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Kapitel 8

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München-Laim, 28. Mai 2019, abends

Sollte einer meiner Nachbarn aus dem Fenster unseres gediegenen Mehrfamilienhauses sehen, böte sich ihm das gleiche Bild wie an so vielen Abenden: Zielstrebig steuert die geschäftige Anwältin am Ende eines Arbeitstages ihre Wohnung an.

Die Maske fällt in dem Moment, als ich meine Wohnungstür hinter mir schließe. »Fuck!«

Die Handtasche fliegt quer durch den penibel aufgeräumten Flur und knallt an die Badezimmertür. Meine Hände zittern, als ich mir die Pumps von den Füßen ziehe, weit aushole und sie der Tasche hinterherwerfe. »Verfluchter Mistkerl!«

Der Blazer ist ein schlechtes Wurfgeschoss und schafft es nur die Hälfte des Flurs hinunter. Ich zerre an der Haarspange und der Schmerz, als ich mir selbst an den Haaren reiße, lässt mich innehalten. Schwer atmend stehe ich vor dem Flurspiegel und betrachte mein blasses Gesicht. »Mieses Arschloch!«

Ich hasse Tosh Silvers. Von ganzem Herzen! Was nie passieren dürfte, schließlich haben Emotionen in der Beziehung zu einem Mandanten nichts zu suchen. Das ist unangebracht und unprofessionell. Aber der Drecksack wollte mir eine Lektion erteilen, und, verdammte Scheiße, das hat er geschafft.

Seine Sekretärin hat er nur angesehen, als wäre sie die größte Enttäuschung seines Lebens, weil ein Buch fehlte. Ein Buch bei dieser ellenlangen Liste von Fachbüchern! Die Arme wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Und der Italiener mit der Bodybuilderfigur, der die zwei monströsen Kartons ins Büro getragen hat, kam auch nicht ungeschoren davon.

»Marco, soll Signorina Jennings wie ein kleines Kind in den Kisten kramen, wenn sie etwas benötigt?«, äffe ich meinen Mandanten nach. »Nein? Wo ist dann das passende Regal?«

Marco wusste offenbar gar nicht, wie ihm geschah. Auf die Idee, seinen Chef darauf hinzuweisen, dass von einem Regal nie die Rede gewesen war, kam er jedenfalls nicht. Stattdessen ließ er die Zurechtweisung seines Arbeitgebers stoisch über sich ergehen und entschuldigte sich anschließend für sein Versäumnis. »Mieser Tyrann!«

Dann dieser abgrundtiefe Seufzer, während sich Silvers mit zwei Fingern die Nasenwurzel massierte, als könnte er nicht glauben, von welch schlimmen Dilettanten er umgeben ist, bevor ich mit einem »Schluss für heute, Signorina Jennings, wir sehen uns Morgen um acht« entlassen wurde.

»Sehen Sie nur, was Sie mit Ihrer Aufsässigkeit angerichtet haben!«, brauchte er nicht hinzuzufügen, das hatte ich auch so verstanden.

Vielen Dank auch, Scheißkerl!

Nachdem ich einen letzten frustrierten Schrei von mir gegeben habe, lasse ich mich erschöpft auf den Boden plumpsen. Vielleicht hatte Christine doch recht. Silvers ist gefährlich, aber ganz anders, als ich mir das vorgestellt habe. Wenn das so weitergeht, bin ich ein Wrack, bevor die Verträge auch nur ansatzweise fertig sind – oder ich lande im Gefängnis, weil ich ihn mit juristischer Fachliteratur erschlage.

Ich presse meine Wange gegen das kalte Glas des Spiegels. Keine Ahnung, weshalb Silvers ausgerechnet mich drangsalieren muss, aber die Botschaft ist angekommen. Ich soll das gehorsame Weibchen spielen? Warum nicht? Denkt er, ich bekomme das nicht hin? Oder dass mein Stolz darunter leiden würde? Pah! In Wahrheit habe ich meinen Stolz schon vor Jahren abgegeben – an der Garderobe des Blue Parrot, wenn ich mich recht erinnere.

Ich schlafe schlecht und mache mich mit einem deutlichen Ziehen in der Magengegend am nächsten Morgen auf den Weg zu meinem neuen Arbeitsplatz. Wo Tosh Silvers mich damit überrascht, dass er geradezu höflich ist. Für seine Verhältnisse. Nicht dass »bitte« oder »danke« plötzlich Teil seines aktiven Wortschatzes wären. Doch er erklärt mir ganz zivilisiert, womit ich beginnen soll, wobei mir, wie schon am Tag zuvor, auffällt, wie präzise mein Mandant seine Vorstellungen formuliert.

An der Wand neben dem Besprechungstisch steht ein schickes Regal, darin meine Bücher, hübsch nach Farben sortiert. Ein nagelneuer Laptop wartet ebenso auf mich wie eine Flasche italienisches Mineralwasser.

Heute keine Spielchen?, denke ich irritiert, während ich Herrn Silvers versichere, dass alles wunderbar und zu meiner vollsten Zufriedenheit ist. »Ja, ich komme zurecht, vielen Dank«, sage ich, nehme Platz, und dann merke ich, wo der Haken ist: Mein Mandant sitzt mir im Nacken. Und zwar wortwörtlich. Silvers’ Schreibtisch steht genau in meinem Rücken. Er kann mich ungeniert beobachten. Sich jederzeit von hinten anschleichen. Mich zu Tode erschrecken, wenn ich völlig in meine Arbeit vertieft bin. Das würde zu ihm passen.

Aber er tut es nicht. Alles, was ich von Herrn Silvers in der nächsten Stunde höre, ist das Klappern seiner Tastatur. Ich fange gerade an, mich ein wenig zu entspannen, als das erste Mal das Telefon klingelt. An und für sich nichts Ungewöhnliches. Nur, dass Tosh Silvers bei diesem, wie auch bei den folgenden Telefonaten, ausschließlich auf Italienisch kommuniziert.

Ich verstehe kein Wort. Doch sein Tonfall lässt darauf schließen, dass ich nicht die Einzige bin, die er recht ungnädig abfertigt. Allerdings hört sich das in der fremden Sprache um einiges aufregender an, denn zu dem strengen Unterton gesellt sich ein melodischer Akzent, und dieser Mix jagt mir regelmäßig einen Schauer über den Rücken. So viel zum Thema konzentriertes Arbeiten.

Ich zucke zusammen, als er mich überraschend anspricht: »Mittagspause, Signorina Jennings.«

Zu meiner Erleichterung geht er daraufhin hinaus. Ich stehe auf und strecke meine schmerzenden Glieder. Offenbar ist es mir gestattet, meinen Arbeitsplatz zu verlassen. Allerdings fürchte ich, dass ich nie wieder zurückfinde, wenn ich mich in das Labyrinth hinter dem Blue Parrot wage. Unsicher betrachte ich die Bürotür, die mein Mandant sperrangelweit offengelassen hat.

»Setzen Sie sich doch zu mir!«, ruft die Sekretärin.

Oje. Dass Herrn Silvers’ Angestellte wahrscheinlich nicht gut auf mich zu sprechen sind, weil sie gestern Stress mit ihrem Chef bekommen haben, hatte ich ganz verdrängt. Dennoch wage ich mich in das Vorzimmer, wo mich die Sekretärin unerwartet freundlich anlächelt.

»Möchten Sie etwas aus der Küche des Blue Parrot? Sie schicken uns was hoch, ich muss nur Bescheid geben.«

Ich schüttle den Kopf. Allein bei der Vorstellung, dass Tosh Silvers mich dabei überrascht, wie ich in seinem Vorzimmer Spaghetti auf eine Gabel drehe, lässt meinen Magen rumoren.

»Ach, ihr jungen Dinger, immer auf Diät. Aber einen Cappuccino trinken Sie doch mit, oder?«

»Ja, gerne«, sage ich, und nachdem sie die Bestellung telefonisch durchgegeben hat, spreche ich an, was mir auf der Seele liegt: »Hören Sie, es tut mir leid, dass ich gestern so eine Unruhe …«

»Ach, Kindchen, machen Sie sich deswegen bloß keinen Kopf. Herr Silvers arbeitet so hart, da vergisst er manchmal, dass wir anderen nur Menschen sind, die hin und wieder einen Fehler machen.«

Oje. Die Sekretärin ist ja total vernarrt in ihren Chef. Jetzt tut es mir doppelt leid, dass sie meinetwegen Ärger hatte.

»Sehen Sie nur!« Sie nimmt einen hochwertigen Fotokalender von ihrem Schreibtisch. »Den hat mir Herr Silvers zum Geburtstag geschenkt. Dass er daran gedacht hat. Aber vor allem, dass er wusste, dass Cockerspaniel meine Lieblingshunde sind. Dabei würde ich ihn nie mit meinem Privatleben belästigen. Ist das nicht wunderbar?«

Na ja, ich finde das eher gruselig. Woher wusste ihr Chef das denn mit den Hunden? Aber ich glaube nicht, dass diese Frage ihre Heldenverehrung erschüttern würde, und zum Glück bringt in diesem Moment der Italiener mit der schiefen Nase den Cappuccino. Einträchtig rühren wir in den Tassen.

»Blue Parrot ist eigentlich ein ungewöhnlicher Name für ein italienisches Restaurant«, sage ich und hoffe, das Gespräch so von Silvers abzulenken. Erfolgreich.

»Ah, der Name stammt noch aus der Zeit, als die Amerikaner in München stationiert wurden. Da war immer was los. Im hinteren Teil, in dem heute diese vielen Zimmer sind, gab es einen richtigen Tanzsaal. Bands spielten auf, und so mancher GI verlor sein Herz an ein deutsches Fräulein …«

Die Sekretärin ist eine gute Geschichtenerzählerin, und schnell entsteht das Bild einer aufregenden Nachkriegs- und beginnenden Wirtschaftswunderzeit vor meinen Augen.

»Aber das war längst nicht alles. Im Keller …«, sie senkt verschwörerisch die Stimme, und ich stelle mir automatisch vor, dass dort Sodom und Gomorra herrschte, »… wurde gepokert.«

Wir kichern.

»Non è possibile, Liliane!«, sagt jemand kühl.

Ich zucke zusammen. Verdammt, Silvers sollte eine Glocke um den Hals tragen! Wenn ich wenigstens verstehen würde, wer jetzt schon wieder etwas falsch gemacht hat. Aber die Sekretärin antwortet fröhlich auf Italienisch und zwinkert mir verstohlen zu.

Okay. Kühl ist das neue Freundlich. Muss einem ja nur gesagt werden.

»Lassen Sie sich von Liliane nicht zu so einem Blödsinn verführen«, knurrt Silvers mich an, als wir in sein Büro zurückkehren.

Aha?

»Nur Deutsche trinken Cappuccino nach dem Mittagessen. Kein Italiener nimmt Sie mehr ernst, wenn er das sieht.«

Ich könnte einwenden, dass das mein Mittagessen war, aber ich bin so überrascht, weil Tosh Silvers eine geradezu flapsige Bemerkung macht, dass es mir glatt die Sprache verschlägt. Verwirrt nehme ich wieder vor meinem Computer Platz und hoffe, dass ich nun ein bisschen schneller vorankomme als am Vormittag.

Doch daraus wird nichts, denn es herrscht um einiges mehr Unruhe als in den Stunden vor der Mittagspause. Einige von Herrn Silvers’ Mitarbeitern erscheinen zum Rapport, anders kann man es kaum nennen. Auch diese Unterredungen finden nicht auf Deutsch statt, doch deutlich kann ich aus den Augenwinkeln die Anspannung von Silvers’ Besuchern wahrnehmen. Niemand würdigt mich eines Blickes, keiner setzt sich unaufgefordert, und zu lässigem Small Talk scheint es erst recht nicht zu kommen.

Bevor ich bei Christine anfing, habe ich mich kurz gefragt, ob ich wohl mit der herablassenden Art meiner zukünftigen Chefin umgehen kann. Aber wenn ich mir so ansehe, wie Silvers hier mehr wie ein Lehnsherr, denn wie der Chef einer modernen Unternehmensberatung auftritt, kommt mir Christine plötzlich wie der Gipfel der Kollegialität vor.

Noch ärgerlicher ist, dass mein Herz wie wild zu schlagen beginnt, wenn mein Mandant seine Stimme eine Oktave senkt, und gefährlich ruhig weiterredet. Ein untrügliches Anzeichen seiner Unzufriedenheit, wie es mir scheint. Aber nicht ich bin es ja, die sich seinen Unmut zugezogen hat. Es besteht also eigentlich kein Grund, nervös zu werden. Wahrscheinlich fürchte ich mich einfach vor dem Moment, an dem er merkt, wie langsam ich meine Arbeit erledige, und genauso mit mir reden wird.

Ich straffe die Schultern und beschließe, mich zusammenzureißen. Was mir mehr schlecht als recht gelingt, bis ich letztendlich mit einem »Schluss für heute, Signorina Jennings« entlassen werde.

Na gut. Wenn man mal davon absieht, dass mich Tosh Silvers fast mehr beunruhigt, wenn er mich kaum beachtet, als gestern, als er mich direkt ins Visier genommen hat, finde ich, der erste Arbeitstag lief gar nicht so schlecht.

Tosh - La Famiglia

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