Читать книгу Der Kugelmensch - Luise Phillis - Страница 12
Der zweifelnde Mönch
ОглавлениеEs war einmal ein junger Mann, der verließ sein Elternhaus, obwohl er es nicht wirklich verlassen konnte. Schwerlich konnte er seinen Weg finden.Es begegneten ihm Frauen, Männer, Kinder. Zunächst schien er die Frauen zu lieben und genoss ihren Duft, ihre Körper. Und dann begehrte er Männer, junge schöne Männer, und er wusste nicht, ob er mit einer Frau, die das Andere verkörperte zusammen sein sollte oder ob er lieber mit einem Mann leben wollte, der ihm gleich war. Da er sich nicht entscheiden konnte, zog er eines Tages seiner Wege, ließ alles, was sein bisheriges Leben ausgemacht hatte, zurück, obwohl er es nicht wirklich lassen konnte. Er zog durch die Lande, bis er schließlich eines Abends an einen Brunnen kam, vor dem zwei goldene Schlüssel lagen.Als der junge Mann diese aufheben wollte, erschien ein hoher Geistlicher und sagte: „Wenn du nun diese Schlüssel entdeckt und dich nach ihnen gebückt hast, um sie aufzuheben, dann darfst du in dieses Kloster eintreten und kannst ein Mönch sein…Und wenn du 7 Jahre lang asketisch gelebt hast, morgens in der Früh jeden Tag gebetet, mittags Choräle gesungen und abends wieder gebetet und die Heiligen Schriften gelesen hast, dann wirst du eines bestimmten Tages selbst ein hoher Geistlicher sein!“Der junge Mann war neugierig, trat in das Kloster ein, verbrachte die sieben Jahre dort, wie der hohe Geistliche es ihm gesagt hatte. Er folgt allen Anordnungen, die ihm aufgetragen wurden. Es gefiel ihm, dass er von nun an meinte zu wissen, wo er hingehöre. Es erleichterte ihn, dass er sich nicht zwischen Mann und Frau entscheiden musste. Er lebte nach festen Regeln.Als er nach sieben Jahren nun selbst eine hoher Geistlicher geworden war und er eines Tages zwei Männer in die Weihen des Klosters einführte, spürte er immer noch ein leises Verlangen, sich zu entscheiden, für den einen oder für den anderen oder für ein anderes Leben. Auch quälten ihn Gedanken, die er sich hin und wieder um seine Eltern machte. Jedoch besann er sich auf die vielen Rituale und Zeremonien im Kloster und hielt sich an die Klosterverordnungen. So meinte er nun Gott gefunden zu haben.
Vergleichen wir die beiden Märchen miteinander, so können wir feststellen, dass die Lebenswege der beiden Protagonisten in zeitlich umgekehrter Weise verlaufen.
So ist die junge Frau in dem Märchen „ Die verblendete Seherin“ zu Beginn ihre Lebens vertraut mit der Spiritualität, aber sie weiß um das Geistig-Geistliche Potential, allerdings nur in reduzierter Form. Deshalb ist sie neugierig auf etwas anderes, auf das sinnliche Leben und sie kann sich nicht entscheiden und weiß nicht, wo sie hingehört. Sie kann beide Welten nicht miteinander verbinden.
Der junge Mann in dem Märchen „Der zweifelnde Mönch“ lebt zunächst seine Sinnlichkeit aus, um dann den Weg zur Spiritualität zu finden, doch er bleibt letztendlich ein zweifelnder, der ebenfalls Spiritualität und die materielle, sinnliche Welt als getrennt ansieht.
In diesem Märchen geht es um den männlichen Seelenanteil. Der junge Mann verlässt hier sein Elternhaus, das immerhin erwähnt wird im Gegensatz zu dem der jungen Frau im Märchen „Die verblendete Seherin“.
Sie hat gar keinen Bezug mehr zu ihrem Elternhaus oder zu ihrer Herkunft an sich, was eine Bodenständigkeit vermissen lässt und so zu Unachtsamkeit dem eigenen Leben gegenüber führt und Verirrung und Verblendung mit sich bringt.
Sich auf den Weg zu machen nach der Urheimat, heißt vor allem auch nach unserer Kindheit zu fragen, auch wenn wir diese und gerade weil wir diese überwinden müssen.
Der junge Mann scheint es zu nächst einfacher zu haben als die „verblendete Seherin“, er kann seine Sexualität frei ausleben, er ist auf der Suche nach dem Etwas, nach Sexualität, nach Praktiken, nach Zuwendung, nach dem Kick… Wir erfahren nichts über irgendwelche Reglementierungen, auch nicht über Moralvorstellungen und Grenzen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es schwierig für ihn ist, sich für eine Partnerin oder auch für einen Partner zu entscheiden. Er ist bisexuell und vielleicht auch pädophil. Weil er sich nicht entscheiden kann, weiß er letztendlich auch nicht, wo er hingehört. Er sucht und sucht und schließlich findet er zwei goldene Schlüssel. Dieser Fund ermöglicht ihm Eintritt in ein anderes Leben. Es ist deshalb für ihn möglich mit Hilfe dieser Schlüssel etwas Neues in seinem Leben zu finden, weil er sein vorheriges Leben losgelassen hat, er hat sich verabschiedet, es war unerfüllt und so wurde er auf diese Weise offen für etwas Anderes, sonst hätte er die Schlüssel nicht finden können. Ein hoher Geistlicher zeigt ihm die Möglichkeit auf, als Mönch in einem Kloster zu leben und selbst ein hoher Geistlicher zu werden. Der „hohe Geistliche“ steht in dem Märchen für unsere Spiritualität. Jedoch ist diese noch nicht frei entfaltet, sondern an strenge Regeln und Rituale gebunden. Der junge Mann schafft es tatsächlich ein hoher Geistlicher zu werden und so meint er, er habe seinen Platz gefunden. Tatsächlich aber sehnt er sich nach seinen Eltern, nach dem Leben außerhalb des Klosters, mach seiner sexuellen Identität, die der junge Mann noch nicht gefunden hat. Jedoch nur die strengen Rituale und Regeln, die festen Normen lassen ihn dort bleiben und dort leben, aber wirklich angekommen in seiner Urheimat ist er nicht.
Ebenso wie die „verblendete Seherin“ ist dieser junge Mann als „zweifelnder Mönch“ nicht in der Lage, beide Welten, nämlich das Körperlich-Sinnliche und das Geistig-Geistliche miteinander zu verbinden. Zwar hat der junge Mann zwei goldene Schlüssel gefunden, die diese beiden Welten symbolisieren, aber auch er vermag diese Welten nicht miteinander zu verbinden. Solange er nicht erkennt, dass beides zusammengehört die Welt der Sinne und Erfahrung und die Welt der Meditation, der Verinnerlichung, solange wird auch er immer noch auf der Suche sein und seine Urheimat nicht finden.
Vergleichen wir den „zweifelnden Mönch“ mit Hermann Hesses Protagonisten in seinem Roman „Narziß und Goldmund“ (Fischer Verlag, Berlin 1930) , so wird deutlich, dass jener im Vergleich zu den beiden Protagonisten Narziß und Goldmund, die beiden Lebensmöglichkeiten des Sinnlich-Erotischen zum einen und das Dienen dem Geistigen als Annäherung an das Göttliche versucht zu leben, allerdings im Nacheinander und nicht gleichzeitig.
In Hesses Roman lebt Goldmund eine sinnliche Weltorientierung auf intensive Weise aus, indem er zwar auf Geheiß seines Vaters in einem Kloster erzogen werden sollte, um die ausgelebte Sinnlichkeit seiner Mutter zu büßen. Im Kloster trifft Goldmund auf Narziß, der sein Lehrer und Freund wird und der sich ganz dem Klosterleben verschrieben hat. Goldmund wird nicht glücklich in dem Kloster, da er selbst das Sinnliche verkörpert und auf der Suche ist nach dem „Anderen.“ Narziß weiß darum und so verlässt Goldmund das Kloster und führt ein Vagabundenleben, immer auf der Suche nach einem erotischen Liebesabenteuer, auf der Suche nach dem Weiblichen, nach dem Urweiblichen. Er kommt nicht zur Ruhe, wird nicht sesshaft, obwohl er auch das Künstlerische kennen gelernt hat, das Kreieren von Holz-Skulpturen, von Madonnen erlernt. Schließlich wird eines Tages wegen eines Liebesabenteuers mit der Geliebten eines Statthalters zum Tode verurteilt und dann allerdings durch Zufall/Fügung von Narziß, der mittlerweile Abt geworden ist und einflussreich ist, vor dem Galgen bewahrt. Goldmund geht mit Narziss wieder ins Kloster zurück, jedoch findet er hier auch keine Ruhe, er ist weiterhin getrieben durch Erotik und als er eines Tages von seinem Pferd stürzt, nachdem er von einer Frau zurückgewiesen worden war, fehlt ihm der Lebensantrieb und er stirbt in den Armen von Narziss, der mit seiner Weltorientierung auch nur scheinbar richtig liegt, denn Goldmunds letzte Worte sind an ihn als Bekenntnis und Vermächtnis gerichtet: „Aber wie willst denn du einmal sterben, Narziß., wenn du doch keine Mutter hast? Ohne Mutter kann man nicht lieben. Ohne Mutter kann man nicht sterben.“
Hier wird deutlich, dass die Suche nach „Liebesabenteuern“, das intensive Ausleben von Sexualität die Suche nach Zuwendung, nach Liebe ist, die Suche nach der Mutter, und zwar nach dem Urweiblichen, nach der Urmutter, die das Weibliche und Männliche, das Yin und Yang vereint, Vielleicht wäre es besser von der Ur-Frau zu sprechen, da dieser Begriff nicht so sehr die Festlegung der Frau auf die Mutterrolle provoziert. Hermann Hesse hat in seinem Roman „ Narziss und Goldmund“ die Dualität betont, die unüberbrückbar scheint: der eine Mensch ist der Sinnlich-Lebende, der Ästhethiker, versinnbildlicht durch Goldmund, und der andere ist der Meditativ - Kontemplativ-Lebende, der Ethiker, versinnbildlicht durch Narziss.
Diese beiden Lebensmöglichkeiten vereint der Mönch in seinem Leben, allerdings vermag auch er beides nicht zusammenzubringen, er lebt es linear, hintereinander, nicht gleichzeitig. So bleibt auch er, genau wie Narziss und Goldmund letztlich in dem Dilemma der Dualität, der Zerrissenheit zurück und sehnt sich und bleibt innerlich ein Suchender, auch wenn er diese äußerlich schon aufgegeben hat.
Diese Suche so wie sie Goldmund auslebt, kann zu einer Qual werden, zu einer Sucht, wenn wir uns nicht unsere Kindheit, das Woher, aus dem wir kommen, unsere Wurzeln und unsere Entwurzelung durch z. B. Zuwendungsmangel ansehen.
So wie dem Protagonisten im Märchen geht es vielen Menschen in unserer heutigen Gesellschaft. Die Trennung des Körperlichen und Geistigen in unserer Welt stellt immer noch ein großes Problem dar, das mit Hilfe von aufgelösten negativen Kindheitsmustern, die im Erwachsenenalter immer noch wirken, gelöst werden kann.
Ein konkretes Fallbeispiel für die Überwindung der Dualität von Sinnlichkeit und Spiritualität aus der philosophischen Lebensberatung
Hierzu möchte ich ein Fall-Beispiel aus meiner philosophischen Lebensberatung anführen, und zwar das von Benno P., der ein religiös süchtig Suchender war und so seinen Zuwendungsmangel aus seiner Kindheit kompensieren wollte.
Benno P. in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts geboren, hatte seinen Vater nur kurz gekannt, da dieser in Ost-Berlin als „Spion“, der er nie gewesen war, gekidnappt wurde und wahrscheinlich umgebracht worden war. Die Mutter musste sich allein durchschlagen, musste als Serviererin usw. ihr Geld verdienen und Benno war mit seiner zwei Jahre älteren Schwester tagsüber allein zu Hause und erlebte seine Mutter abends als Erschöpfte und somit als bemitleidenswerte Frau. Seine Mutter leiden zu sehen, bedeutete für Benno eine Qual und unbewusst fühlte er sich daran mitschuldig.
Er war sehr abhängig von der Meinung und Zuwendung anderer, um mit diesem Trennungsschmerz -der Vater kam nicht wieder, die Mutter war nicht da, weil sie arbeitete und abends immer traurig war- fertig zu werden.
Als die Mutter eines Tages mit einem Mann nach Hause kam und dann mit diesem zusammenlebte, brauchte Benno einige Zeit, bis er sich an diesen als Funktion eines Ersatzvaters gewöhnt hatte. Doch langsam begann Benno diesen „Ersatzvater“ als seinen Vater anzunehmen, doch als er schließlich Vertrauen zu diesem aufgebaut hatte, starb er in Bennos Armen an Herzversagen. Benno fühlte sich erneut im Stich gelassen, heimatlos und seine Mutter wurde wieder sehr traurig, hatte immer weniger Zeit für Benno. Und so ging dieser dann als Jugendlicher von zu Hause weg, machte eine Lehre und war seit dem ein Suchender. Er suchte nach dem Sinn des Lebens, nach Erfüllung, denn das alles hatte er in seiner Kindheit nicht erfahren. Nach einer kurzen Hippie-Phase, mit Rock – Musik und Haschisch-Rauchen, ging er nach Indien und setzte sich mit dem Hinduismus und Buddhismus auseinander. Die unterschiedlichen politischen Gruppierungen in Deutschland gaben ihm keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und so war er zwischendurch immer depressiver geworden.
In Indien traf er einen virtuosen Tabla-Spieler, der sein Lehrer auch auf philosophischer Ebene wurde. Hier erfuhr Benno die Bescheidenheit, nach der er immer gesucht hatte, und etwas über das Leiden, das zum menschlichen Dasein gehört. So konnte er seine Depression, unter der er häufig litt, auch annehmen. Er fühlte sich zunächst wohl, zumindest wohler als in seiner örtlichen Heimat, die ihm keine geboten hatte.
Die Konsumorientiertheit und Geldgier der westlichen Welt schreckten ihn ab und er fand in der asiatischen Philosophie so etwas wie eine Heimat. Er kehrte nach Deutschland zurück und ertrug den Trubel und die Extrovertiertheit der Deutschen nicht und litt zunehmend unter Depressionen . Er fand dann jedoch ein vorläufiges „zu Hause“ bei den Sanyassins, „Schüler“ des Bhagwan, der als eine Art „Religionsstifter“ asiatische und westliche Philosophie miteinander verbinden wollte und einen neuen Staat in den USA schuf, in der Form eines Stadt-Staates. Diese Bhagwan – Zugehörigkeit verschaffte ihm eine kurze Zeit des Angekommenseins, das sich aber besonders nach dem Tod von Bhagwan wieder auflöste. Benno und mit ihm waren es viele Männer, aber auch Frauen, war durch seinen Zuwendungsmangel in der Kindheit zu sehr abhängig von den anderen Bhagwan-Anhängern, so dass seine spirituelle Entwicklung stagnierte, da er sich unfrei fühlte und durch seine Sucht nach Zuwendung Zuwendungs-erpressbar war. Das bedeutet, dass Benno in den Gruppensitzungen und Therapien, die eigentlich den Sinn der Erlösung von lästigen Kindheitsmustern haben sollten, keinen wirklichen Halt finden konnte, da alles, was er sagte und tat nur aus Gründen seiner Zuwendungssucht geschah. Er wollte den Anderen in der Gruppe gefallen, hatte einen Schutz gegen seinen Urschmerz, gegen seinen Zuwendungsmangel entwickelt, so dass die Bhagwan-Therapiegruppen bei ihm keine Wirkung zeigten und er nach der Auflösung des Bhagwan-Staates und der Sanyassin-Gruppen weiterhin ein süchtig Suchender war. Bennos Sucht bestand in der Extremität seines religiösen Verhaltens. Alles, was er tat, war extrem. Er fastete auf übertriebene Weise, so dass er körperlich krank wurde. Er meditierte in einem kleinen leeren Raum mit weißen Wänden, um selbst „leer“ zu werden, angekommen zu sein, doch auch das schadete ihm, da er vergaß, dass er ein Mitglied einer Gesellschaft war, die ihn benötigte. Er wurde mit seinen Talenten, als Musiker und Meditationslehrer für die hektischen Kinder gebraucht. Doch bevor Benno dies erkannte, brach er körperlich und seelisch zusammen. Schließlich wollte sich Benno tatsächlich von seinem Urschmerz, dem Zuwendungsmangel in der Kindheit befreien. Er lernte eine Frau kennen, die nach vielen Frauenbekanntschaften schließlich seine große Liebe war. Durch diese intensive Liebesbeziehung kam Benno schließlich an seine Verlassensängste heran, die sich für ihn so unerträglich anfühlten, dass er eine Einzeltherapie machte und sich mit sich selbst konfrontierte. Benno hat seitdem eine Ausgewogenheit von seinem spirituellen Leben mit Meditation und Kontemplation und seinem aktiven Leben als Ehemann und Familienvater gefunden. Er ist Musiker, hat vier Kinder und übernimmt nicht nur die Verantwortung für sein eigenes Leben, sondern auch für seine Familie. Doch soweit wie Benno ist der zweifelnde Mönch noch nicht, er lebt mit einem Zerrissenheitsgefühl im Kloster und benötigt strenge Regeln, um das Leben bewältigen zu können, und so ist er noch lange nicht angekommen, da er sich noch nicht entschieden hat und noch nicht entdeckt hat, was Liebe eigentlich heißt. Wenn wir uns weiter auf den Weg machen, wird aus der Verblendeten und dem Zweifelnden dann irgendwann eine Sehende bzw. ein Sehender…