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Der Magier beim fahrenden Volk

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Es gab zu einer Zeit einen jungen Mann, der sehr viel Kraft hatte. Er hieß Alijoscha. Er konnte nicht nur große Gewichte stemmen, sondern auch Menschen in seinen Bann ziehen, jung und alt, Mann und Frau. Er war in einem kleinen Wanderzirkus aufgewachsen. Wenn dieser Zirkus auf Winterquartier war, bekamen die Affen im Käfig warmen Tee zu trinken, damit sie sich nicht erkälteten. Die unverheirateten Männer tranken abends Schnaps und sangen ihre Lieblingslieder in ihre Blechtassen hinein, so dass es weit in die Mondnächte hinausschallte. Alijoscha wuchs bei den Großeltern auf und wurde stark und hatte sehr viel Energie. Er war nie in die Schule gegangen, dennoch konnte er lesen und schreiben, denn das hatte ihm sein Großvater beigebracht. Er konnte Gitarrespielen, obwohl er keine Noten lesen konnte und nie Musikunterricht gehabt hatte. Auch singen konnte er wunderschön und viele andere Talente schlummerten in ihm. Da er schon als Kind einen großen Zauber ausstrahlte, wuchs seine magische Anziehungskraft auf Mädchen und Frauen mit zunehmendem Alter. Als Alijoscha nun ein junger Mann geworden war, verliebten sich alle Mädchen vom Zirkus in ihn, uns selbst die glücklich verheirateten Frauen fühlten sich von ihm magisch angezogen.Da Alijoscha nun ohne Mutter aufgewachsen war, brauchte er besonders viel weibliche Nähe, und so zog er alles Weibliche in seinen Bann. In jedem Ort, in dem der Zirkus gastierte, hatte er Frauen zu seinen Geliebten gemacht. Zu einer Zeit waren viele Frauen sogar bereit, für ihn „anzuschaffen“, so sehr fühlten sie sich von seiner magischen Ausstrahlung angezogen. Beim Zirkus war er Feuerschlucker und er löschte das Feuer mit dem Wein aus großen Kelchen. Er jonglierte mit Stäben und konnte Münzen wegzaubern und mit Schwertern tanzen. Als er sich eine Tages beim Feuerschlucken den Mund verbrannte, zuviel Wein aus den Kelchen trank, um das Feuer zu löschen, als er das Gleichgewicht beim Jonglieren mit den vielen Stäben verlor und als er zu viele Münzen verschwinden ließ und mit zu vielen Schwertern tanzte, brach er nach seiner Vorstellung zusammen. Irgendwann, als er aus seiner Ohnmacht erwachte, saß eine Frau an seinem Bett, die er noch nie gesehen hatte. Sie hatte kalte Tücher auf seine Stirn gelegt und hielt seine Hand. Er verspürte ein tiefes Verlangen, diese Frau zu küssen. Ihm war so, als hätte er noch nie geküsst, noch nie geliebt. Langsam spürte er seine Kraft wieder in seinen Gliedern. Als er wieder richtig bei Kräften war, nahm er seine Gitarre und sang dazu, - so inbrünstig, wie er noch nie zuvor gespielt und gesungen hatte… Die Frau, nach der er sich so sehnte, war jedoch verschwunden… Doch er spielte und sang nur noch für sie. Er ließ von nun an ab von allen anderen Frauen, arbeitete nicht mehr als Feuerschlucker und löschte das Feuer nicht mehr mit dem Wein aus großen Kelchen. Auch jonglierte er nicht mehr mit Stäben, zauberte keine Münzen mehr herbei oder weg und tanzte nicht mehr mit Schwertern…Doch immer wenn er einen Stab in seine rechte Hand nahm und ihn nach oben hielt und mit seiner linken Hand auf die Erde zeigte, erschien eine große, helle liegende Acht über seinem Kopf, das Unendlichkeitszeichen, so dass sich alles um ihn herum in Blumen verwandelte.

Der Magier, das „fahrende Volk“ und die männliche Kraft

Da jeder Mensch weibliche und männliche Energie in sich trägt, ist es deshalb seine Aufgabe die Balance zwischen beiden Polen herzustellen, dies ist der Ursprung seines lebenslangen Tun und Schaffens.

Nur durch einen hohen Bewusstseinsgrad und nach intensiv erlebten Erfahrungen im Laufe eines Lebens sind der Einklang und die Harmonie zwischen weiblicher und männlicher Energie andauernd und stabil.

Der innere und äußere Kampf der beiden Pole macht jedoch das Leben bunt.

Der junge Mann Alijoscha steht noch am Anfang seines vor ihm liegenden Lebens. Er verkörpert die männliche Energie und Kraft, die in jedem Menschen vorhanden ist. Bei dem einen ist sie ausgeprägter und offensichtlicher, bei anderen verhalten und verdeckter, unabhängig davon, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt.

Alijoscha symbolisiert dabei den „Urmann“, der mit seinem osteuropäischen Namen auf die „Urvölker“ Osteuropas verweist, die sich durch große Stärke ausgezeichnet haben, wie z. B. Dschingis Khan.

Alijoscha gehört zu einem Wanderzirkus, also zum „fahrenden Volk“, das seinen Ursprung in Osteuropa hat, besonders aber in Indien.

Das Leben im Wanderzirkus verbildlicht Freiheit, d. h. Unabhängigkeit von Raum und insofern auch von Zeit, da das Zusammenleben der Zirkusleute nicht direkt von den kulturellen und gesellschaftlichen Strömungen beeinflusst ist.

Das Zusammenleben mit wilden Tieren, die zwar domestiziert sind, aber gleichzeitig die ursprüngliche natürliche Kraft symbolisieren, ermöglicht den Zirkusleuten, ihre eigene ursprüngliche Kraft durch eine indirekte Art von Nachahmung der Tierwelt, die im Zirkus ihr Können unter Beweis stellen müssen, eine gewisse Magie auszustrahlen.

Alijoscha ist verglichen mit allen anderen der kräftigste Mann und derjenige mit der größten Ausstrahlung.

Seine Stärke ist nicht zuletzt auch deshalb so magisch anziehend und überwältigend, weil er ohne Eltern aufgewachsen ist und er früh gelernt hat, sich selbst zu behaupten

– Das Sich – Alleingelassen – Fühlen durch die elternlose Erziehung, das tiefe Verlassenheitsgefühl wird durch die Geborgenheit, die die Großeltern ihm bieten und ebenso auch durch die gesamte „Zirkuswelt“, aufgefangen.

Die Zwiespältigkeit Alijoschas zwischen Elternlosigkeit und dennoch familiärer und sozialer Geborgenheit innerhalb eines sozialen Gefüges, wie es der Zirkus ermöglichte,t aufgewachsen zu sein, erfüllt Alijoscha einerseits mit Sehnsucht, und zwar mit Sehnsucht nach der geheimnisvollen, ihm durch die Mutterlosigkeit verborgen gebliebenen weiblichen Energie und andererseits mit einer großen magischen Kraft und Anziehung-

Um an der weiblichen Energie Anteil zu haben, muss er seine männlichen Fähigkeiten besonders ausprägen. Das zeigt er, indem er die vier Elemente, Feuer, Wasser, Erde, Luft beherrscht, indem er als Feuerschlucker auftritt, den Wein aus Kelchen gebraucht, um das Feuer zu löschen. Der Tanz mit den Schwertern symbolisiert ebenso das Element Feuer, die Kelche symbolisieren das Wasser, das Fließende. Das Jonglieren mit den Stäben steht für das Element Luft und das Zaubern mit den Münzen steht für die Erde, für das Materielle als Lebensgrundlage.

Da Alijoscha in seiner Sehnsucht zum anderen Geschlecht seine Kräfte und Künste zu einseitig gebraucht und sich nicht für eine Frau entscheiden kann, verliert er völlig sein äußeres und inneres Gleichgewicht, das er ohnehin nicht in einem hohen Maße besessen hatte, und bricht zusammen.

Dieser Zusammenbruch ist wie jeder Zusammenbruch die Chance für einen Neuanfang. Alijoscha trifft auf eine Frau, die alle Frauen in sich zu vereinigen scheint. Sie erweckt in ihm seine wahren Talente, die er auf Grund seiner Kraftvergeudung vernachlässigt hatte, wiederzuentdecken und sie einzusetzen.

Die weibliche Energie in Alijoscha wird hier durch die Frau an seinem Bett symbolisiert. Sie erweckt seine Begabungen zu neuem Leben, in dem Sinne, dass die Natur nicht verschwenderisch ist, sondern jeden Menschen mit seinen speziellen Begabungen ausstattet, die er im Laufe seines Lebens auch zu nutzen hat. Alijoscha nutzt diese musischen Begabungen und die Frau aller Frauen verschwindet aus seinem Leben, aber nur physisch. Geistig – seelisch ist sie immer noch vorhanden, da er seine musischen Begabungen auslebt.

Seine männliche Kraft hat er nicht verloren. Und wenn er sich mit dem Himmel und der Erde gleichzeitig verbunden fühlt, dann ist seine Kraft so magisch und unendlich groß, dass er so etwas wie Eins-S ein erahnt.-

Dies sind aber für Alijoscha nur Momente; zu einseitig ist er noch mit seiner männlichen Magie beschäftigt, so dass das Urweibliche immer unerreichbar scheint und immer noch ein großes Sehnen danach zurücklässt.

Wie wichtig in den heutigen westlichen Industriegesellschaften eine ausgeprägte männliche Seelenkraft ist, zeigen die vielen Beispiele für die verkrüppelte Seelenstruktur vieler Menschen, besonders auch die der Männer.

Da die technischen Errungenschaften des 19. und besonders die des 20. Jahrhunderts an die Stelle von Gott oder sonst irgendeiner absoluten geistigen Macht getreten sind, tritt der Mensch hinter diese zurück und erlangt hinsichtlich seiner Ursprünglichkeit und Individualität eine große Bedeutungslosigkeit.

Da die Technik dem naturwissenschaftlichen Weltbild entspricht, dass alles funktioniert und alles analysiert und erklärt werden kann, nicht aber verstanden werden muss, ist der Mensch Handlanger der Technik geworden und gleichzeitig der Beherrscher der Natur. Dabei hat er größtenteils vergessen, dass er selbst Teil der Natur ist und dass er die Aufgabe hat, diese zu verstehen, um sich selbst verstehen zu können. Er ist auf diese Weise von sich selbst getrennt, was bedeutet, dass sich seine beiden Seelenkräfte Yin und Yang, das Männliche und das Weibliche (Animus und Anima, wie Carl Gustav Jung (1875-1961, „Archetypen“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2001) der berühmte Tiefenpsychologe, diese Seelenkräfte im Menschen nennt) nicht in Harmonie befinden, sondern vielmehr im Streit. Das führt zu einseitig geprägtem Handeln und zu einem einseitigen Wissenschafts- und Naturverständnis, so dass die männliche Kraft als Magie, die uns durch den jungen Mann beim fahrenden Volk begegnet, weitgehend verloren gegangen ist. Diese einseitig ausgeprägten Seelenkräfte schaffen also einseitig geprägte Weltbilder.

Besonders auch die männliche Seelenkraft sollte in ihrem Ursprung gesehen werden. Ihr liegt das „Sich-Annähern“ als Übersetzung aus dem Lateinischen „aggredere“ zu Grunde, es ist nicht wertend gemeint, sondern ein Teil menschlichen Seins. Wenn wir uns nicht an das Annähern, was wichtig für unser Leben ist, und uns trauen uns selbst zu verteidigen, dann werden wir aggressiv in einer unerlösten Form, d. h. wir werden in unangemessener Weise die Anderen auf verbaler oder sogar auf körperlicher Ebene verletzen. Gebrauchen wir hingegen die Aggression als handlungstreibendes Energiepotential, so ist sie als männliche Seelenenergie sehr hilfreich bzw. sogar notwendig, um zu handeln, um leben zu können. Besonders deutlich wird dies anhand von Beispielen, die uns mit der Natur, oder dem, was wir davon noch vorfinden, konfrontieren. Halten wir uns z. B. in einer Gegend auf, in denen es noch Raubtiere gibt, dann müssen wir möglichst instinktiv handeln, entweder weglaufen oder aber uns der Bedrohung „Annähern“, um selbst zu drohen, uns zu verteidigen. Dieses Verhalten ist zum Überleben notwendig. Ebenso verhält es sich auf der gesellschaftlich sozialen Ebene. Soll jemand von seinem Arbeitsplatz weggemobbt werden, dann ist es notwendig, dass sich der Betreffende zur Wehr setzt, dass er z. B. zum Aufsichtsrat geht, eine Supervision fordert oder dass er selbst sich sogar direkt wehrt, in dem er sein eigenes Machtpotential mobilisiert, statt in Ohn-Macht zu fallen, er setzt seine eigene männliche Seelenkraft ein und sagt auf relativ angstfreie Weise, was er von den Anderen und deren Art mit ihm umzugehen hält… Einer dieser beiden Vorschläge hilft in der Regel tatsächlich, sich seinen eigenen Platz (wieder)zu erkämpfen. Die erlöste Form Aggression als Notwendigkeit und Möglichkeit zu sehen überleben und somit auch authentischer leben zu können, ist besonders wichtig, um die Konsequenzen der unerlösten Form von Aggression, die in Gewalt gegen andere und gegen sich selbst münden, zu verhindern.

Den „Urzigeuner“ im Menschen finden

Der Protagonist in diesem Märchen lebt sein männliches Seelenpotential aus. Es ist für ihn auch nicht allzu schwierig, da er sich in einem relativ geschützten Raum befindet, er hat seinen Platz beim „fahrenden Volk“. Das ist ein wichtiges Element, was das Zigeunerleben immer attraktiv machte, oder so erscheinen ließ. (Ich wähle hier den Begriff Zigeuner, der zwar einerseits assoziativ belastet ist durch die verklärte Romantik des 18. Jahrhunderts, durch die Diskriminierung im Sinne eines Rassismus, der besonders im 19. Jahrhundert geprägt wurde und die Verfolgung im Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts mit sich brachte); jedoch andererseits bedeutet „Zigeuner“ auch eine gewisse Verklärung des Gauklerlebens, das verbunden wird mit nicht gelebter eigener bürgerlicher Freiheit, Unabhängigkeit, Sinnlichkeit und dem Ausleben musischer Begabungen. Beides ist problematisch, um den Sinti und Roma gerecht zu werden. Dennoch wähle ich neben „Sinti“ und „Roma“ auch das Wort „Zigeuner“, da es für mich authentisch und wertfrei ist. Von Zigeunern ist häufig in altem Liedgut und in der Literatur die Rede, und so meine ich damit gleichzeitig auch den „Urzigeuner“ in uns selbst, den wir alle tradiert assoziieren. Da wir kollektiv das „Umherziehen“, das „Umherwandern“ als ursprüngliche Lebensform der Menschheit kennen -der Mensch war vor seiner Sesshaftigkeit ein Jäger, ein Beduine-, ist uns „das Zigeunerhafte“ in seiner ursprünglichen Bedeutung ohne die Prägung gesellschaftspolitsicher Vorurteile vertraut, ohne das damit verbundene Leben zu diskriminieren oder zu verklären.

Alijoscha, der also einen festen Platz in der Großfamilie, in der Sippe der Zigeuner hat, obwohl er elternlos aufgewachsen ist, erfährt so die Möglichkeit sich in seinem männlichen Potential auszuleben.

Das ist die Faszination, die Zigeuner und das Zigeunerleben auch heute im 21. Jahrhundert ausstrahlen. Das ist die Möglichkeit, einen eigenen Weg gehen zu können, besonders was die eigenen Talente betrifft. Hier muss der Mensch nicht bloß funktionieren, hier kann er seine Talente entfalten. Er ist Feuerschlucker, Tänzer und Magier und so verkörpert er das facettenreiche Potential des Künstlers, der seinen eigenen Weg gehen kann, denn er darf seine Talente ausleben und ist unabhängig.

Die Faszination des Zigeunerlebens ist in der Literatur und in der Oper und Liedern beschrieben und ich habe sie persönlich erlebt. Bereits als Kind fand ich das, was ich über Sinti und Roma wusste, faszinierend. Sie hatten keine Heimat, sie waren an keinen Ort gebunden und hatten ihre Familie immer dabei. Niemand musste den anderen verlassen, sie blieben immer zusammen, als Großfamilie, ja sogar als Sippe und sie konnten immer weggehen, von den Plätzen, auf denen sie nur zeitweise gastierten. Sie hatten so etwas wie Heimat, die nicht an den Ort gebunden war, dafür hatte Heimat etwas mit den Menschen, mit der Familie, mit den domestizierten Raubtieren zu tun.

Tatsächlich hatte ich eines Tages eine Jugendliebe, die aus einem kleinen Wanderzirkus stammte. Er war ein Feuerschlucker. Dort erfuhr ich viel über das Zigeunerleben und es bestätigte sich zunächst das, was ich mir darunter immer vorgestellt hatte. Dieses Liebesabenteuer dauerte nicht lange, denn sonst könnte ich nicht hier sitzen und schreiben, hätte nicht zu Ende studiert und wäre nicht Philosophin geworden. Instinktiv habe ich meinen Weg gesucht und meine kleinen Spuren hinterlassen, das wäre nicht möglich gewesen, wenn ich dort geblieben wäre. Lange Zeit nach diesem „Abenteuer“ fand ich es unerträglich und „spießig“ in einem Haus zu wohnen… Es blieb eine tiefe Sehnsucht nach diesem „fahrenden Volk“, nach dieser Wanderschaft… Und dennoch wusste ich natürlich irgendwann, dass diese Sehnsucht eine andere war, nicht die nach einem Zuhause, das örtlich benannt werden kann, sondern nach einer anderen Heimat, die gar keinen Ort hat, die auch nicht die Sippe der Zigeuner mit ihren Wagen verkörpert. Irgendwie wusste ich, es musste noch etwas anderes sein und so suchte ich weiter…Und eines Tages war mir klar, es war auch der Zigeuner in mir, den ich suchte und gesucht hatte.

So ist auch Alijoscha nicht angekommen, selbst wenn er seinen Platz bei den Zigeunern, den Zirkusleuten, den Gauklern hat.

Er muss keine Entfremdung bei seiner Arbeit erfahren wie Gregor Samsa, der Protagonist in Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“, (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999). Dieser war „Handlungsreisender“, ein Vertreter in der Textilbranche und funktionierte als Fremdbestimmter, der weder eine Freundin hatte, noch jemals Sexualität gelebt hatte und der in einem öden Alltagstrott die kleine Familie ernährte, die nicht seine war, sondern seine Herkunftsfamilie, sozusagen die Familie seines Vaters, der sie eigentlich hätte ernähren müssen. Da Gregor Samsa so entfremdet war von sich selbst und seinen Talenten, von denen er nicht einmal wusste, dass sie überhaupt existierten, verwandelte er sich in ein „Ungeziefer“, in einen Käfer, der nicht mehr lebensfähig war und der sterben musste, damit er seine Familie in ihrem entfremdeten Dasein als Kleinfamilie nicht störte.

Dies alles ist bei Alijoscha, dem Magier anders als bei Gregor Samsa.

Der junge Magier erfährt sich selbst, lebt seine Sexualität aus und wird bewundert und nicht erniedrigt wie Gregor Samsa. Alijoscha kann allerdings mit seiner Energie, mit seinen Kräften noch nicht wirklich haushalten. Er erlebt sich selbst mit seiner Attraktivität auf zweierlei Ebenen. Die eine ist sein Sich-Selbst-Erfahren als großartiger Künstler und die andere Ebene ist, dass er seine Attraktionen, die er durch seine Darstellungen bietet, durch die anderen Menschen widergespiegelt bekommt, besonders durch die Bewunderung durch das andere Geschlecht. Die Frauen sind fasziniert von ihm, sie bestaunen ihn und geben sich ihm hin. Doch das macht ihn nicht wirklich glücklich. Obwohl er es im Vergleich zu den anderen jungen Männern, die nicht verheiratet waren, gut hatte. Denn jene fühlten sich einsam und mussten Schnaps trinken, weil sie nicht diese Wirkung auf Frauen hatten wie Alijoscha und so mussten sie ihre Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht in ihre alten Blechtassen hineinsingen.

Alijoscha lebt zwar seine Sexualität aus, ist aber noch nicht in der Lage zu lieben. Er braucht die weibliche Energie und missbraucht sie zugleich, da die Frauen für ihn sogar „auf den Strich“ gehen. Sie tun es, weil sie sich ihm so ergeben fühlen und Alijoscha lässt es zu und nimmt es in Anspruch. Der männliche Seelenaspekt ist sehr wohl ausgeprägt, aber er kann nicht ausgeglichen oder in Harmonie sein, da der weibliche Aspekt noch nicht entwickelt ist. Die Frauen haben noch kein wirkliches Selbstbewusstsein, sie lassen sich missbrauchen und stellen keinen gleichberechtigten Part für das männliche Potential dar, das Alijoscha verkörpert. Deshalb ist Alijoscha auch der Liebe noch nicht fähig, da es dazu des selbstbewussten und gleichberechtigten Parts bedarf. Er sehnt sich zwar danach und verausgabt sich immer mehr mit seinen Künsten, so dass er zusammenbricht, aber eine wirkliche Liebespartnerin ist noch nicht da. Die Frau, die an seinem Bett sitzt wäre vielleicht die „Richtige“, aber sie kann noch nicht bei ihm bleiben, denn er muss noch lernen mit seiner Kraft umzugehen und die Frau ist auch noch nicht so weit. Ihr Selbstbewusstsein muss noch wachsen, aber sie erweckt in ihm die starke Sehnsucht nach einer einzigen Frau, die er lieben kann, auch wenn ihm das noch nicht bewusst ist. Er lässt ab von den anderen Frauen und von seinen ausschweifenden Kunstdarbietungen und lernt ganz neue Talente in sich kennen, er singt und spielt ein Instrument und eines Tages wird er bereit sein für eine Frau, die er liebt und die ihn liebt.

Tatsächlich ist das, was wir als Zigeunerleben so verherrlichen, nur eine Sehnsucht, ein Symbol für unsere Sehnsucht nach Freiheit, nach echtem Leben, nach Ursprünglichkeit. In unserer heutigen Zeit haftet dem Zigeunerleben zwar immer noch etwas Romantisches an, aber in Wirklichkeit sieht es etwas anders aus. Die Freiheit von einem Staat, von Regeln und Konventionen unabhängig zu sein, und einen festen Platz innerhalb einer großen Lebensgemeinschaft zu haben, ist schwer erarbeitet und erkauft. Diesen festen Platz gibt es in unserer hoch technisierten und globalisierten Welt nirgends mehr. Es gibt nicht genügend Arbeitsplätze für Jugendliche und Erwachsene. Viele Berufe gibt es nicht mehr, da sie durch technische Errungenschaften ersetzt worden sind. Alles ist in einem schnellen Wandel begriffen und der Mensch leidet unter einem Identitätsverlust. Bei den Sinti und Roma scheint es anders zu sein, hier gibt es noch feste Plätze für jeden der Familienangehörigen, der Sippe. Aber dennoch ist der Preis dafür auch hoch. Um überleben zu können, mussten und müssen sich die Zigeuner als Zirkusleute, als Artisten und fliegende Händler ernähren. Dazu gehört es leider auch, dass die Frauen teilweise zur Prostitution gezwungen werden. Dies zeigen authentische Filme mit echten Zigeunern in z. B. Rumänien gedreht, wie u. a. der Film „Time of the Gipsies“ („Die Zeit der Zigeuner“ Jugoslawischer Spielfilm von Emir Kustorica 1988)

Die Männliche und Weibliche Energie sind hier noch im Streit miteinander und keineswegs ausgeglichen. Deshalb stellt auch das „fahrende Volk“ keinen Ort des Angekommenseins dar. Dennoch können wir viel von dem „fahrenden Volk“, den Sinti und Roma lernen … Allerdings geht die Suche weiter…

Der Kugelmensch

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