Читать книгу Die Krone der Schöpfung - Lukas Bärfuss - Страница 10
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ОглавлениеDie Wirklichkeit bleibt mir verschlossen, aber das bedeutet nicht, dass es sie nicht geben würde. Dasselbe gilt für die Vergangenheit, oder, präziser formuliert, für ein beliebiges Ereignis in der Vergangenheit. Die Wirklichkeit zu verstehen würde bedeuten, ihre Unermesslichkeit zu verstehen. Ihre Unermesslichkeit definiert sich durch die Unbeschränktheit der Ursachen, die zwischen den Ereignissen wirken können. Auf welche Art die Ursachen wirken, kann ich untersuchen. Aber die größte Zahl dieser Ursachen liegt hinter meinem Informationshorizont. Ich weiß einfach nichts davon. Was sich hinter der nächsten Hausecke ereignet, sehe ich nicht. Und der Hausecken gibt es viele.
Je mehr Ursachen ich kläre, umso deutlicher wird die erkenntnistheoretische Lücke zwischen meiner Erfahrung und der Wirklichkeit. Man hat das Wissen eine Kugel genannt, die im Ozean des Unwissens schwimme. Mit jedem Erkenntnisgewinn wird sie größer, und daher nimmt die Oberfläche und ihr Kontakt mit dem Unwissen zu.
Die Wirklichkeit wird nicht verstanden, die Wirklichkeit wird zuerst empfunden. Wenn ich die Umstände der Heirat zwischen Carlos II von Spanien und Marie Louise d’Orléans klären will, kann ich die Quellen des Jahres 1679 sammeln und zum Beispiel versuchen, die Rolle der Kirche und der Inquisition anhand der Dokumente zu entschlüsseln. Ich kann Analogien herstellen, versuchen, ein hegemoniales System heutiger mit einem hegemonialen System vergangener Tage zu vergleichen. Und je weiter ich voranschreite in meiner Erkundung, umso deutlicher wird, dass ich niemals wissen kann, was ein Zeuge des Autodafés am 22. November eben jenes Jahres auf der Plaza Mayor in Madrid empfunden hat. Ich werde niemals wissen, was die Verbrennung von zweiundzwanzig Ketzern anlässlich der Hochzeit eines Monarchen für ihn bedeutete.
Man findet die Darstellung dieses Problems üblicherweise nicht in historischen, sondern in philosophischen Werken, und dort in der Abteilung der Philosophie des Geistes. Das Bewusstsein eines anderen Menschen, eines anderen Tieres, bleibt uns verschlossen. Ich kann niemals wissen, ob meine Begriffe in einem anderen Menschen dieselben Empfindungen auslösen oder ob wir dieselben Begriffe für unterschiedliche Sinneswahrnehmungen verwenden. Man nennt dieses Problem in der Philosophie die Qualia, und es beschreibt die Erkenntnis, dass jedes Bewusstsein letztlich in sich selbst eingeschlossen ist.
Wenn ich einem Menschen begegne, dann kann ich ihn befragen, was er unter einem gewissen Wort versteht, mit dem er ein beliebiges Ereignis beschreibt. Es ist nicht üblich, den Verfasser zu konsultieren, falls man sein Werk nicht versteht, aber da es die Möglichkeit grundsätzlich gibt, geht der Leser davon aus, dass der Korpus der Begriffe dem Korpus der Empfindungen entspricht. Dies liegt hauptsächlich am Umstand, den die deutsche Sprache treffend den »Erfahrungshorizont« nennt und den ich mit meinen Zeitgenossen potenziell teile. Potenziell: nur als Möglichkeit teile, aber alleine die Möglichkeit reicht, um zu behaupten, dass sich Begriffe und Wirklichkeit meiner Mitmenschen in weitgehender Übereinstimmung mit meiner Empfindung befinden, und, falls nicht, man Missverständnisse ausräumen könne. Man muss sich nur darüber austauschen. Aus diesem Austausch entsteht ein wesentlicher Teil der kulturellen Produktion.
Im Falle der Toten ist die Ausräumung dieser Missverständnisse nicht möglich. Wir können die Toten nicht befragen, in welchem Sinne sie ein gewisses Wort verstanden und verwendet haben. Wenn ich einen Text aus dem Jahre 1913 lese, der äußersten zeitlichen Grenze, für die es noch Zeugen gibt, dann gehe ich davon aus, dass die meisten Begriffe meinem heutigen Verständnis entsprechen. Ich lese einen Satz aus dem »Fliegenpapier« von Robert Musil, aber ich erschließe diesen Satz mit der Empfindung eines Menschen des Jahres 2020. Etwas anderes ist unmöglich. Trotzdem gehe ich davon aus, dass die Übereinstimmung zwischen seinem und meinem Empfinden so groß ist, dass ich das, was er sagen wollte, ungefähr verstehen kann. Natürlich stocke ich, wenn ich in seinem Text die Worte »Aeroplane« und »Negeridole« lese. Mein Stocken führt aber nicht dazu, dass ich glaube, den Text nicht zu verstehen, ich füge diese kleine Unsicherheit bloß auf den unterschiedlichen Sprachgebrauch zurück, nicht auf einen grundsätzlichen Unterschied zwischen seinem, Musils, und meinem Empfinden.
Aber das ist nur eine hilfreiche Unterstellung. Es ist denkbar, dass für Musil jeder einzelne Begriff eine völlig andere Bedeutung besaß und meine Interpretation des Textes ein vollkommenes Missverständnis darstellt. Der Wortschatz kann der gleiche bleiben, die Bedeutung hingegen eine völlig andere sein, und nur die Grammatik würde uns dazu verleiten, das von Musil Gemeinte mit meinem Gemeinten zu verwechseln.
Wir sprechen davon, dass ein Ereignis »weiter« in der Vergangenheit liege als ein anderes. Wir benutzen einen räumlichen Begriff und behelfen uns mit einer Analogie. Die Zeit schafft allerdings keine Distanz. Der Moment von vor fünf Minuten ist nicht »weiter« entfernt als jener von vor fünftausend Jahren: Der eine ist so unzugänglich wie der andere. Der Unterschied besteht alleine in der Zahl der Quellen und der Zeugen, die mit der Zeit abnehmen.
An einer anderen Stelle habe ich versucht, dieses Problem anhand eines einzigen Begriffes anschaulich zu machen, des Wortes συμφιλεῖν nämlich, mit dem die Titelheldin des Stückes »Antigone« des Sophokles ihren Widerstand gegen die Staatsgewalt rechtfertigt. Heute übersetzen wir dieses Wort üblicherweise mit »mitzulieben«, aber Antigones Liebesbegriff wird mit unserem kaum in eine Übereinstimmung zu bringen sein. Und da wir weder Sophokles noch seine Zeitgenossen fragen können, wie er dieses »symphilein« gemeint haben könnte, entstehen Missverständnisse.
Diese Missverständnisse sind manchmal schädlich und manchmal nützlich, wirksam sind sie meistens. Dies beweist das Beispiel Hegels, der in seiner »Phänomenologie des Geistes« Antigone als Zeugin anführt, allerdings mit Worten, die sie niemals gesprochen hat.