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ОглавлениеKAPITEL 1
Der Basti, der Ball und die Brettl
Schweinsteiger. Für fremdländische Zungen ist dieser Name eine kaum zu bewältigende Herausforderung. „Esweinsteiger“ behilft sich die spanischsprachige Welt, Brasiliens Fußballikone Pelé vermutete einst einen US-amerikanischen Whiskey („Swine’s Tiger“) dahinter. Den Vogel schoss jedoch Frankreichs heutiger Weltmeistertrainer Didier Deschamps ab. Vor dem Champions-League-Viertelfinale 2012 warnte der damalige Coach von Olympique Marseille vor drei gefährlichen Bayern-Spielern: „Sie haben Lahm, Boateng und Scheissneigère …“ Wenige Tage danach folgte die Entschuldigung: „Ich habe nie Deutsch gelernt, solche Fehler können passieren …“
Im oberen Inntal ist Schweinsteiger kein ungewöhnlicher Name. Dies- und jenseits der Grenze finden sich mehr als drei Dutzend Schweinsteigers in den digitalen Telefonbüchern, darunter – wenig überraschend – kein Alfred und keine Monika in Oberaudorf, auch kein Tobias in Rosenheim. Und drüben in Chicago am Michigansee sind die Festnetzanschlüsse sowieso stark rückläufig.
Die Schweinsteiger-Familie, um die es hier geht, wächst am 1. August 1984, einem Mittwoch, von drei auf vier Mitglieder. Knapp zweieinhalb Jahre nach Tobias kommt in Kolbermoor bei Rosenheim der zweite Sohn Bastian im Sternzeichen des Löwen zur Welt. Dass just an diesem Tag die Anschnallpflicht in der Bundesrepublik eingeführt wird (40 DM bei Zuwiderhandeln), sollte dabei ebenso wenig als Omen verstanden werden wie die aktuelle Nummer eins der Single-Charts, „Two Tribes“ von Frankie Goes To Hollywood. Schließlich ist der FC Bayern von derlei Zuständen damals noch ein gutes Jahrzehnt entfernt.
Eine halbe Autostunde von Kolbermoor die A93 hinunter, in der Siedlung Erlenau, haben die Schweinsteigers ihr Haus. Vater Alfred, der „Schweini Fred“, der im Rosenheimer Sporthaus von Reinhard Güthlein, dem ehemaligen Ehemann der Skifahrerin Christa Kinshofer, Einzelhandelskaufmann gelernt hat, kümmert sich Anfang der 1980er Jahre um sein expandierendes Sportgeschäft. Sein Bruder, der „Schweini Hans“, bewirtschaftet als gelernter Koch bis heute das Schullandheim Schauerhaus, das er 1986 von den Eltern übernommen hat.
Wer wie Bastian in die Berge hineingeboren wird, den vom Vater betriebenen, heute nicht mehr existenten Trißl-Skilift vor der jungen Nase und die Brettl anschnallbereit im Laden, ja wie soll so einer nicht Skifahrer werden? Kaum den Windeln entwachsen, zischt der kleinste Schweinsteiger die Abhänge vor der Haustür hinunter, dass dem Garhammer Franz, Bastians späterem Fußballtrainer in Rosenheim, heute noch ganz anders wird, wenn er daran zurückdenkt.
„Im Winter ist der Basti direkt nach dem Kindergarten rüber zum Lift gesaust und bis ganz nach oben hinaufgefahren“, erzählt Garhammer, Jahrgang 1959, ein Großcousin des Trickski-Pioniers Fuzzy Garhammer. „Da, wo die Großen kaum mit dem Abschwingen nachgekommen sind, ist der kloane Schoaß im Schuss runterg’fetzt. Ich bin jetzt auch kein schlechter Skifahrer, aber wenn ich so gefahren wäre, dann hätt’ ich mir sämtliche Gräten gebrochen.“
Niemand in der Gegend ist überrascht, dass sich nach Tobias auch der kleine Bruder als veritable Pistensau entpuppt. Bastian hat nicht nur das Talent seines Vaters geerbt, dessen Aufstieg in den Riesenslalom- und Abfahrts-A-Kader des Deutschen Skiverbandes jäh von einer Knieverletzung gestoppt wurde, er scheißt sich auch nix, wie man auf gut Bairisch sagt. Zusammen mit dem erblich vorbelasteten Felix Neureuther aus Partenkirchen ist Basti stets der Beste seines Jahrgangs, die Freunde stacheln sich gegenseitig an. Und wenn es sich irgendwie ausgeht, gibt’s nach den Rennen bei Felix’ Mutter Rosi Mittermaier die heißgeliebten Germknödel mit Vanillesoße und ein bissl Mohn drauf, von denen Schweinsteiger bis heute schwärmt.
Garhammer ist sich sicher: Basti wäre Deutschlands Skifahrer Nummer eins geworden, wenn er sich mit 14 Jahren nicht für die Fußballkarriere entschieden hätte. „Für manche Zeiten vom Felix musste er nicht einmal den Rennanzug anziehen“, sagt der Trainer. „Das war ein sportlicher Alleskönner. Skifahren, Hockey, Basketball, Tennis, Fußball, Golf – es gab nichts, was der Kerl nicht beherrscht hat.“
Brettl und Bälle sind Bastians treue Begleiter. „Wer laufen konnte, hat vom Dad einen Ball an die Füße gekriegt“, erinnert sich Tobias im Tagesspiegel. Und der Dad selbst wird Jahre später im Focus analysieren: „Beim Tennis hat er [der Bastian] sein Ballgefühl verbessert, beim Skifahren die Koordination, beim Golfen seine mentale Stärke.“
Die Straße vor dem Elternhaus wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Hockeyfeld umfunktioniert. „Nach der Schule und dem Mittagessen habe ich Hausaufgaben gemacht und dann hieß es: ‚Mama, Mama, lass mich raus‘“, erinnert sich Bastian in der SZ an diese Zeit. Sämtliche Nachbarskinder sind dabei, wenn Tobi und sein kleiner Bruder die Tore aufstellen. „Wir haben dann auch Linien auf die Straße gezeichnet, als Spielfeld. Nicht mit Kreide, sondern mit einem Spray, damit es nicht abgeht. Das waren die Grundlinien und der Schusskreis. Wir haben ja auch Rollerhockey gespielt, und da durfte der Torwart nicht aus dem Kreis raus.“
„Was hab ich mit meinem Postauto warten müssen“, erzählt Briefträger und Schweinsteiger-Familienfreund Hermann Völkl schmunzelnd beim Treffen im Sportgeschäft. „Ab und zu haben sie auch ein Tennisnetz über die Straße gespannt, da hat’s dann noch ein bissl länger gedauert, bis alles weggeräumt war.“
Doch der Hauptsport ist der Fußball. Wenn nicht gerade Training beim FV Oberaudorf ist, rollt die Kugel keine hundert Meter vom Elternhaus entfernt auf einer bis heute unbebauten Wiese. Mit tatkräftiger Unterstützung des Vaters haben die jungen Schweinsteiger-Buben dort einen sehr brauchbaren Bolzplatz angelegt – hier ein rot angestrichenes Holztor für Bayern-Fan Basti, dort ein blaues für den Tobi, der es wie Mama Monika eher mit den Münchner Löwen hält. Auch Flutlicht gibts. Den Masten leihen sich die Brüder kurzerhand vom Skilift. Wer ko, der ko.
Schon im Alter von knapp vier Jahren beginnt Bastian, im Verein zu spielen, seine erste fußballerische Heimat ist der FV Oberaudorf. Der kleine Schweinsteiger darf bei den um zwei Jahre Älteren mitkicken, zur F-Jugend-Meisterschaft 1989/90 steuert er imposante 45 Tore bei (Gesamt-Torverhältnis 113:3). Neue Herausforderungen bietet der höherklassige TSV 1860 Rosenheim. Dort ist Schweinsteigers Trainer der erwähnte Franz Garhammer – und der kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, als er sieht, welches Talent sich ihm hier offenbart: „Wir haben ab und zu mit einem Football-Ei gespielt im Training, und der Basti war der Einzige, der das Ding berechnen konnte. Das war phänomenal. So eine Begabung hatte ich bis dahin noch nicht gesehen. Und danach auch nicht mehr.“
Was den Jugendtrainer neben Schweinsteigers Technik und Spielverständnis am meisten begeistert, ist sein eiserner Wille. „Den hat er vom Vater mitbekommen“, ist Garhammer überzeugt. Der Fred habe bei seinen Stationen dies- und jenseits der deutsch-österreichischen Grenze zwar nie durch besondere Technik geglänzt, „aber er hat mit seiner Größe und Wucht als Vorstopper praktisch jeden Kopfball gewonnen. Und gelaufen ist er wie ein Narrischer.“ Als der FC Bayern Mitte der 1970er Jahre mal zu Gast in Rosenheim gewesen sei, erinnert sich Garhammer, da habe Franz Beckenbauer nach dem Spiel auf den Fred gedeutet und gefragt: „Was habt’s denn da für einen? Der läuft ja sogar durch eine Betonwand.“
„Halbgas“ habe es auch beim Basti nie gegeben. „Der ist im Training auf dem Ascheplatz reingegangen wie im Spiel.“ Mit sichtbaren Folgen: „Aufgeschürft war er die ganzen Arschbacken rauf, und aus den Knien hab ich ihm mit der Pinzette den Dreck gezogen. Aber eine lange Hose wollte er ums Verrecken nicht drunterziehen“, erzählt Garhammer. Immerhin fruchtet der Rat von Mama Monika, doch wenigstens die Stutzen über die Knie zu ziehen. Jahre später wird Hermann Gerland den Kopf über Schweinsteigers „Strapse“ schütteln.
Während Bastian bei Äußerlichkeiten früh eine gewisse Beratungsresistenz erkennen lässt, sind seine Ohren für fußballtaktische Dinge sperrangelweit offen: „Was du ihm in der Besprechung gesagt hast, hat er auf dem Platz eins zu eins umgesetzt“, erzählt Garhammer stolz. „Er war bei mir meistens der Sechser und hat den Spielmacher der anderen ausgeschaltet. Dazu hat er noch das eigene Spiel aufgebaut und jeden Ball gefordert. Aber egoistisch war er nie.“ Ganz im Gegenteil: Stets habe Schweinsteiger geschaut, seine Mitspieler bestmöglich in Szene zu setzen. „Zur Not hätte er auch noch auf der Torlinie rübergespielt, wenn einer besser gestanden wäre“, sagt Garhammer. „Das war einfach drin in ihm, dieses Mannschaftsdienliche.“
Aus Überlegenheit folgt keine Überheblichkeit. „Dass er besser war als die meisten anderen, hat der Basti nie raushängen lassen. Er war der Selbstkritischste von allen“, erinnert sich Garhammer. „Die einzige Saisonniederlage in der D-Jugend gegen den ESV Rosenheim hat er sich so zu Herzen genommen, das war schon fast wieder lustig. Am nächsten Wochenende haben wir gegen Prien 10:1 gewonnen, und er fragt: ‚Hab ich schon einigermaßen gut gespielt, Trainer?‘ Ja freilich, da musst du dir keine Gedanken machen, hab ich geantwortet – und innerlich gelacht. Ich war schon ein Strenger damals, aber dem Basti hab ich immer über den Kopf streicheln müssen, wenn er so geschaut hat. Er konnte ein Hundling sein, aber beim Spiel war auf ihn zu tausend Prozent Verlass.“
Von den älteren Spielern wird der kleine Schweinsteiger nicht nur akzeptiert, sondern geradezu hofiert. Florian Heller beispielsweise und Leo Haas, beide später Profis bei Klubs wie Ingolstadt und Augsburg, hätten früh gewusst, was sie an Bastian haben, sagt Garhammer. „Den Respekt hat er sich mit seiner energischen Art verdient. Er hat immer angeschoben. Und mit seiner Besessenheit vom Gewinnen hat er auch die Älteren mitgerissen.“
In der U13 gelingt den Rosenheimer Sechzigern eine kleine Sensation: ein Sieg gegen den FC Bayern, der in dieser Altersklasse seit zwölf Jahren ungeschlagen ist. Schweinsteiger spielt gegen den Besten der Münchner, einen gewissen Thomas Hitzlsperger. „Der hatte damals schon einen Mordsschuss, vor dem sich alle gefürchtet haben“, erzählt Garhammer. „Aber gegen den Basti ist er im ganzen Spiel zu keinem einzigen Abschluss gekommen.“
Schweinsteigers Führungsqualitäten sind schon seit dem ersten Tag in Rosenheim zu erkennen. Garhammers Lieblingsanekdote spielt im Vereinsheim. „Nach dem ersten Training mit der D-Jugend sind damals alle Spieler durch die volle Wirtschaft ins Besprechungs-Kammerl gerannt. Grußlos. Ich war so zornig, dass ich sie alle wieder rausgeschickt hab, weil das eine Frage des Anstands gegenüber den Gästen und der Wirtin ist. Durch den Türspalt habe ich gesehen, dass sie den Basti, den Kleinsten, nach vorne geschickt haben. Ganz aufrecht und mit fester Stimme ist er überall hingegangen: ‚Griaß eich beinand, griaß eich!‘“ Dieter Brenninger, der ehemalige Spieler des FC Bayern, sei am Stammtisch „fast erstickt vor Lachen“, erzählt Garhammer. „Das war bühnenreif. Wenn es damals schon ein Handy gegeben hätte, der Film wäre eine Sensation.“
Dass sich Schweinsteiger, der hochtalentierte Slalom- und Riesenslalomfahrer nach einigem Hin und Her für den Fußball entscheidet – auch daran dürfte Garhammer seinen Anteil gehabt haben. Als er Tobias bei einem Spiel auf die Bank setzt und nur den Kleinen spielen lässt, klingelt beim Trainer spätabends das Telefon: Schweinsteiger senior ist am Apparat – und außer sich vor Wut! „Der Fred hat mir angedroht, dass er den Basti für immer zum Skifahren abziehen würde, falls ich die beiden nicht gleich oft spielen lasse“, erzählt Garhammer. Gute vier Stunden dauert das Gespräch, bis der ehrgeizige Vater um zwei Uhr früh einlenkt. „Ich hab ihm gesagt: ‚Wenn du aus dem Basti einen Skifahrer machen willst, bitt’schön, dein Bub. Aber dann verdient er halt bloß 10.000 DM im Jahr statt einer Million als Fußballer.‘ Vielleicht hat das den Fred zum Nachdenken gebracht.“ Vielleicht. Bastian hat die oft gestellte Ski-oder-Fußball-Frage stets mit einem Augenzwinkern beantwortet. Beispielsweise in der Münchner Abendzeitung: „Es gab immer Germknödel und Kaiserschmarrn, das war schön, aber es war immer so kalt, und die Skier waren so schwer zu schleppen. Und so früh aufstehen muss man beim Fußball auch nicht.“
Das letzte Ski-Duell gegen Spezl Neureuther steigt 1997 in Brixen, Südtirol, unter der Schirmherrschaft von Slalom-Legende Alberto Tomba. Schweinsteiger gewinnt das teilnehmerstärkste Kinderrennen der Welt. Und Felix, 1,9 Sekunden zurück, muss sich die Geschichte bis heute anhören. „Da hat sein Papa, der Fred, sicher Wunderwachs ausgepackt“, erzählt er schmunzelnd. „Und mein Vater hat mir noch schön Honig auf den Ski geschmiert, dass ich ja nicht zu schnell bin, damit der Herr Schweinsteiger auch mal ein Rennen gewinnen darf. Sein Glück war, dass wir danach nicht mehr gegeneinander gefahren sind.“
Die Fans hätten eine Revanche sicher liebend gerne gesehen. Nach einer verlorenen TV-Wette im März 2015 verspricht Schweinsteiger, im Parallelslalom am Gudiberg in Garmisch-Partenkirchen gegen Neureuther zum Freundschaftskampf anzutreten – umgesetzt worden ist das Ganze bis heute nicht. Dafür haben sich die beiden in einem 2017 erschienenen Kinderbuch verewigt. Auf die Piste – fertig – los! nennt sich das Werk. Es geht um einen Wettkampf zwischen Ski-Fuchs Ixi und Fußball-Husky Basti und soll Kinder zum Sporttreiben animieren. Kein Spoiler an dieser Stelle, nur die Moral von der Geschicht: Freundschaft ist wichtiger als Siegen. Und Bewegung durch nichts zu ersetzen. Fast schon kitschig, dass sowohl Neureuther als auch Schweinsteiger ihre Profikarrieren 2019 beenden und ins Fach der TV-Experten wechseln. Ein Parallelslalom der anderen Art.