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V Nur eine Haltestelle auf dem Weg nach Indien

Ein Besuch in Buddhas Geburtsort Lumbini an der indisch-nepalesischen Grenze


547 Leben hat Buddha benötigt, ehe er zu seiner letzten Geburt in Lumbini ansetzte, wo er gleich nach seiner Entbindung verkündete, dies werde sein letzter Erdenaufenthalt sein und er sei nur noch einmal erschienen, um der Welt die Erleuchtung zu bringen. Auch auf die Gefahr hin, einen Kalauer zu produzieren: Dass Buddha gleich nach seiner Geburt erklärte, er wolle nie mehr wiedergeboren werden, kann jeder verstehen, der die Umgebung von Lumbini zum ersten Mal erblickt.

Für den Liebhaber des historischen Films, der mit der üppigen Geburtsszene aus Bernardo Bertoluccis "Little Buddha" im Gedächtnis dem Bus entsteigt, glich der erste Anblick von Lumbini einem Schock. Sicher mochte es hier einmal grün gewesen sein, aber das war wohl schon Jahrtausende her, und statt der Dschungelwiesen, auf denen der wackere König Suddhodhanna seinen Sohn Gautama Siddhartha seinen Kriegern präsentiert hatte, prägten Hitze und Staub das Bild einer steinigen Landschaft. Topfeben und heiß erstreckte sich von Lumbini aus die indische Tiefebene über Hunderte von Kilometern bis weit über Ganges und Yamuna hinaus, und in den letzten beiden Monaten vor den Monsun verwandelte sich diese Gegend in einen glühenden, knochentrockenen Rost, auf dem alle Lebewesen brieten.

Ich hätte den Geburtsort Buddhas gerne in einem „Großen Fahrzeug“ erreicht, doch das einzige Gefährt, das immerfort kreisend wie das Rad der Vergeltung von Bhairawa nach Lumbini und von Lumbini nach Bhairawa fuhr, war als Bus eigentlich nur daran zu erkennen, dass er über vier Räder, ein Lenkrad und eine Hupe verfügte und dass er sich, wenngleich langsam, so doch unleugbar fortbewegte. Aber aller Mangel, so lesen wir im buddhistischen Tripitaka, ist nur die Vorstufe zur Erkenntnis, und so gab mir die zeitlupenhafte Fortbewegung unseres rollenden Käfigs und das Fehlen jeglicher Fenster ausreichende Muße, die Mannigfaltigkeit des nordindischen und südnepalesischen Menschenschlages zu studieren. Ganoven und Gurus, Hungerleider und Gutbetuchte warteten an den Haltestellen des Terai auf den Bus. Manche reisten mit Stock und Bündel, andere in gebügelten Gewändern, manche trugen ihren Turban wie eine Krone, wieder andere erschienen in Lumpen und zerrissenen Dhotis am Buseingang.

Nur etwa zweihundert Rupien, umgerechnet etwa 1,50 Euro, kostete das Bett im einzigen Guesthouse des Ortes, der Lumbini Lodge - und dies, obwohl eine Übernachtung in der Lumbini Lodge einer kostenlosen Einführung in die buddhistische Lebenslehre glich. Nichts in der empirischen Welt hat wirklich Bestand, lehrte der Erleuchtete, und tatsächlich: Kaum lag ich abends nass geschwitzt auf dem schmalen Bett, gaben die dünnen Holzroste unter meinem Gewicht nach, und unsanft landete ich in jenem Staub, aus dem alles Leben entsteht und wieder verschwindet. Doch durch die Betten bin ich auf meine Reisen schon oft gefallen, und ich wollte zufrieden sein, wenn sich die nächtlichen Prüfungen an Buddhas Geburtsort allein auf dieses Malheur beschränkten. Aber ich hatte Lumbinis Mücken nicht auf der Rechnung, jene heruntergekommene Wesen auf der Lebensleiter der Wiedergeburt, die sich allnächtlich unter den Schläfern Lumbinis ihre Opfer suchten und die mich glatt an der Weisheit des Karmas zweifeln ließen. Denn es war mir bei aller Demut an diesem heiligen Ort nur schwer verständlich, warum diese satanischen Inkarnationen der absoluten Heimtücke und Gemeinheit sich an meiner doch immerhin beträchtlich höher entwickelten Wiedergeburt so wohlfeil und gefahrlos laben durften. Sie saugten sich voll mit meinem Blut, sie durchstachen Strümpfe, Hose und Shirt, und mein geballter Hass, der mich motivierte, mit meinen Schlappen einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen, brachte mich schließlich nur zu der Erkenntnis, dass sich der Übernachtungsgast in der Lumbini Lodge gegenüber den Mücken Lumbinis etwa in der gleichen Position befand wie die Lachse Alaskas gegenüber den Grizzlybären: Man war gänzlich ohne jede Chance, und je eher man sich dazu durchrang, jeden Stich als Buße für eine irdische Verfehlung zu begreifen, desto besser.

Kaum war die Sonne nach dieser Nacht des Leidens aufgegangen, verließ ich mein stickiges Schlafgefängnis und begrüßte, zerstochen und fertig mit der Welt, den Anbruch eines neuen Tages. Die Mütter rollten die Matratzen von den Dächern, und die Männer marschierten in langen Reihen mit Kopftuch, Hacke, Dhoti und Spaten zur Feldarbeit. Erstaunlich adrett gekleidete junge Frauen erschienen in den Türrahmen ihrer Häuser, um beachtliche Lasten über die Straßen zu schultern: Holzlatten, Körbe, Kisten, Kinder oder was immer es an diesem Tage von dem einen Ort zum nächsten auch zu tragen gab. Schließlich rasten einige Knaben, von kläffenden Hunden verfolgt, mit ihren Schulbüchern zum Bus, der sie zur Schule nach Bhairawa bringen würde, während als letzte Akteure die Ladenbesitzer auf der morgendlichen Bühne des Dorfes erschienen - fette, behäbige Männer, die mit der Würde der Honoratioren die Gitter vor den Läden entfernten und beim ersten Tschai des Tages ihren Morgenplausch begannen.

In jenen alten Zeiten, in denen das Licht der Weltgeschichte ein einziges Mal auf Lumbini gefallen war, dürfte es an diesem Ort weder eine Straße noch ein Guesthouse gegeben haben. Konnte man der buddhistischen Überlieferung glauben, dann befanden sich hier nur ein Teich und ein Baum, als König Suddhodhanna auf dem Heimweg in sein Königreich Kapilavastu etwa im Jahre 556 vor unserer Zeitrechnung eine Rast einlegen ließ, während der seine Gattin, die Königin Maha Devi Prinz Gautama Siddhartha, den späteren Buddha, zur Welt brachte. Das war es dann auch schon mit Buddha und Lumbini gewesen. Aufgewachsen ist Prinz Siddharta in Kapilavastu, und auch als er seine Heimat im Alter von 29 Jahren verließ, zog ihn nichts mehr Lumbini zurück. Stattdessen suchte er in Wäldern und Wüsten, in der Gegenwart heiliger Männer und in der Einsamkeit nach der Erleuchtung, bis er sie im nordindischen Bodh Gaya erlangte und in Sarnath bei Varanasi zum ersten Mal öffentlich verkündete.

Konnte Lumbini als Etappe einer buddhistischen Pilgerreise also mit Bodh Gaya und Sarnath nicht wirklich konkurrieren, so stimulierte ein Besuch seiner Ruinen noch immer jene feinstoffliche Geistigkeit, die das Kennzeichen der höheren buddhistischen Sphären ist. Denn zu sehen gab es in der empirischen Welt Lumbinis fast nichts - außer einem Teich, auf dem an diesem Morgen einige Enten schwammen und von dem die Überlieferung behauptet, die Buddhamutter Maha Devi hätte in seinem Wasser vor ihrer Niederkunft gebadet, einer Säule, die an einen verkleinerten Schornstein erinnerte und den Resten einer der Maha Devi geweihten Tempelanlage. Allerdings handelte es sich bei der Säule, die an einen Schornstein erinnerte, nicht wirklich um einen Schornstein, sondern im Gegenteil um ein historisches Zeugnis allerhöchster Wichtigkeit. Denn die Etablierung der Säule ging zurück auf den indischen Imperator Ashoka, den die Historiker heute sehr dafür loben, dass er während seiner langen Regierungszeit seine Baumeister auf Trab hielt und sein Reich mit einer Vielzahl von Inschriften und Säulen schmückte. Tatsächlich besuchte Ashoka im Jahre 249 vor der Zeitrechnung auch Lumbini und ließ an der Stelle, an der nach der Legende die Maha Devi den Gautama Siddhartha geboren haben sollte, eine Säule errichten, auf der man heute noch - vorausgesetzt natürlich man verstand Sanskrit und besaß sehr gute Augen - lesen konnte: „König Ashoka, geliebt von den Göttern, begab sich hierher im zwanzigsten Jahr seiner Herrschaft, huldigte dem Buddha und erklärte: ‚Hier wurde der Buddha Shakayamuni geboren‘ ".

Kein Wunder, dass die Wiederentdeckung dieser Säule im Jahre 1895 ein echter Knüller wurde: Buddhas Geburtsort war gefunden worden, und der staubige Ort Lumbini erkletterte plötzlich den gleichen religionsgeschichtlichen Rang wie Bethlehem oder Mekka. Das war beachtlich, interessierte aber fast ein ganzes Jahrhundert lang niemanden, weil das zur Vermarktung notwenige Kapital nicht zur Verfügung stand.

Das hat sich nun geändert. Finanziert durch die Millionen, die der Lumbini Development Trust in aller Welt locker macht, wird sich in naher Zukunft das gesamte archäologische Areal mit Teich, Tempelresten und Ashoka-Säule zu einer Insel inmitten eines künstlichen Sees verwandeln. Sogar eine gigantische Prozessionsstraße ist geplant, links und rechts des Weges gesäumt von einigen Dutzend repräsentativer Klosteranlagen aus allen Teilen der buddhistischen Ökumene. Zusagen aus Japan, Korea, Sri Lanka und Thailand lagen bereits vor, und die inzwischen eingegangenen Gelder reichten offenbar aus, die Angestellten des Lumbini Development Trusts in ihren kleinen Büros gleich neben dem Gelände über gigantischen Plänen brüten und die arbeitsfähigen Männer der Umgebung bereits mit Grabungsarbeiten beschäftigen zu lassen.

Mr. Sharma, der Inhaber der Lumbini Lodge schüttelte den Kopf über diese Pläne. Wann immer die Rupien auch rollen würden, ob schon in einem guten Jahrzehnt, wie es die Angestellten des Lumbini Development Trusts erhofften, oder wirklich erst im Jahre 2024, wenn sich Buddhas Todestag zum 2.500sten Male jährte - das heutige Lumbini würde auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Und das wäre schade, denn der Umstand, dass es im Geburtsort des Erleuchteten über die Jahrtausende hinweg ohne die Glaubenskraft und die Fantasie der Pilger rein gar nichts zu erleben gab, repräsentierte die Religion des Nirwana wahrscheinlich viel treffender als das geplante Disneyland der buddhistischen Welt.

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