Читать книгу Schockdiagnose ALS. Leben und Pflegen: Zwei Seiten einer unheilbaren Krankheit - Lucie Flebbe - Страница 9

Kapitel 3: Alarmsignal BURKHARD

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Von Kindheit an war ich kräftig, sportlich und selbstbewusst gewesen. Bei allen Abenteuern und Aktivitäten hatte mein Körper mich nie im Stich gelassen. Ich war daran gewöhnt, dass er zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk funktionierte.

Deshalb war ich überzeugt, dass die kleinen Balllenkungsprobleme beim Kicken mit den Kindern von selbst wieder verschwinden würden. Etwas anderes kam mir gar nicht in den Sinn.

Die kleine Unregelmäßigkeit störte nicht einmal, denn ich hatte zu dem Zeitpunkt gerade nach zweiunddreißig Jahren die Fußballschuhe an den Nagel gehängt. Endgültig. Denn mittlerweile hatte ich sogar bei den ‚alten Herren‘ schon zu den Senioren gezählt. Es war Zeit gewesen, die Jüngeren zum Zug kommen zu lassen.

Beim Kajakfahren leisteten die Arme und die Rumpfmuskulatur die Hauptarbeit, weswegen ich durch die winzige Unstimmigkeit keinerlei Einschränkung spürte. Sportlich aktiv konnte ich schließlich noch immer sein.

Auch im Job behinderte mich das kleine Fußhandicap nicht: Problemlos fuhr ich Auto, stieg die Treppen zum Büro hinauf und marschierte über das Werksgelände und durch die Produktionshallen. Im Alltag geriet die Hebeschwäche meines Fußes in Vergessenheit.

Bis zum Jahresende. Da bemerkte ich plötzlich ein deutliches, patschendes Geräusch beim Gehen, das mir vorher nicht aufgefallen war. Hervorgerufen wurde es durch das Aufsetzen meines rechten Fußes. Tatsächlich ‚klang‘ mein rechter Fuß anders als der linke. Lauter, vor allem. Bei genauem Hinsehen fiel auf, dass ich das rechte Knie etwas höher anhob, um die Fußspitze überhaupt vom Boden abheben zu können.

Das Fußhebeproblem war noch da und es machte jetzt plötzlich auch im Alltag auf sich aufmerksam. Es schien sich verschlimmert zu haben, statt zu verschwinden. Noch immer hoffte ich, dass eine irgendwie geartete Überdehnung von Sehnen oder Bändern eine naheliegende Erklärung war.

Obwohl ich keinerlei Schmerzen hatte, entschloss ich mich nun doch, fachkundigen Rat einzuholen und einen Orthopäden aufzusuchen. Nur zur Sicherheit.

„Im Augenblick beträgt die Wartezeit für einen Termin drei Monate“, bremste mich eine Sprechstundenhilfe am Telefon.

Zu meiner Überraschung machte gleich darauf die Erwähnung meiner privaten Krankenversicherung einen kurzfristigeren Termin möglich.

Deshalb saß ich schon wenige Tage später im Untersuchungszimmer auf einer mit Papier abgedeckten Behandlungsbank und schilderte meine Beschwerden, während der streng aussehende Mediziner über seine Brille hinweg einen prüfenden Blick auf meinen rechten Fuß warf. Dann bewegte er mein Sprunggelenk ein paar Mal prüfend in verschiedene Richtungen.

„Alles in Ordnung, Herr Linke“, lautete sein rasches Urteil. „Machen Sie sich keine Sorgen.“

Ich freute mich.

Nachdem der Fachmann meine Meinung, dass kein Anlass zur Sorge bestand, bestätigt hatte, sah ich keinen weiteren Handlungsbedarf. Obwohl mir natürlich bewusst war, dass „alles in Ordnung“ streng genommen nicht korrekt sein konnte. Schließlich war der Kraftverlust meiner rechten Fußmuskulatur nach wie vor spürbar. Mittlerweile hielt dieser Zustand schon fast ein halbes Jahr an.

Zumindest war die Sache nicht dramatisch – sie schmerzte nicht, ja, sie behinderte mich nicht einmal. Sogar Sport konnte ich treiben und krank fühlte ich mich auch nicht.

Erst einige Monate später, im Frühjahr 2004, gelang es mir nicht länger, das Problem zu ignorieren. Immer häufiger geriet ich in Konflikt mit Türschwellen, Teppichkanten und Treppenstufen. Meine Zehenspitze blieb an den kleinsten Unebenheiten des Fußbodens hängen. Durch das ständige Stolpern drängelte sich das Problem meines Fußes immer wieder hartnäckig in den Vordergrund meines Bewusstseins.

Allmählich kam ich zu dem Schluss, dass eine zweite Meinung zum Zustand meines Beines nicht schaden könnte.

Vielleicht handelte es sich doch nicht um eine Sehnenschädigung? Vielleicht funktionierte ein Nerv nicht richtig? Dann war der Orthopäde einfach der falsche Ansprechpartner gewesen. Ein Neurologe musste her.

Ich fand die Adresse eines niedergelassenen Neurologen und bekam auch bei ihm verhältnismäßig zügig einen Termin.

Drei Monate nach der ersten Untersuchung lag ich also erneut auf einer mit abwischbarem, grauem Kunstleder bezogenen Behandlungsbank, die für meine Körperlänge irgendwie zu kurz erschien. Das plastikartige Polster der Bank klebte an meinen nackten Oberschenkeln.

Diesmal beschränkte sich die ärztliche Untersuchung nicht auf die bloße Betrachtung meines Beines. Der Mediziner ließ mich verschiedene Bewegungen durchführen und testete mithilfe eines Metallhämmerchens die Reflexe meiner Beinmuskulatur unterhalb des Kniegelenkes und an der Achillessehne.

Schließlich folgte noch eine Messung der Nervenleitgeschwindigkeit. Zu diesem Zweck brachte der Arzt mit Schwämmchen angefeuchtete Metallelektroden an meinem nackten Bein an.

Wasser in Verbindung mit Strom? Eine gewöhnungsbedürftige Kombination, fand ich.

Auch diese umfangreichen, neurologischen Untersuchungen lieferten kein Ergebnis.

„Leider kann ich Ihnen nicht sagen, warum Ihrem Fuß die Kraft fehlt, Herr Linke“, erklärte mir der Arzt bedauernd. „Haben Sie Geduld! Nerven benötigen nach einer Verletzung nicht selten Monate, um sich vollständig zu regenerieren.“

Erstaunlicherweise hatte das Ergebnis, dass es wieder kein Ergebnis gab, auch dieses Mal eine beruhigende Wirkung auf mich. Sein Urteil bestätigte immerhin die Einschätzung des Orthopäden. Im Klartext bedeutete es doch, dass alles in Ordnung war.

Dummerweise geriet ich weiterhin mit Bodenunebenheiten und Teppichkanten aneinander. Hartnäckig brachte mich die Fußhebeschwäche aus dem Gleichgewicht und ließ mich immer wieder ins Stolpern geraten.

Ein knappes halbes Jahr später, im Spätsommer 2004, gab ich den Versuch, die Beschwerden zu ignorieren, entnervt auf.

Ich startete den dritten Anlauf, um endlich eine Erklärung für die Funktionsstörung meines Beines zu finden. Zu diesem Zweck besorgte ich mir selbstständig einen ambulanten MRT-Termin im Krankenhaus.

Die MRT, die Magnet-Resonanz-Tomographie, ist umgangssprachlich auch als ‚Schichtröntgen‘ bekannt; so weit hatte ich mich im Vorfeld informiert. Das Gerät scannt nicht nur Knochen, sondern auch Muskeln und Weichteile auf Unversehrtheit ab. Scheibchenweise durchleuchtet es das Bein und spuckt viele kleine Fotos davon aus. Auf denen sind Querschnitte auf verschiedenen Höhen der durchleuchteten Gliedmaße zu sehen. Die Aufnahmen werden im Zentimeterabstand gemacht, vom Knöchel, den Unterschenkel hinauf, bis zum Knie. Die in diesem Bereich verlaufenden Blutgefäße, Nerven, Muskeln und Sehnen werden als größere oder kleinere, meist rundliche Strukturen abgebildet. Durch den Vergleich der einzelnen Querschnitte miteinander können die Ärzte Verletzungen, Quetschungen oder Verengungen erkennen.

„Auch ein Bandscheibenvorfall oder ein ähnliches Rückenproblem kann unter Umständen die Nerven im Bein in Mitleidenschaft ziehen“, erklärte mir ein hochgewachsener Arzt bei der Voruntersuchung im Krankenhaus. „Deshalb werfe ich vorsichtshalber auch einen Blick auf Ihre Wirbelsäule, Herr Linke.“

Ich musste mich bücken und strecken; der Mediziner bog und drehte meinen Rücken in alle Richtungen.

„Tut Ihnen dabei irgendetwas weh?“, erkundigte sich der Arzt.

Ich schüttelte den Kopf. Meine Wirbelsäule machte alle Verrenkungen bereitwillig mit. Und auch an Muskulatur mangelte es mir nicht.

Das Fazit des Arztes: „Ihr Rücken ist fit, Herr Linke.“ Damit war mein Bein als Übeltäter identifiziert. Die MRT durchleuchtete es, scheibchenweise, wie eine Salami. Und hinterher nahm der Mediziner jede einzelne Scheibe unter die Lupe und prüfte sie auf Auffälligkeiten.

Ergebnis: Es gab keine. Das Bein war in Ordnung. Herzlichen Glückwunsch!

Aber meine Teppichkantenprobleme blieben mir weiterhin erhalten. Ich gab auf, mir selbst einzureden, ich hätte keine Beschwerden, nur weil Ärzte und Maschinen keine Ursache dafür fanden.

Anfang 2005 startete ich den nächsten Versuch der Aufklärung. Mittlerweile bestand meine Fußhebeschwäche beinahe seit eineinhalb Jahren.

Ich sparte mir die ambulanten Arztbesuche und Voruntersuchungen und wandte mich gleich an ein Krankenhaus: An die Neurochirurgische Station einer Klinik in der Medizinhochburg Bad Pyrmont.

Zu den Heilquellen dieses Ortes waren immerhin schon Kurfürsten und Königinnen gepilgert. Sogar Goethe soll sich hier erholt haben. Noch heute kurieren Krankenhäuser und Rehakliniken scharenweise Patienten, die aus ganz Deutschland anreisen. Hier würden die Ärzte wohl in der Lage sein, meinen lächerlichen Fußbeschwerden endlich auf den Grund zu gehen.

In der Pyrmonter Klinik begannen die Untersuchungen noch einmal von vorn. Ich absolvierte sie ambulant, denn ich war ja beruflich voll eingespannt.

Diesmal wurden auch die Blutgefäße meines Beines auf ihre Durchlässigkeit hin überprüft. Eine weitere Bein-MRT wurde angefertigt. Zusätzlich aber auch die guten, alten Röntgenbilder.

Und siehe da: Aufgrund der einfachen Röntgenaufnahmen kam das Ärzteteam endlich zu einem Ergebnis!

„Anscheinend liegt ein Compartment-Syndrom Ihres rechten Unterschenkels vor, Herr Linke“, verkündete mir Chefarzt Doktor N., ein energischer Zwerg mit rotem Bart und weißem Kittel.

Aha?

„Der Nerv wird im Bereich des Unterschenkels abgequetscht“, erläuterte mir der Chefarzt überzeugend. „Ihr Gehirn sendet Signale an die Fußmuskulatur. Diese Signale werden durch den Körper geleitet, wie Stromimpulse durch ein Kabel. Das ‚Kabel‘ Ihrer Wirbelsäule ist das Rückenmark; die ‚Kabel‘ im Bein sind Ihre Nerven. Doch im Unterschenkel wird Ihr Kabel gequetscht, und die Stromsignale werden an dieser Stelle nicht ausreichend weitergeleitet. Den Fuß erreichen sie nur noch abgeschwächt, deshalb reagiert die Beinmuskulatur nicht kräftig genug. Meine Empfehlung ist eine möglichst rasche Operation. Die Quetschung muss beseitigt werden. Wenn der Nerv freigelegt wird, kann er sich wieder erholen.“

Ich war froh, dass endlich eine einleuchtende Diagnose feststand und eine Ursache für die mittlerweile fast zwei Jahre andauernden Probleme gefunden war. Ein Ende der lästigen Stolperei war in Sicht!

In freudiger Erwartung stimmte ich der Operation zu.

Der Eingriff, den die Ärzte planten, nannte sich Fascienspaltung. Dabei sollte die dicke Bindegewebsschicht, die im Unterschenkel die beiden Knochen – das Schienbein und das Wadenbein – verband, durchtrennt werden. So wollten die Ärzte mehr Raum für den eingeklemmten Nerv schaffen.

Das Internet verriet mir, dass der eingeengte Nerv durch diese Schnitte entlastet werden würde. Allerdings stieß ich bei meinen Recherchen zur Operation auch auf den Hinweis, dass das sogenannte Compartment-Syndrom, bei dem die geplante Operation empfohlen wurde, meist durch einen Unfall oder eine anderweitige Gewalteinwirkung von außen entstand. Oft war zum Beispiel eine Prellung, ein sogenannter Pferdekuss, vorausgegangen. Der Bluterguss im Gewebe quetschte dann den Nerv.

Ich konnte mich an keine Verletzung erinnern, die in irgendeinem zeitlichen Zusammenhang mit meinen Beschwerden stand. Überhaupt war der einzige derartige Vorfall wohl ein Bänderriss im Laufe meiner längst beendeten Fußballkarriere. Der lag mittlerweile allerdings Jahre zurück. Einen Bluterguss als Spätfolge hatte er wohl kaum hervorgerufen.

Auch war das Gefühl, die Sensorik meines Fußes, nach wie vor intakt. Berührungen nahm ich vollkommen normal wahr. Ein ‚eingeschlafenes‘ Gefühl oder eine Taubheit, empfand ich nicht. Und auch die anderen bildhaften Beschreibungen, auf die ich bei meiner Suche nach Symptomen für eine Nervenschädigung stieß, trafen auf mich nicht zu. Ich hatte weder den Eindruck, eine ganze Kolonie Ameisen würde meinen Körper als Exerzierplatz nutzen noch fühlte sich der Fuß an, als wüchse ihm ein Pelz.

Musste ich den Arzt nicht auf diese Ungereimtheiten hinweisen?

„Quatsch“, entschied ich. Als Chefarzt wusste der Mann das alles garantiert. Ich entschloss mich, den Fachleuten Vertrauen zu schenken. In meiner Freude über die Erklärung meiner Beschwerden sah ich über die kleinen Unstimmigkeiten großzügig hinweg.

Schockdiagnose ALS. Leben und Pflegen: Zwei Seiten einer unheilbaren Krankheit

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