bier und packte dabei den dicken Haarschopf, der ihr schweißnass im Nacken klebte, hob ihn an und wedelte damit ein paarmal hin und her, um sich Kühlung zu verschaffen. Da bemerkte sie, dass Peters Mutter zu ihr hersah, das hübsche zartrosa überhauchte Gesicht von unzähligen Falten durchzogen, die hellblauen Augen nachdenklich und freundlich. Eine reizende englische Rose, die dazu verlockte, näher zu kommen, sich über sie zu beugen. Zu spät merkte man, dass sich tief zwischen den Blütenblättern eine Wespe versteckte und darauf wartete, das zu tun, was Wespen nun mal taten.

Nur noch vierundzwanzig Stunden, sagte sich Clara. Morgen nach dem Frühstück können wir wieder fahren.

Eine Bremse flog um ihren verschwitzten Kopf, und Clara wedelte so wild mit den Armen, dass sie den Rest ihres Sandwiches von der Brüstung in das darunter liegende Blumenbeet fegte. Die Gebete einer Ameise waren erhört worden, auch wenn die, auf der es landete, das anders sehen mochte.

»Claire hat sich überhaupt nicht verändert«, sagte Peters Mutter.

»Du auch nicht, Mutter.«

Peter bemühte sich um den gleichen höflichen Ton wie sie, und er fand, dass ihm die optimale Mischung aus Verbindlichkeit und Verachtung geglückt war. So subtil, dass sich niemand richtig auf den Schlips getreten fühlen konnte, so offensichtlich, dass es niemandem entging.

Auf der anderen Seite der Terrasse spürte Julia, wie ihre Füße in den dünnsohligen Sandalen auf den glühend heißen Steinfliesen zu schmoren anfingen.

»Hallo, Peter.« Sie verdrängte den Gedanken an ihre bedauernswerten Füße, ging zu ihrem jüngeren Bruder und begrüßte ihn mit zwei gehauchten Wangenküssen. »Gut siehst du aus.«

»Du aber auch.«

Schweigen.

»Angenehmes Wetter«, sagte er.

Julia zermarterte sich das Hirn nach einer klugen Bemerkung, irgendetwas, das geistreich und intelligent war. Etwas, das bewies, dass sie glücklich war. Dass ihr Leben nicht der Scherbenhaufen war, für den er es hielt. Im Stillen sagte sie sich ein paarmal Peters praller pinker Pickel platzt vor. Das half.

»Wie geht es David?«, fragte Peter.

»Ach, du kennst ihn ja«, antwortete Julia leichthin. »Er kommt mit jeder Situation zurecht.«

»Sogar damit, im Gefängnis zu sitzen? Aber du bist ja da.«

Sie musterte sein ausdrucksloses, hübsches Gesicht. War das eine Beleidigung? Sie war schon so lange nicht mehr mit ihrer Familie zusammen gewesen, dass sie ganz aus der Übung war. Sie kam sich vor wie eine pensionierte Fallschirmspringerin, die ohne Vorwarnung aus einem Flugzeug geschubst wurde.

Vor vier Tagen war sie am Ende ihrer Kräfte hier angekommen. Das vergangene Jahr war eine einzige Katastrophe gewesen, und Davids Prozess hatte das letzte Lächeln, die letzte nichtssagende Nettigkeit, die letzte Höflichkeitsfloskel aus ihr herausgequetscht. Mit dem Gefühl, betrogen, gedemütigt und bloßgestellt worden zu sein, war sie hierhergekommen, um ihre Wunden zu lecken. Zu der fürsorglichen Mutter und den großen, stattlichen Brüdern einer verklärten Erinnerung. Ganz bestimmt würden sie sich um sie kümmern.

Irgendwie hatte in ihrem Gedächtnis eine Lücke geklafft, warum sie diese Familie damals verlassen hatte. Jetzt war sie wieder mit ihr vereint, und die Erinnerung kehrte zurück.

»Das muss man sich mal vorstellen«, sagte Thomas, »da stiehlt dein Mann so viel Geld, und du hast keine Ahnung. Es muss entsetzlich gewesen sein.«

»Thomas«, sagte seine Mutter und schüttelte den Kopf. Der Tadel galt jedoch keineswegs der Beleidigung selbst, sondern dem Umstand, dass er sie vor dem Personal ausgesprochen hatte. Julia meinte, die glühenden Steine unter ihren Füßen zischen zu hören. Aber sie lächelte und ließ sich nichts anmerken.

»Dein Vater«, begann Mrs. Finney, hielt dann jedoch inne.

»Sprich doch weiter, Mutter«, sagte Julia und spürte, wie sich tief in ihrem Inneren eine altvertraute Kreatur zu regen begann. Wie sie aus jahrzehntelangem Schlaf erwachte. »Mein Vater?«

»Nun ja, du weißt, wie er dazu stand.«

»Nein, wie stand er denn dazu und wozu eigentlich?«

»Wirklich, Julia, das ist jetzt nicht das geeignete Gesprächsthema.« Ihre Mutter wandte ihr das rosige Gesicht zu. Ein sanftes Lächeln begleitete ihre Worte, eine zierliche Geste der Hände. Wie lange war es her, dass sie die Hände ihrer Mutter gespürt hatte?

»Tut mir leid«, sagte Julia.

»Spring, Bean, spring!«

Clara drehte sich um und sah Peters jüngste Schwester so leichtfüßig über den sorgfältig gestutzten Rasen hüpfen, dass ihre Füße kaum den Boden berührten. Bean rannte hinter ihr her. Das Kind hatte sich ein Badetuch um den Hals geknotet und lachte. Aber es sprang nicht. Typisch Bean, dachte Clara.

»Uff«, stieß Mariana aus, als sie wenig später die Terrasse betrat. Das Wasser lief an ihr herunter, als wäre sie durch eine Sprinkleranlage gelaufen. Sie nahm ein Ende ihres Schals und wischte sich damit über die Augen. »Ist Bean gesprungen?«, fragte sie ihre Familie. Niemand reagierte außer Thomas, der spöttisch grinste.

Bei der Hitze begann Claras BH zu kneifen. Sie zog ihn zurecht. Zu spät hob sie den Kopf. Peters Mutter beobachtete sie schon wieder, gerade so, als wäre sie mit einem speziell auf Clara eingestellten Bewegungsmelder ausgestattet.

»Was macht die Kunst?«

Die Frage überraschte Clara. Im ersten Augenblick dachte sie, sie würde Peter gelten, und fing an, die an ihrer Brust klebenden Tomatenkerne abzupulen.

»Meinst du mich?« Sie hob den Kopf und sah Julia an. Die Schwester, die sie am wenigsten kannte. Aber sie kannte die Geschichten, die Peter ihr erzählt hatte, und war auf der Hut. »Ach, na ja, du weißt ja. Es ist ein ewiger Kampf.«

Mit dieser Antwort machte sie es sich leicht, sie erwarteten sie. Clara, die Versagerin, die sich selbst als Künstlerin bezeichnete, aber nie etwas verkaufte. Die lächerliche Bilder von schmelzenden Bäumen malte und Figuren mit toupierten Haaren zusammenbastelte.

»Ich habe von deiner letzten Ausstellung gehört. Ziemlich beeindruckend.«

Clara richtete sich auf. Natürlich, die meisten Leute waren höflich genug, sich oberflächlich nach ihrer Arbeit zu erkundigen, aber dass jemand das Thema vertiefen wollte, kam selten vor.

Vielleicht meinte Julia es ja ehrlich.

»Kriegerinnen und ihre Uteri richtig?«, sagte Julia. Clara suchte in ihrem Gesicht nach einem Hinweis darauf, dass sie sich über sie lustig machte, konnte jedoch keinen entdecken.

Clara nickte. Zugegeben, nach wirtschaftlichen Maßstäben konnte man diese Serie nicht gerade als gewinnbringend bezeichnen, aber für ihr Selbstwertgefühl war sie ein voller Erfolg gewesen. Sie hatte daran gedacht, Peters Mutter eine der Uterus-Kriegerinnen zu Weihnachten zu schenken, war dann aber zu dem Schluss gekommen, dass sie damit vermutlich einen Schritt zu weit gehen würde.

»Haben wir euch das nicht erzählt?« Peter gesellte sich mit einem Lächeln auf dem Gesicht zu ihnen. Das war bei einem Familientreffen nie ein gutes Zeichen. Je mehr sie lächelten, desto unaufrichtiger waren sie. Clara versuchte, seinen Blick aufzufangen.

»Was erzählt?«, fragte Sandra in einem Ton, als befürchte sie das Schlimmste.

»Das von Claras Malerei.«

»Ich hätte gern noch ein Bier«, sagte Clara. Keiner achtete auf sie.

»Was ist damit?«, fragte Thomas.

»Nichts«, sagte Clara. »Nur Quatsch. Ihr kennt mich doch. Hier mal was probieren, da mal was probieren.«

»Ein Galerist ist an sie herangetreten.«

»Peter«, sagte Clara scharf. »Ich glaube nicht, dass wir das hier erörtern müssen.«

»Aber ich bin sicher, dass es sie interessiert«, sagte Peter. Er zog die Hand aus der Hosentasche und stülpte dabei das Futter nach außen, was nicht ganz zu seiner gepflegten Erscheinung passen wollte.

»Clara ist zu bescheiden. Die Galerie Fortin in Montréal plant eine Einzelausstellung mit ihr. Denis Fortin ist höchstpersönlich nach Three Pines gekommen, um sich ihre Arbeiten anzusehen.«

Schweigen.

Clara grub die Fingernägel in ihre Handflächen. Eine Bremse entdeckte die zarte blasse Haut hinter ihrem Ohr und stach zu.

»Wunderbar«, sagte Peters Mutter zu Clara. »Ich bin begeistert.«

Clara drehte sich überrascht zu ihrer Schwiegermutter um. Sie glaubte sich verhört zu haben. War sie in ihrem Urteil all die Jahre zu hart gewesen? Ungerecht gegenüber Peters Mutter?

»Meistens sind sie zu dick.«

Claras Lächeln begann zu verschwinden. Zu dick?

»Und nicht mit echter Mayonnaise. Aber Véronique hat sich wieder einmal selbst übertroffen. Hast du die Gurkensandwiches schon probiert, Claire? Sie sind wirklich ausgezeichnet.«

»Ja, sie sind echt toll«, stimmte Clara zu, als handele es sich um eine außergewöhnliche Delikatesse.

»Meinen Glückwunsch, Clara. Was für großartige Neuigkeiten.« Eine männliche Stimme, tief und freundlich und irgendwie vertraut. »Félicitations.«

Mit großen Schritten kam ein kräftiger Mann mittleren Alters und mit einem komischen Hut auf dem Kopf auf sie zu. Neben ihm ging eine elegante, kleine Frau, die zum Schutz vor der Sonne den gleichen Schlapphut trug wie er.

»Reine-Marie?« Clara sah sie ungläubig an. »Peter, ist das Reine-Marie?«

Peter starrte das Paar, das die Treppe heraufkam, mit offenem Mund an.

»Clara, das ist phantastisch«, sagte Reine-Marie und umarmte ihre Freundin. Joy von Jean Patou stieg Clara in die Nase und löste die gleiche Empfindung in ihr aus. Es kam ihr vor, als hätte man sie im letzten Moment aus den Klauen eines Folterknechts gerettet. Sie trat einen Schritt zurück und sah Reine-Marie Gamache prüfend an, um sicherzugehen. Nein, es gab keinen Zweifel, sie stand tatsächlich vor ihr und lächelte. Clara spürte die Blicke in ihrem Rücken, aber es war ihr egal. Jetzt spielte es keine Rolle mehr.

Dann küsste Armand sie auf beide Wangen und drückte ihren Arm. »Wir freuen uns sehr für Sie. Und für Denis Fortin.« Er blickte der Reihe nach in die versteinerten Mienen. »Fortin ist der führende Kunsthändler in Montréal, aber das wissen Sie wahrscheinlich. Besser kann man es nicht treffen.«

»Tatsächlich?« Peters Mutter schaffte es, gleichzeitig desinteressiert und missbilligend zu klingen. Als wäre Claras Erfolg etwas Ungehöriges. Auf jeden Fall war diese Zurschaustellung von Gefühlen, diese Begeisterung, ungehörig. Sie hatten hier ein Familientreffen, das dadurch rücksichtslos gestört wurde. Und, was vielleicht noch schlimmer war, es war ein unmissverständlicher Beweis dafür, dass Peter sich mit den Leuten aus den billigen Zimmern abgab. Es war die eine Sache, Bridge mit ihnen zu spielen, wenn man zusammen in einem fernab jeglicher Zivilisation gelegenen Hotel festsaß. Das fiel einfach unter gute Erziehung. Aber es war etwas ganz anderes, eigens ihre Gesellschaft zu suchen.

Gamache ging zu Peter und schüttelte ihm die Hand. »Hallo, Peter, schön, Sie zu sehen.«

Gamache lächelte, während Peter ihn anstarrte, als hätte er eine Geistererscheinung.

»Armand? Was in aller Welt machen Sie denn hier?«

»Na ja, das ist ein Hotel.« Gamache lachte. »Wir sind hier, um unseren Hochzeitstag zu feiern.«

»Gott sei Dank«, sagte Clara und trat zu Reine-Marie. Peter machte Anstalten, es ihr gleichzutun, als ihn ein leises Räuspern hinter ihm innehalten ließ.

»Wir können uns ja später noch unterhalten«, schlug Reine-Marie vor. »Sie wollen sicher erst einmal ein bisschen Zeit mit Ihrer reizenden Familie verbringen.« Sie umarmte Clara noch einmal rasch. Clara ließ sie nur widerstrebend wieder los, dann sah sie den Gamaches hinterher, wie sie hinunter zum See schlenderten. Plötzlich spürte sie, dass ihr der Schweiß über den Hals lief. Als sie ihn abwischen wollte, stellte sie erstaunt fest, dass sie Blut an den Fingern hatte.

Lange Schatten

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