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Kapitel 2

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München-Altstadt, 23. Mai 2019, abends

Unvermittelt tritt eine gedrungene Gestalt in einem abgerissenen Mantel, einer Wollmütze und mit einem mottenzerfressenen Bart aus der überdachten Nische des Eingangsbereichs eines Delikatessengeschäfts und streckt mir ihre offene Hand entgegen. Ich zucke zusammen. »Kruzinesen, bleib bloß weg von mir!«

Angst habe ich keine vor dem verlausten Gesellen. Er ist auch nicht der Grund für meine miese Laune. Eher der Tropfen, der das Fass gleich zum Überlaufen bringt.

»Hau ab!«, fahre ich ihn an, und tatsächlich dreht er sich um und schlurft davon.

Normalerweise habe ich kein Problem damit, solche Typen loszuwerden, indem ich ihnen freundlich, aber bestimmt die Gemeinverfügung erkläre, die das Kreisverwaltungsreferat München für das Betteln erlassen hat. Aber nach diesem durch und durch beschissenen Tag habe sogar ich Schwierigkeiten, die Contenance zu bewahren.

Ich eile weiter, begleitet von dem Stakkato meiner Absätze auf dem Asphalt. Das ist doch wirklich zum Kotzen, da hat man endlich das Referendariat geschafft, das 2. Staatsexamen – mit Bestnote! – in der Tasche, ergattert einen Job in einer renommierten Kanzlei, und was darf man machen? Den Mist, den die lieben Kolleginnen nicht selbst erledigen wollen. Oder Mandate, auf die keiner Bock hat, weil es sich um Kleinigkeiten handelt, die entweder gähnend langweilig oder völlig aussichtslos sind.

Wenn ein Tag schon damit beginnt, dass ein Klient in mein Büro platzt, der normalerweise von der Chefin persönlich betreut wird - aber nicht etwa, weil man mir endlich etwas zutraut, nein, der Herr Professor regt sich über seine Nachbarin und deren bellenden Hund auf. Und wer darf sich um die hysterische Frau und die kläffende Töle kümmern? Ganz klar ein Job für mich. Dafür habe ich Jura studiert – nicht!

Die Krönung kam dann heute Abend. Hetzt mich die Chefin auf das nächste Polizeirevier und macht es auch noch superdringend. Und was erwartet mich: Eine verlebte Frau mit knallrot gefärbten Haaren, die zugedröhnt auf dem Boden einer Gewahrsamszelle hockt. Auf den ersten Blick war mir klar, dass sie wohl keine Unterstützung braucht, weil sie Steuern hinterzogen oder gegen ihre Buchführungspflichten verstoßen hat. Was eigentlich los war, erfuhr ich von den Polizeibeamten, sie selbst brachte ja kaum einen vernünftigen Satz raus. Nicht mal meinen Namen konnte sie sich länger als fünf Minuten merken. Gott, war das nervig! Ich habe wirklich keine Geduld für solche Leute und heute schon gleich gar nicht.

Wenigstens hatte ich genug Taschentücher dabei, um ihr vollgekotztes Nuttenoutfit notdürftig sauber zu machen. Nicht aus Mitleid, sie tat mir nicht leid. Als Anwältin bin ich nicht dafür da, mit irgendwem mitzufühlen, sondern meinen Klienten zu ihrem Recht zu verhelfen.

Also überzeugte ich den Beamten, dass von ihr keine Gefahr mehr ausging. Wir stolperten aus dem Revier, und wer erwartete uns schon? Der steinreiche Herr Papa! Das erklärte zumindest, wie dieser Auftrag in unserer Kanzlei gelandet war. Ich dachte gerade, dass aus dieser absurden Geschichte doch noch ein interessantes Mandat werden könnte, da stiegen meine potenziellen Klienten in ihren Scheiß-Luxuswagen und ließen mich wie bestellt und nicht abgeholt stehen. Gehts noch? Gott, kann dieser Tag noch beschissener werden? Halt – bloß nicht so was denken, am Ende werde ich noch vom Bus überfahren oder so.

Jetzt wäre definitiv der richtige Zeitpunkt für einen After-Work-Cocktail. Doch statt die nächste Bar anzusteuern, bin ich leise vor mich hin fluchend auf dem Weg zurück in die Kanzlei, um den Revisionsantrag fertig zu machen, den meine Chefin morgen früh auf dem Tisch haben will.

Ich sollte nach Hause gehen und ihr morgen sagen, dass ich nicht gleichzeitig den rettenden Engel für gefallene Prinzessinnen spielen und nebenbei ihren Papierkram erledigen kann. Außerdem bin ich Anwältin in einer Kanzlei für Wirtschaftsstrafrecht und kein verdammter Sozialklempner oder Hundeflüsterer. Wie kommt sie überhaupt auf die Idee, mir diesem Kram aufzuhalsen?

Einen Moment lang bin ich tatsächlich versucht, wieder umzukehren. Mir das nicht bieten zu lassen. Aber dann tragen meine engen Pumps mich um die nächste Straßenecke, und das altehrwürdige Gebäude, in dem unsere Kanzlei mehrere Stockwerke belegt, liegt direkt vor mir.

Ganz oben brennt noch Licht. Christine, meine Chefin, ist noch da. Ich zögere nur einen winzigen Moment, dann marschiere ich weiter auf meinen Arbeitsplatz zu. Noch liegt mein Büro ganz unten, direkt neben dem Empfangstresen. Aber eines Tages werde ich da oben einziehen, wenn ich Juniorpartnerin in dieser Kanzlei werde. Das setzt allerdings voraus, dass ich nicht herumzicke, wenn man mir eine Aufgabe gibt, sondern zeige, dass ich allen Anforderungen gewachsen bin. Aber obwohl mir das klar ist, nervt es mich trotzdem. Ich will endlich beweisen, was ich kann!

Zwei Stunden nachdem ich die Kanzlei wieder betreten habe, spuckt der Drucker einen perfekt formulierten Revisionsantrag aus. Ich schlüpfe aus den Pumps und bewege meine schmerzenden Zehen. Schultern und Nacken sind ebenfalls total verspannt, und mein Magen knurrt. Ich verwerfe den Gedanken an Salamipizza und Netflix. Nein. Heute habe ich mir eine richtige Belohnung verdient.

Ich sehe mich vorsichtig um, so als würde ich damit rechnen, dass jeden Augenblick eine meiner Kolleginnen aus meinem Papierkorb krabbeln könnte, bevor ich die App LonelyHearts auf meinem Smartphone öffne und meinen Status auf »unverbindliches Date gesucht« ändere.

Um ehrlich zu sein, habe ich mir Christines Kanzlei nicht bloß deshalb ausgesucht, weil sie in München die renommierteste Adresse ist, wenn es um Wirtschaftsstrafrecht geht. Sondern auch, weil Christines Partner und Angestellte ausschließlich Frauen sind.

Nicht nur, dass ich dadurch über jeden Verdacht erhaben sein werde, mich hochgeschlafen zu haben oder die Quotenfrau zu sein, wenn ich eines Tages Partnerin bin. Nein, ich bin davon ausgegangen, dass traditionelle Rollenbilder in dieser Kanzlei keine Bedeutung haben.

Vielleicht ist das auch so. Doch ich glaube, von der freien Liebe hält meine Chefin eher wenig.

Aber das ist genau das, was ich suche: einen Mann, einen Schwanz, einen Orgasmus. Ich will niemanden, der mir unrasiert und mit zerknautschtem Gesicht beim Frühstück gegenübersitzt. Ich will keine schmutzigen Socken auf meinem Schlafzimmerboden finden und keine halb geschlossene Zahnpastatube im Bad. Ich will das alles nicht sehen. Doch vor allem will ich nicht, dass jemand mir so nahekommt, dass er auch meine Fehler und Macken sehen kann. Ganz zu schweigen von dem, was hinter meiner beherrschten Fassade liegt. Denn das wird unweigerlich dazu führen, dass ich verletzt werde. Diese Lektion musste ich lernen, als ich noch nicht in der Lage war, Lust von anderen Gefühlen zu trennen.

Auf Strümpfen gehe ich zurück zu meinem Schreibtisch, nehme zwei Müsliriegel aus dem obersten Fach, beiße in den ersten hinein und behalte mein Smartphone im Auge. Mein Profil bei LonelyHearts enthält ein Foto, auf dem ich meine braunen Haare offen trage, sodass sie in sanften Wellen über meine Schultern fallen. Dazu hat die Fotografin einen perfekt schmachtenden Blick eingefangen. Indem sie mich erst stundenlang gequält und mir dann eine Packung Double-Chocolate-Eis gezeigt hat. Sie verstand eben ihr Handwerk.

Rasch klopfen die ersten Typen an, aber erst bei dem Profilbild des Nutzers »Nobbi« halte ich inne. Der sieht ganz süß aus. Ich tippe auf ein Herzchen, und schon bevor ich den zweiten Müsliriegel ausgewickelt habe, ploppt eine Nachricht auf.

»Hallo, schöne Frau, ganz allein in dieser riesigen Stadt?«

Ich rolle mit den Augen. Bisschen schmalzig. Andererseits habe ich schon schlimmere Eröffnungssätze gelesen.

»Die Nacht ist zu jung, um nach Hause zu gehen«, texte ich zurück. Schmalzig kann ich auch!

»Die Nacht in Gesellschaft einer Flasche Rotwein zu verbringen, ist nicht viel besser«, kommt von ihm.

In dem Stil geht es noch ein wenig weiter, bis mein Gefühl mir sagt, dass der Typ in Ordnung ist. Keine Serienkillervibes. Ich schlage vor, ihn bei der Konversation mit der Rotweinflasche zu unterstützen, schließlich ist die Vinothek, in der er sitzt, fast ums Eck.

Dass ich mich nicht getäuscht habe, sehe ich, als ich die Weinstube betrete. Meinen dezenten Hinweis, dass ich noch kein Abendessen hatte, hat er sehr wohl registriert und eine Vorspeisenplatte bestellt. Außerdem stehen ein frisches Weinglas sowie eine große Flasche Wasser bereit. Er will mich also nicht abfüllen. Bonuspunkte. Dass sein Profilbild entstanden sein muss, als er zehn Jahre jünger war, fällt da kaum ins Gewicht. Wer macht das nicht?

»Norbert?«

»Mayra?«

Wir sind beide entzückt. Setzen uns einander gegenüber, erzählen uns von unseren Jobs, reden über München und den Wein. Er trägt einen Ehering, aber er kennt die Regeln: Von seiner Frau und den süßen Kindern will ich ebenso wenig wissen wie er von meinen verflossenen Liebhabern. Ich habe kein schlechtes Gewissen – warum sollte ich auch? Oder vielleicht führt er ja eine offene Ehe? Wer weiß? Nicht meine Sache. Nach jedem Schluck aus seinem Glas landet seine Hand wie zufällig näher bei meiner, bis er sanft meine Finger streichelt.

»Ich habe heute wirklich zu lang am Schreibtisch gesessen, meine Schultern schmerzen wie die Hölle«, sage ich schließlich.

Er versteht den Wink mit dem Zaunpfahl sofort. »Ich würde dir ja gerne den Nacken massieren, aber hier sähe das wohl ein wenig komisch aus. Willst du mit auf mein Zimmer kommen?«

»Das wäre schön.«

Eine goldene Kreditkarte verschwindet dezent unter der Handserviette des Kellners und wenige Minuten später sind wir auf dem Weg zu seinem Hotel.

Im Aufzug küsst er mich behutsam auf den Mund. Seine Zunge tastet sich ganz vorsichtig vor. Ich schließe die Augen und gebe mich dieser sanften Zärtlichkeit hin. Fast bin ich enttäuscht, dass wir sein Stockwerk so schnell erreicht haben.

In seiner kleinen Suite angekommen will er sich tatsächlich erst um meinen schmerzenden Nacken kümmern. Ich setze mich auf einen Hocker, öffne die obersten Knöpfe meiner Bluse und lasse sie die Schultern hinabgleiten, da kommt er mit einer dieser kleinen Cremetuben an, die Hotels gerne in den Badezimmern platzieren. Er wärmt die Creme erst mit seinen Händen an, bevor er sie mir behutsam auf die Schultern streicht.

Wow, der Mann ist echt ein Treffer!

Seine Hände sind sanft und weich, wie es sich für einen Computerexperten gehört. Ich fange an zu schnurren, während sich meine Verspannungen langsam lösen, und höre auch nicht damit auf, als seine Hände hinunter zu meinen Brüsten wandern. Stattdessen greife ich hinter mich und öffne den Verschluss meines BHs. Norbert atmet schneller, lehnt sich an mich, und ich kann seine Erektion im Rücken spüren. Er liebkost meine Brüste, streicht zart über die Nippel und küsst mich dabei sanft auf den Hals.

Ich rutsche auf dem Hocker herum. Meine Erregung wächst. »Ich will dich auch anfassen«, seufze ich sehnsüchtig, und er zieht mich hoch in seine Arme. Meine Brüste reiben sich an seinem gestärkten Hemd, während meine Hände seinen Rücken erforschen. Unsere Lippen treffen wieder aufeinander, wir tauschen ungeschickte Küsse aus, als wir gleichzeitig versuchen, uns von den störenden Kleidungsstücken zu befreien. Dabei geraten wir ins Taumeln und plumpsen auf das Bett.

Ich lache ein wenig atemlos, während er mir tief in die Augen sieht.

»Willst du?« Ein echter Gentleman!

»Ja«, hauche ich. Das wird gut!

Noch ist hier und da ein Stück Stoff im Weg. Ohne große Umstände entledigen wir uns der restlichen Klamotten, werfen die Teile achtlos auf den Boden. Norbert trägt eine dünne Halskette mit einem goldenen Kompass daran um den Hals. Süß. Aber den braucht er gar nicht, um meine erogenen Zonen zielsicher zu finden. Er küsst mich wieder, auf den Hals, auf das Schlüsselbein, die Brüste. Mit den Fingerspitzen erkunde ich seinen Bauch, der ein ganz kleines bisschen rundlich ist. Meine Hand wandert nach unten und liebkost seine Eier, was ihm ein erregtes Stöhnen entlockt, während sein Mund sich ausgiebig mit meinen Nippeln beschäftigt. Dann taste ich nach seinem Schwanz. Wie seine Hände fühlt er sich weich, fast samtig an. Ich umschließe seinen Schaft, bewege die Hand langsam auf und ab. Er keucht. Seine Finger finden meine Pussy, streicheln darüber.

»Kondom«, krächze ich.

Worauf sollen wir warten? Wir sind beide bereit.

Er holt einen Gummi aus dem Nachttisch, streift ihn über. Eifrig spreize ich die Beine, und er legt sich auf mich. Ich dränge die Hüften gegen seine, ich spüre die Erektion schon an meiner empfindlichsten Stelle, dann gleitet er sanft in mich hinein.

Gut. Er ist gut. Ich wusste das. Er verwöhnt meine Brüste mit seinem Mund, während er langsam das Tempo steigert. Ein guter Liebhaber, erfahren und rücksichtsvoll.

Dennoch weiß ich in dem Moment, als er in mich eindringt, dass ich nicht kommen werde.

Wieder einmal.

Er wird langsamer, will mich mitnehmen. Natürlich will er das. Es ist nicht seine Schuld. Aber auch ich habe Erfahrung. Weil er ein lieber Kerl ist, tue ich ihm den Gefallen. Beschleunige meinen Atem. Stöhne unter seinen wieder schneller werdenden Bewegungen. »Oh ja, das ist gut!«

Ist es auch. Aber es wird mich nicht über die Klippe stoßen. Nicht heute. Ich klammere mich an seine Schultern, keuche und wimmere gespielt aufgeregt. Es wird nicht mehr lange dauern.

Als er kommt, schreie ich ebenfalls auf, nicht zu laut, um seine Zimmernachbarn nicht aufzuwecken, aber laut genug, damit er sich als ganzer Mann fühlen kann.

»Oh Mayra«, stöhnt er, fällt neben mir auf das Bett und entsorgt das Kondom. »Das war großartig!«

»Ja«, sage ich.

Wir liegen wie ein Ehepaar nebeneinander, und die Minuten, bis er endlich einschläft, ziehen sich endlos hin. Dann stehe ich leise auf, sammle meine Sachen ein. Ich fühle mich schmutzig und würde gerne duschen, fürchte aber, dass Norbert dann aufwachen und Lust auf eine zweite Runde kriegen könnte. Dafür fehlt mir aber der Nerv. Na ja, wenigstens habe ich eine tolle Massage bekommen, besser als nichts.

Also schleiche ich mich raus, als ich wieder angezogen bin. Wann werde ich es endlich lernen und mich für die Salamipizza entscheiden?

Tosh - La Famiglia

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