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Der Laurence-Junge
Оглавление»Jo! Jo! Wo bist du?«, rief Meg am Fuß der Dachbodentreppe.
»Hier«, entgegnete eine heisere Stimme von oben. Meg rannte hinauf und fand ihre Schwester in eine Decke gehüllt auf einem alten dreibeinigen Sofa am sonnigen Fenster apfelessend und weinend über dem Erben von Redclyffe. Dies war Jos bevorzugter Zufluchtsort, hierhin zog sie sich am liebsten mit einem halben Dutzend Renetten und einem guten Buch zurück, um die Ruhe zu genießen – einzig in der Gesellschaft einer zahmen Ratte, die dort oben wohnte und sich nicht im Geringsten stören ließ. Als Meg auftauchte, huschte Scrabble in sein Loch. Jo schüttelte sich die Tränen von den Wangen und wartete gespannt auf die Neuigkeiten.
»Was für ein Spaß! Siehst du das! Eine offizielle Einladung von Mrs Gardiner für morgen Abend!«, rief Meg, wedelte mit dem kostbaren Blatt Papier und las mit mädchenhaftem Entzücken weiter.
»›Mrs Gardiner gibt sich die Ehre, Miss March und Miss Josephine zu einer kleinen Silvesterfeier einzuladen.‹ Marmee hat gesagt, wir dürfen – aber was sollen wir nur anziehen?«
»Was soll die Frage, du weißt genau, dass wir unsere Popelinkleider anziehen werden. Wir haben ja nichts anderes«, erwiderte Jo mit vollem Mund.
»Hätte ich doch nur ein Seidenkleid!«, sagte Meg seufzend. »Mutter sagt, wenn ich achtzehn bin, bekomme ich eins, aber wie soll ich denn noch zwei Jahre warten?«
»Unsere Kleider sehen doch aus wie Seide, das reicht vollkommen. Deins ist so gut wie neu. Wobei – ich hab ganz vergessen, dass ich ein Brandloch in meinem hab, und einen Riss. Was nun? Das Brandloch ist nicht zu übersehen, und ich kann nichts mehr rauslassen.«
»Du musst so viel sitzen wie möglich und darfst niemandem deinen Rücken zeigen. Vorne ist das Kleid ja in Ordnung. Ich bekomme eine neue Schleife für meine Haare, und Marmee leiht mir ihre kleine Perlenbrosche. Meine neuen Schuhe sind ein Traum, und meine Handschuhe tun’s noch, auch wenn sie nicht so schön sind, wie ich es gern hätte.«
»Meine haben Limonadenflecken, aber ich kann mir keine neuen kaufen, also werde ich ohne gehen müssen«, sagte Jo, die sich um ihre Kleidung wenig Gedanken machte.
»Du musst aber Handschuhe haben, sonst geh ich nicht«, rief Meg bestimmt. »Handschuhe sind wichtiger als alles andere; ohne kannst du nicht tanzen. Und wenn du nicht tanzt, schäme ich mich in Grund in Boden.«
»Dann bleibe ich halt sitzen. Ich mach mir ohnehin nicht viel aus Gesellschaftstanz. Es macht keinen Spaß, so herumgewirbelt zu werden. Ich lauf lieber rum und treibe Unfug.«
»Du kannst Mutter nicht um neue bitten, sie sind so teuer, und du bist so schlampig. Als du deine ruiniert hast, hat sie gesagt, sie kauft dir diesen Winter keine neuen mehr. Kannst du sie denn nicht irgendwie herrichten?«
»Ich kann sie zusammengebauscht in der Hand halten, dann sieht man nicht, wie fleckig sie sind. Mehr ist nicht drin. Oder nein! Ich sag dir, was wir machen – wir ziehen beide einen guten an und nehmen einen schlechten in die Hand. Verstehst du?«
»Aber du hast viel größere Hände als ich und dehnst mir meine aus«, begann Meg – die eine besondere Schwäche für Handschuhe hatte.
»Dann geh ich halt ohne. Mir doch egal, was die Leute sagen!«, rief Jo und nahm wieder ihr Buch zur Hand.
»Du darfst einen haben, ja, gut, du darfst! Aber mach mir keine Flecken rein, und benimm dich. Nicht die Hände hinterm Rücken verschränken, und nicht glotzen oder ›heiliges Kanonenrohr!‹ sagen, hörst du?«
»Nur keine Sorge. Ich werde so damenhaft sein wie nur möglich und brenzlige Situationen nach Möglichkeit vermeiden. Jetzt lauf und schreib zurück, und lass mich diese grandiose Geschichte zu Ende lesen.«
Also ging Meg, um ›dankend zuzusagen‹, ihr Kleid in Augenschein zu nehmen und unbekümmert singend ihren einzigen echten Spitzenkragen zurechtzulegen, während Jo ihr Buch zu Ende las, ihre restlichen vier Äpfel aß und eine Weile mit Scrabble herumtollte.
Am Silvesterabend war das Wohnzimmer leer, denn die zwei jüngeren Mädchen spielten Kammerzofe und die zwei älteren waren in überaus wichtige ›Silvesterfeier-Vorbereitungen‹ vertieft. So schlicht ihre Aufmachung auch war, es gab jede Menge Treppauf-Treppab, Lachen und Plaudern, und einmal zog ein intensiver Geruch von verbrannten Haaren durchs Haus. Meg wollte ein paar Locken um ihr Gesicht haben, und Jo besorgte mit der Brennschere das Ondulieren der mit Papier umwickelten Strähnen.
»Müssen die so qualmen?«, fragte Beth von ihrem Bett aus.
»Die Feuchtigkeit muss trocknen«, entgegnete Jo.
»Komischer Geruch! Riecht nach verbrannten Federn«, meinte Amy und strich hochmütig die eigenen hübschen Locken glatt.
»Alles klar, jetzt nehme ich die Papierchen ab, und du wirst eine Wolke von Ringellöckchen haben«, sagte Jo und legte die Brennschere hin.
Ja, sie nahm die Papierchen ab, doch von einer Ringellöckchenwolke konnte keine Rede sein, denn zusammen mit den Papierchen lösten sich die Haare gleich mit vom Kopf, und die entsetzte Friseurin legte ihrem Opfer eine Reihe versengter Kringel auf den Tisch.
»Oh oh oh! Was hast du gemacht? Wie seh ich aus?! Meine Haare, oh nein, meine Haare!«, heulte Meg und betrachtete verzweifelt das ungleichmäßige Gekräusel über ihrer Stirn.
»Na, großartig! Du hättest mich nicht fragen dürfen. Ich schaffe es wirklich immer, alles zu versauen. Tut mir wahnsinnig leid, aber die Brennschere war einfach zu heiß«, stöhnte die arme Jo und betrachtete mit reumütigen Augen die kleinen schwarzen Häufchen.
»Sie sind nicht versaut. Bausch sie dir einfach auf und binde dir die Schleife so, dass die Enden über deiner Stirn zusammenkommen, dann sieht’s aus wie der letzte Schrei. Ich hab schon viele Mädchen mit sowas gesehen«, sagte Amy beschwichtigend.
»Geschieht mir recht, so auf Dame zu machen. Hätte ich meine Haare doch nur in Ruhe gelassen«, rief Meg verdrossen.
»Finde ich auch, sie waren so schön glatt und hübsch. Aber sie wachsen ja wieder«, sagte Beth und ging zu dem geschorenen Schaf, um es zu küssen und trösten.
Nach diversen weniger schlimmen Missgeschicken war Meg endlich fertig, und mit Hilfe der ganzen Familie war Jos Haar endlich hochgesteckt und ihr Kleid angezogen. Sie sahen wirklich gut in ihren einfachen Kostümen aus: Meg in einem silbrigen Wollstoff mit einem Haarnetz aus blauem Samt, ihrem Spitzenkragen und der Perlenbrosche; Jo ganz in Braun mit einem steifen Leinenkragen wie ein junger Gentleman und als einzigen Schmuck ein paar weiße Chrysanthemen. Jede zog einen hübschen hellen Handschuh an und trug den verschmutzten zweiten in der Hand. Die Aufmachung wurde von allen für ›schlicht und edel‹ befunden. Nur Megs hochhackige Schuhe waren viel zu eng, auch wenn sie es nicht zugeben wollte, und Jos neunzehn Haarnadeln schienen sich direkt in ihren Kopf zu bohren, was ebenfalls kein Spaß war – aber, nun ja, wer schön sein will, muss leiden.
»Amüsiert euch, meine Lieblinge!«, sagte Mrs March, während die Schwestern mit zierlichen Schritten den Pfad hinunter gingen. »Esst nicht zu viel, und um elf ist Schluss, dann schicke ich Hannah, um euch abzuholen.« Als das Tor hinter ihnen zufiel, hörten sie eine Stimme aus dem Fenster:
»Mädchen! Mädchen! Habt ihr auch beide ein frisches Taschentuch dabei?«
»Ja, ja, blitzsauber! Meg hat ihrs sogar mit Kölnischwasser benetzt«, rief Jo und fügte lachend hinzu: »Ich glaube wirklich, selbst bei einem Erdbeben würde uns Marmee diese Frage stellen.«
»Es ist eine ihrer aristokratischen Vorlieben und es gehört sich so, denn eine echte Dame erkennt man immer an sauberen Stiefeln, Handschuhen und einem Taschentuch«, entgegnete Meg, die selbst eine ganze Reihe von ›aristokratischen Vorlieben‹ besaß.
»Achte darauf, dass niemand deinen kaputten Rock sieht, Jo. Sitzt meine Schärpe richtig? Sehen meine Haare sehr schlimm aus?«, fragte Meg und wandte sich nach ausgiebigem Gezupfe vom Spiegel in Mrs Gardiners Ankleidezimmer ab.
»Ich weiß, irgendwas werde ich vergessen. Wenn du siehst, dass ich was falsch mache, dann zwinkerst du mir zu, ja?«, sagte Jo, rückte ihren Kragen zurecht und fuhr sich hastig mit der Bürste über den Kopf.
»Nein, Zwinkern gehört sich nicht für eine Dame. Ich ziehe die Augenbrauen hoch, wenn irgendwas nicht stimmt, und ich nicke, wenn alles in Ordnung ist. Jetzt halte dich gerade, mach kleine Schritte und gib niemandem die Hand, der dir vorgestellt wird. Das macht man nicht.«
»Woher weiß man bloß immer, was sich gehört und was nicht? Ich kann mir das nie merken. Oh, was für schöne Musik!«
Und dann gingen sie ein wenig schüchtern nach unten, denn sie waren nicht oft auf Feiern eingeladen, und so informell diese Versammlung auch sein mochte, für die beiden war sie ein großes Ereignis. Mrs Gardiner, eine stattliche ältere Dame, begrüßte sie freundlich und übergab sie der ältesten ihrer sechs Töchter. Meg kannte Sallie und legte sofort ihre Hemmungen ab, aber Jo, die sich wenig aus Mädchen und Mädchentratsch machte, stand herum, den Rücken sorgsam zur Wand gedreht, und fühlte sich so fehl am Platz wie ein Fohlen in einem Blumengarten. Ein halbes Dutzend gut gelaunter Jungen unterhielt sich in einem anderen Teil des Raums über Schlittschuhe, und sie wünschte sich nichts lieber, als sich dazuzugesellen, denn sie lief für ihr Leben gerne Schlittschuh. Sie telegraphierte Meg ihren Wunsch, doch die zog die Augenbrauen auf so alarmierende Weise hoch, dass Jo sich nicht vom Fleck zu rühren wagte. Niemand kam, um sich mit ihr zu unterhalten, und nach und nach löste sich die Gruppe in ihrer Nähe auf, bis sie ganz allein dastand. Sie konnte nicht umherspazieren und sich vergnügen, denn dann wäre das Brandloch zu sehen gewesen, also starrte sie etwas verloren die Leute an, bis der erste Tanz anfing. Meg wurde sofort aufgefordert und bewegte sich so flink in ihren zu engen Schuhen, dass niemand hätte ahnen können, wie sehr sich die lächelnde Trägerin quälte. Jo sah einen großen Rotschopf auf sich zumarschieren, und aus lauter Angst, zum Tanzen aufgefordert zu werden, verzog sie sich in eine Nische hinter einem Vorhang, von wo aus sie das Geschehen verfolgen und in Ruhe ihren Spaß haben konnte. Dummerweise hatte bereits eine andere schüchterne Person dort Zuflucht gesucht, und als der Vorhang hinter ihr zufiel, stand sie plötzlich von Angesicht zu Angesicht mit dem ›kleinen Laurence‹.
»Oh weh, ich wusste nicht, dass hier besetzt ist«, stammelte Jo und wollte schnellstens den Rückzug antreten.
Doch der Junge lachte und sagte freundlich, wenn auch leicht erschrocken:
»Bleib ruhig, wenn’s dir nichts ausmacht.«
»Stör ich dich nicht?«
»Überhaupt nicht, ich hab mich nur zurückgezogen, weil ich nicht so viele Leute kenne und anfangs ein komisches Gefühl hatte, weißt du.«
»Ging mir genauso. Bitte geh nicht, es sei denn, es ist dir lieber.«
Der Junge setzte sich wieder und sah auf seine Stiefel, bis Jo, die sich höflich und ungezwungen geben wollte, zu ihm sagte: »Ich glaube, wir hatten bereits das Vergnügen – du wohnst doch bei uns in der Nähe, stimmt’s?«
»Direkt nebenan.« Er sah hoch und lachte ihr ins Gesicht, denn Jos Gehabe war ziemlich albern, wo die beiden doch schon bei dem Vorfall mit der Katze über Kricket geplaudert hatten.
Das nahm Jo die Befangenheit. Auch sie lachte und sagte auf ihre typisch herzliche Art:
»Wir haben uns wahnsinnig über dein Weihnachtsgeschenk gefreut.«
»Das war von Großpapa.«
»Aber du hast ihn doch bestimmt darauf gebracht, nicht wahr?«
»Wie geht es Ihrer Katze, Miss March?«, fragte der Junge mit gespieltem Ernst, wobei seine schwarzen Augen vor Heiterkeit strahlten.
»Sehr gut, danke der Nachfrage, Mr Laurence, aber ich bin nicht Miss March, nur Jo«, entgegnete die junge Dame.
»Und ich bin nicht Mr Laurence, nur Laurie.«
»Laurie Laurence; seltsamer Name.«
»Eigentlich heiße ich Theodore, aber ich mag den Namen nicht, weil die Jungs immer Dora zu mir gesagt haben, also hab ich drauf bestanden, dass sie mich Laurie nennen.«
»Ich finde meinen Namen auch schrecklich – so sentimental! Ich wünschte, alle würden Jo zu mir sagen statt Josephine. Wie hast du die Jungs dazu gebracht, dich nicht mehr Dora zu nennen?«
»Ich hab sie verdroschen.«
»Tante March kann ich nicht verdreschen. Also muss ich wohl damit leben.« Und Jo seufzte resigniert.
»Tanzt du nicht gern, Miss Jo?«, fragte Laurie, der ihren Namen offenbar passend fand.
»Doch, schon, wenn genug Platz und viel los ist. Aber hier schmeiße ich bestimmt nur was um oder trete jemandem auf die Füße oder in sonst irgendeinen Fettnapf, deswegen halte ich mich lieber raus. Soll Meg sich alleine aufplustern. Tanzt du nicht gern?«
»Manchmal. Weißt du, ich war einige Jahre im Ausland und noch nicht oft genug unter Leuten, um zu wissen, wie hier bei euch die Dinge laufen.«
»Im Ausland!«, rief Jo, »oh, erzähl! Ich liebe Reiseberichte.«
Laurie schien nicht zu wissen, wo er anfangen sollte. Doch Jos eifrige Fragen brachten ihn bald in Schwung, und er erzählte ihr von Vevey, wo er zur Schule gegangen war, wo die Jungen nie Hüte getragen und eine eigene Bootsflotte besessen hatten und in ihrer Freizeit mit den Lehrern kreuz und quer durch die Schweiz gewandert waren.
»Das hätte ich auch gern erlebt!«, rief Jo. »Warst du auch in Paris?«
»Wir haben den letzten Winter dort verbracht.
»Sprichst du Französisch?«
»In Vevey durften wir nichts anderes sprechen.«
»Sag doch mal was! Ich kann es lesen, aber nicht sprechen.«
»Quel nom a cette jeune demoiselle en les pantoufles jolis?«, sagte Laurie gutmütig.
»Das klingt schön! Lass mich überlegen – du hast gesagt: ›Wer ist die junge Dame in den hübschen Schuhen?‹, stimmt’s?«
»Oui, mademoiselle.«
»Das ist meine Schwester Margaret, das wusstest du genau! Findest du sie hübsch?«
»Ja, sie erinnert mich an die Mädchen in Deutschland, sie wirkt so frisch und ruhig und tanzt wie eine Dame.«
Jo glühte vor Freude über dieses Lob und prägte es sich ein, um es später mit ihrer Schwester zu teilen. Beide spähten sie durch den Vorhang, lästerten und plauderten, bis sie sich wie alte Bekannte fühlten. Die Schüchternheit fiel bald von Laurie ab, denn Jos kumpelhaftes Benehmen amüsierte ihn und nahm ihm die Nervosität, und Jo war wieder lustig wie eh und je, denn sie dachte nicht mehr an ihr Kleid und niemand zog ihretwegen die Augenbrauen hoch. Sie mochte den ›Laurence Jungen‹ mehr denn je und sah ihn sich ganz genau an, um ihn den Mädchen beschreiben zu können. Sie hatten keine Brüder, nur wenige Cousins, und Jungen waren für sie mehr oder weniger unbekannte Wesen.
›Schwarze Locken, dunkler Teint, große schwarze Augen, lange Nase, schöne Zähne, kleine Hände und Füße, so groß wie ich; sehr höflich für einen Jungen, und insgesamt sehr lustig. Wie alt mag er sein?‹, dachte sie.
Die Frage lag Jo auf der Zunge, aber sie konnte sich rechtzeitig zurückhalten und versuchte es mit ungewohntem Anstand durch die Blume herauszufinden.
»Dann gehst du wahrscheinlich bald studieren? Ich seh dich ständig beim Büffeln – ich meine, beim Lernen.« Jo wurde rot, weil ihr das unschickliche Wort ›Büffeln‹ herausgerutscht war.
Laurie lächelte, wirkte aber nicht schockiert und antwortete achselzuckend: »Das dauert noch zwei, drei Jahre; jedenfalls nicht, bevor ich siebzehn bin.«
»Du bist erst fünfzehn?«, fragte Jo und betrachtete den großgewachsenen Jungen, den sie bereits auf siebzehn geschätzt hatte.
»Nächsten Monat werde ich sechzehn.«
»Du glaubst ja gar nicht, wie gern ich studieren würde – du siehst allerdings nicht begeistert aus.«
»Ich hab darauf überhaupt keine Lust! Nichts als Plackerei und Partys. Und ich find’s nicht gut, wie die Studenten hierzulande so sind.«
»Was wäre dir denn lieber?«
»In Italien leben und mich auf meine Art vergnügen.«
Jo hätte ihn gerne nach seiner Art des Sichvergnügens gefragt, doch sein Stirnrunzeln mit den schwarzen Brauen wirkte leicht bedrohlich, also wechselte sie das Thema, klopfte mit dem Fuß im Takt und sagte: »Das ist eine großartige Polka. Warum gehst du nicht tanzen?«
»Nur wenn du mitkommst«, erwiderte er mit einer seltsamen kleinen französischen Verbeugung.
»Ich darf nicht, ich hab’s Meg versprochen, weil –« Jo hielt inne und schien nicht zu wissen, ob sie es erzählen oder lachen sollte.
»Weil was?«, fragte Laurie neugierig.
»Du erzählst es nicht weiter?«
»Niemals!«
»Na ja, ich hab die blöde Angewohnheit, vorm Feuer zu stehen, also kriegen meine Kleider immer Brandlöcher, und dieses hier habe ich versengt – ist zwar schön geflickt, aber man sieht’s trotzdem, und Meg meinte, ich soll mich nicht bewegen, damit’s niemand sieht. Du kannst ruhig lachen, wenn du willst. Es ist lustig, ich weiß.«
Aber Laurie lachte nicht. Er sah nur einen Moment zu Boden. Sein Blick verwirrte Jo, ehe er mit sehr sanfter Stimme sagte: »Das macht nichts, ich weiß, wie es trotzdem geht. Draußen ist ein langer Flur, dort können wir großartig tanzen, und kein Mensch kann uns sehen. Darf ich bitten?«
Jo dankte ihm, ging voller Vorfreude mit und wünschte sich, sie hätte zwei ordentliche Handschuhe, als sie die schönen perlmuttfarbenen sah, die sich ihr Tanzpartner überzog. Der Flur war leer, und sie tanzten eine grandiose Polka. Laurie war ein hervorragender Tänzer und brachte Jo zu ihrem Entzücken den so beschwingten deutschen Hüpfschritt bei. Als die Musik endete, setzten sie sich zum Verschnaufen auf die Treppe. Laurie erzählte gerade von einer Studentenfeier in Heidelberg, als Meg auf der Suche nach ihrer Schwester auftauchte. Sie winkte sie zu sich heran, und widerwillig folgte ihr Jo in ein Nebenzimmer. Meg setzte sich mit blassem Gesicht aufs Sofa und rieb einen ihrer Füße mit beiden Händen.
»Ich hab mir den Knöchel ganz schlimm verstaucht. Ich bin in diesen blöden Schuhen umgeknickt. Es tut so weh, ich kann kaum stehen – keine Ahnung, wie ich damit nach Hause kommen soll«, sagte sie und wiegte sich vor Schmerzen hin und her.
»War ja klar, dass du dir in diesen albernen Dingern wehtun würdest. Das tut mir leid, aber ich weiß auch nicht, was du machen sollst, außer dir einen Wagen zu nehmen oder hier zu übernachten«, erwiderte Jo und massierte dabei sanft den armen Knöchel.
»Ich kann keinen Wagen nehmen, das ist viel zu teuer – vermutlich würde ich auch gar keinen finden, die meisten sind mit dem eigenen Wagen hier, und der Stall ist ganz am anderen Ende und es gibt keinen, den man schicken könnte«, sagte Meg.
»Ich gehe.«
»Auf keinen Fall, es ist nach neun und stockdunkel. Ich kann hier nicht übernachten, das Haus ist voll. Sallie hat ein paar Mädchen zu Besuch. Ich ruhe mich aus, bis Hannah kommt, und dann tu ich mein Bestes.«
»Ich frag Laurie; er geht bestimmt«, sagte Jo und wirkte erleichtert, auf diese Idee gekommen zu sein.
»Nein, bloß nicht! Frag niemanden und erzähl’s nicht weiter. Hol mir meine Überschuhe und tu die Schuhe zu unseren Sachen. Ich kann nicht mehr tanzen. Aber sobald das Abendessen vorbei ist, musst du nach Hannah Ausschau halten und mir sofort Bescheid geben, wenn sie hier ist.«
»Sie gehen jetzt raus zum Essen. Ich bleibe bei dir; ist mir lieber.«
»Nein, Süße, lauf los und hol mir eine Tasse Kaffee. Ich bin so müde, ich kann mich nicht rühren.«
Also legte Meg sich hin, die Überschuhe gut versteckt, während Jo davonstolperte, um das Speisezimmer zu suchen. Doch erst nachdem sie sich in eine Vorratskammer verirrt und anschließend die Tür zu einem Zimmer geöffnet hatte, in dem der alte Mr Gardiner gerade einen kleinen privaten Imbiss zu sich nahm, fand sie das Speisezimmer. Sie stürzte zum Tisch und sicherte sich den Kaffee, den sie sofort verschüttete, so dass die Vorderseite ihres Kleides genauso ruiniert war wie das Rückenteil.
»Große Güte! Ich bin aber auch ein Tollpatsch!«, rief Jo und gab Megs Handschuh den Rest, indem sie damit über ihr Kleid wischte.
»Kann ich dir helfen?«, fragte eine freundliche Stimme. Und da stand Laurie mit einer gefüllten Tasse in der einen Hand und einem Teller Eiscreme in der anderen.
»Ich wollte Meg was zu essen holen, weil sie so müde ist, und dann hat mich jemand angerempelt, und schau, wie ich jetzt aussehe«, erwiderte Jo und blickte missmutig von ihrem Rock mit den Kaffeeflecken zu ihrem kaffeefarbenen Handschuh.
»Das ist ja ärgerlich! Ich suche jemanden, der mir das hier abnimmt. Darf ich es deiner Schwester bringen?«
»Oh, danke! Ich zeig dir, wo sie ist. Ich trag’s lieber nicht selbst, sonst passiert mir gleich das nächste Malheur.«
Jo zeigte ihm den Weg; und als wäre er das Bedienen von Damen gewohnt, zog Laurie ein Tischchen heran, holte einen zweiten Kaffee sowie Eiscreme für Jo und war dabei so zuvorkommend, dass selbst die anspruchsvolle Meg ihn zu einem ›netten Jungen‹ erklärte. Sie vergnügten sich mit den Sprüchen aus ihren Knallbonbons und spielten gerade mit ein paar anderen jungen Leuten eine ruhige Runde Buzz, als Hannah auftauchte. Meg vergaß ihren Fuß und sprang so plötzlich auf, dass sie sich mit einem kleinen Schmerzensschrei an Jo klammern musste.
»Still! Sag nichts«, flüsterte sie und fügte laut hinzu: »Es ist nichts. Ich hab mir etwas den Fuß verrenkt – das ist alles.« Und sie humpelte nach oben, um sich anzuziehen.
Hannah schimpfte, Meg weinte, und Jo wusste weder ein noch aus, ehe sie beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie schlüpfte hinaus, rannte nach unten, wo sie einen Dienstboten bat, einen Wagen für sie zu besorgen. Dummerweise war er bloß eine Hilfskraft und kannte sich mit den Gegebenheiten nicht aus. Jo war gerade dabei, anderweitig nach Hilfe zu suchen, als Laurie, der alles mitbekommen hatte, sie ansprach und den Wagen seines Großvaters anbot – er sei gerade eingetroffen, um ihn abzuholen.
»Es ist doch noch so früh – du willst doch nicht jetzt schon gehen?«, begann Jo, die erleichtert wirkte, aber unsicher war, ob sie das Angebot annehmen sollte.
»Ich geh immer früh – wirklich! Bitte lasst euch nach Hause fahren. Es liegt auf dem Weg, und außerdem scheint es zu regnen.«
Damit war die Sache entschieden. Nachdem sie ihn über Megs Missgeschick aufgeklärt hatte, nahm Jo das Angebot dankbar an und rannte nach oben, um die anderen zu holen. Da Hannah Regen hasste wie eine Katze, hatte sie keinerlei Einwände. Und so rollten sie komfortabel im geschlossenen Wagen davon und fühlten sich überaus vornehm und elegant. Laurie setzte sich auf den Dienstbotensitz, damit Meg den Fuß hochlegen konnte, und die Mädchen plauderten ungezwungen über den Tanzabend.
»Ich fand den Abend toll – und du?«, fragte Jo, lockerte ihre Haare und machte es sich bequem.
»Ja, bis ich mir wehgetan habe. Annie Moffat, Sallies Freundin, mochte mich und hat mich zu sich eingeladen, zusammen mit Sallie, für eine ganze Woche. Und zwar im Frühling, wenn die Opernsaison anfängt. Es wäre einfach traumhaft, wenn Mutter es mir erlauben würde«, erwiderte Meg, die beim Gedanken daran putzmunter wurde.
»Ich hab gesehen, dass du mit dem rothaarigen Mann getanzt hast, vor dem ich geflüchtet bin. War er nett?«
»Oh ja, sehr! Seine Haare sind rotbraun, nicht rot; und er war sehr höflich. Ich hab eine phantastische Redowa mit ihm getanzt.«
»Er sah aus wie ein wildgewordener Grashüpfer. Laurie und ich haben uns gebogen vor Lachen – hast du uns gehört?«
»Nein, aber sowas macht man nicht. Was habt ihr da überhaupt so lange getrieben, in eurem Versteck?«
Jo erzählte von ihren Abenteuern, und gerade als sie fertig wurde, waren sie zu Hause. Sie bedankten sich mehrmals, wünschten gute Nacht und schlichen sich auf Zehenspitzen ins Haus, in der Hoffnung, niemanden zu stören. Doch sobald sie die knarrende Zimmertür aufgeschoben hatten, rührten sich zwei kleine Nachthauben, und zwei schläfrige, aber eifrige Stimmen riefen:
»Erzählt uns von der Feier! Erzählt!«
Unangemessenerweise, wie Meg sagte, hatte Jo zwei Knallbonbons für die kleinen Mädchen eingesteckt, und nachdem sie die aufregendsten Ereignisse des Abends erfahren hatten, wurden sie wieder ruhig.
»Du liebe Güte, ich komme mir vor wie eine feine junge Dame – mit einem Wagen von einer Feier nach Hause gebracht zu werden und im Morgenmantel dazusitzen und von einer Zofe bedient zu werden«, sagte Meg, während Jo ihr einen Arnikawickel machte und ihr die Haare kämmte.
»Ich glaube, wir hatten genauso viel Spaß wie echte feine junge Damen, trotz versengter Haare, alter Kleider, einzelner Handschuhe und verstauchter Knöchel wegen zu enger Schuhe, die wir so albern sind anzuziehen«, sagte Jo. Und damit hatte sie vollkommen Recht.