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ОглавлениеKAPITEL 5
Kein Schiffbruch mit Tiger
Hermann Gerland über den „Lausejungen“ Schweinsteiger
„Ich hab im Training immer mehr verlangt, als die Spieler bereit waren zu geben. Thomas Müller hat mal gesagt: ‚Tiger, so ein Training wie bei Ancelotti gab’s bei dir nie.‘ Ich sag: Müller, wenn ich so mit dir trainiert hätte, dann würdest du heute 250.000 Euro verdienen – im Jahr, und nicht in der Woche.“
Hermann Gerland
Es sind gerade mal 27 Spiele, die Bastian Schweinsteiger unter der Regie des „Tigers“ bestreitet. Und doch hat ihn die Zeit bei der zweiten Mannschaft in der damals drittklassigen Regionalliga Süd entscheidend geprägt. Stets direkt sei Gerland gewesen, erinnert sich Schweinsteiger. Er habe von diesem Trainer enorm profitiert, der ihm „klipp und klar“ gesagt habe, wos langgeht.
Gerlands Klipp- und Klarheit ist nach der Beckenbauer’schen Milde und Kurt Niedermayers einfühlsamem Pragmatismus eine neue Erfahrung für den angehenden Profi. „Bei einer anderen Trainer-Reihenfolge hätte es Basti bei Bayern wohl nicht geschafft“, glaubt Hermann Hummels. „Schärfe musst du dann bekommen, wenn du sie aushalten kannst. Wenn Gerland mit seiner Art auf einen 13-Jährigen losgeht, macht er ihn kaputt, bei einem 18-Jährigen ist es genial.“
Gerland, Jahrgang 1954, atmet tief ein und lange aus, als er von Hummels’ These hört. Seine Augen fixieren das Wasserglas auf dem Tisch im Interviewraum des FC Bayern. Ein mittellanger Schluck, ernsthaft widersprechen kann er dem ehemaligen Kollegen nicht. „Meine Frau hat immer gesagt, wie froh sie ist, dass wir drei Töchter, aber keinen Sohn haben“, sagt Gerland und stellt zwei leere Gläser nebeneinander. „Wenn Sie das hier sind, und das da wäre – mal angenommen – mein Sohn, dann hätten bei mir als Trainer immer zuerst Sie gespielt und mein Sohn zugeguckt. So bin ich gestrickt. Wenn meine Töchter früher angekommen sind, ‚Uuuh, Papa, der Lehrer ist so ungerecht‘, da hab ich denen gesagt: Jetzt passt mal auf, ihr seid genau wie meine Spieler. Der Labbadia steht fünfmal vor der leeren Kiste und trifft nix, verschießt vier Elfmeter nacheinander, und schuld dran ist immer der Trainer, weil die Taktik falsch war. Wenn der Lehrer fragt, wie viel drei mal drei ist, und ihr sagt jedes Mal zehn, ja dann müsst ihr ’ne Sechs kriegen, was denn sonst? Das ist nicht ungerecht, sondern logisch!‘“
Kurze Pause, Blick aufs Aufnahmegerät: „Die eine ist Ärztin geworden, eine hat Romanistik/Germanistik mit Eins abgeschlossen, und die dritte hat in Biochemie ihren Master mit Note Eins gemacht.“ Durchsage beendet. Ein Blick in die Augen. So läuft das im Hause Gerland.
Das Tugend-Triple aus Härte zu sich selbst, Eigenverantwortung und Einsatzwillen ist das Credo des früheren Bochumer Rechtsverteidigers, den sie daheim im Pott „Eiche“ nennen. 204 Bundesligaspiele hat er für die seinerzeit noch „Unabsteigbaren“ gemacht. „Ich bin ein Malocher-Typ“, beschreibt sich Gerland mit einem Satz selbst. Was Verantwortung heißt, lernt er früh. Sein Vater, Bergmann von Beruf, stirbt mit 39 Jahren an einem Herzinfarkt. Hermann ist neun und muss als ältestes von vier Kindern schneller erwachsen werden, als ihm lieb sein kann.
Wer Schweinsteiger seinen „Ziehsohn“ nennt, erntet ein zusammengekniffenes Gesicht. „Nee, Ziehsohn, das passt nicht, das ist mir zu eng“, sagt Gerland. „Ich fand Basti als Typen einfach überragend und hab Spaß daran gehabt, dass er nicht so war wie jeder andere. Er war ein Lausejunge, genau wie ich früher. Ab und zu hat er schon einen Einlauf gebraucht. Als er sich damals wegen einer Wette die Fingernägel lackiert hat oder plötzlich mit schwarz gefärbten Haaren angekommen ist, klar hab ich ihm da ein paar Sprüche verpasst. ‚Ich lass dich laufen, bis die Haare wieder blond sind‘, solche Sachen. Ich bin ja von einer Ohnmacht in die nächste gefallen. Aber: Er war nie einer von denen, die liegen geblieben sind und rumgeheult haben. Er hatte das Herz am rechten Fleck. Und er war unheimlich motiviert, wollte immer dazulernen. Auch am trainingsfreien Mittwoch hat er die Jungs nach der Schule zusammengetrommelt, Rensing, Trochowski, Paul Thomik – er war besessen vom Fußball.“
Trotzdem muss Schweinsteiger fast ein halbes Jahr länger warten als die gleichaltrigen Trochowski und Lell, ehe ihn Gerland erstmals in der zweiten Mannschaft einsetzt. Vater Fred habe schon „am Zaun an der Säbener gerüttelt und mit den Hufen gescharrt“, sagt ein ehemaliger Bayern-Mitarbeiter. Doch das interessiert Gerland wenig. „Basti hat erst gegen Ende der Saison bei mir gespielt, weil er immer zu viel mit dem Ball gelaufen ist, anstatt im richtigen Moment abzugeben. Ich hab ihm damals oft gesagt, dass ich endlich mal ein vernünftiges A-Jugend-Spiel über 90 Minuten von ihm sehen will, bevor er zu mir kommt.“
Am 2. März 2002 ist es so weit: Schweinsteiger gibt seinen Einstand für Bayern II bei einem 0:0 in Ansbach, kommt in der 89. Minute für Sechser Barbaros Barut. Bis zur nächsten Nominierung vergehen weitere zwei Monate. Was folgt, ist eine von Gerlands liebsten Anekdoten: „Ich habe Basti am drittletzten Spieltag mit zum Auswärtsspiel nach Regensburg genommen, auch wenn er am Tag davor noch ein Spiel mit der A-Jugend gehabt hat. Jahn Regensburg hätte damals mit einem Sieg in die zweite Liga aufsteigen können, wir waren irgendwo im oberen Mittelfeld. Und dann haben wir die 3:0 abgeschossen! Drei zu null! Basti hat überragend gespielt, den Ball laufen lassen – wahrscheinlich auch, weil er müde war. Nach ’ner knappen Stunde deutet er zur Bank, dass er ausgewechselt werden will. Ich hab reingeschrien: ‚Schweinsteiger, wie alt bist du?‘ Aber kurz darauf hab ich ihn dann doch rausgenommen, Gnade vor Recht. Am nächsten Tag bin ich direkt hoch in die Geschäftsstelle, Büro Hoeneß, und hab gesagt: Ulrich, der Schweini ist so weit, der spielt jetzt bei mir.“
Kein schlechtes Wort über Schweinsteiger kommt Gerland in der Rückschau über die Lippen: „Er hat von allen am meisten auf den Schädel gekriegt und ist immer wieder aufgestanden.“ Die Entwicklung zum Alphatier und der im Vergleich zu prominenten Vorgängern wie Stefan Effenberg oder Michael Ballack ruhige Führungsstil ringen Gerland „den allergrößten Respekt“ ab. „Owen Hargreaves hat mir vor ein paar Jahren mal gesagt: ‚Herr Gerland, als ich damals zu den Bayern-Profis gekommen bin, da gab es einige Anführer – was meinen Sie, was die mit uns jungen Spielern veranstaltet haben, wenn da ein, zwei Pässe nicht so gekommen sind, wie die das wollten? Wenn ich da im Vergleich sehe, wie Philipp und Basti mit den Spielern umgehen, das ist perfekt! Wenn die merken, dass einer nervös ist, dann helfen sie dem, anstatt ihn gleich rundzumachen. Mit den beiden als Führungsspielern wäre ich gerne in einer Mannschaft gewesen.“
Zu viel der Lobhudelei? Gerland springt auf, öffnet die Glastür zum Flur, wo gerade Christina Neumann, langjährige Sekretärin der Presseabteilung, vorbeigeht. „Frau Neumann, kommen Sie mal. Sagen Sie dem Herrn mal was zu Bastian Schweinsteiger.“
Neumann (leicht irritiert lächelnd): „Ähm, super Typ …“
Gerland: „Danke, das reicht mir schon. Das wollte ich hören.“
Neumann: „… immer höflich, nett, bodenständig, einfach normal geblieben …“
Gerland: „Bitte sehr! Und da kann ich Ihnen jetzt noch 50 andere Mitarbeiter holen, aus allen Etagen. Da wird niemand was anderes sagen.“
Neumann: „… wir waren alle verliebt in den Basti. Er hatte immer ein nettes Wort für jeden. Zum Abschied nach Manchester hat er jedem Mitarbeiter einen teuren Kopfhörer mit Gravur geschenkt. Schade, dass er nicht mehr da ist.“
Gerland: „So, jetzt reicht’s, Frau Neumann. Sonst werd ich noch eifersüchtig.“
Liebling Schweinsteiger – wenn schon kein Ziehsohn, dann wenigstens verdammt nah dran. Der Wechsel nach England? „Ich hab den Matthias Sammer an dem Tag noch gefragt, warum der Basti nicht zum Training kommt“, erzählt Gerland. „Schaut der mich mit großen Augen an: ‚Der kommt nicht mehr, der geht nach Manchester.‘ Das war ein Gefühl, wie wenn mir einer auf die Birne gehauen hätte.“
Auch wenn Gerland es selbst nie öffentlich sagen würde, ein bisschen stolz ist er schon, Schweinsteiger aufs Gleis gesetzt zu haben. Zum Ende des Gesprächs nimmt er sein Handy vom Tisch und zeigt ein Video, das ihm Bastian aus Chicago geschickt hat, nachdem Jupp Heynckes, Peter Hermann und der Tiger selbst im Herbst 2017 als Trainer-Trio zu den Bayern-Profis zurückgekehrt waren. „Freut mich, dass ihr drei wieder zusammenarbeitet. Hoffe, ihr kriegt wieder richtig Feuer rein in die Truppe!“ Schweinsteigers Haare flattern im Fahrtwind, er sitzt am Steuer seines Cabrios auf dem Weg zum Training. „Liebe Grüße an Peter und Jupp. Wie du siehst: What a life here in Chicago. Ciao Tiger!“