Читать книгу Die Krone der Schöpfung - Lukas Bärfuss - Страница 12
7.
ОглавлениеIn seinem Aufsatz »Spurensicherung« aus dem Jahre 1979[7] legt der Historiker Carlo Ginzburg unfreiwillig die Achillesferse der Geschichtswissenschaft offen. Er führt die Entstehung der Schrift auf einen historischen Prozess zurück, der aus der Notwendigkeit des Jägers rührt, Tierspuren zu »lesen«. Ginzburg schafft hier eine Analogie zum Wahrsager, der ebenso eine Realität minutiös erkundigt, um andere Ereignisse, die Gegenwart eines Tieres oder die bevorstehende Hungersnot zu entdecken. Und obwohl Ginzburg mit dieser Herleitung nur beabsichtigt, eine alternative Methodenlehre der Geschichtswissenschaft zu etablieren, eben jene, die dann in das mündete, was man heute Mikrohistorie nennt, bezeichnet er in diesem Abschnitt die Qual der Geschichtswissenschaft mit sich selbst: »Aber der grundsätzliche Unterschied ist unseres Erachtens ein anderer: Die Wahrsagung bezog sich auf die Zukunft und das Spurenlesen der Jäger auf die – vielleicht nur sekundenalte – Vergangenheit.«
Was Ginzburg hier nicht erwähnt: Ich kann die Zeugen und die Quellen der Vergangenheit so lange und gründlich studieren wie ich will, ich werde dadurch keine Aussage über die Eigenschaft geschichtlicher Ereignisse in der Zukunft treffen können. Es spielt keine Rolle, ob man die Gründe für diese Unmöglichkeit in der Kontingenz oder in der Willensfreiheit sieht. Die Geschichte kann in diesem Sinne nicht als Wissenschaft gelten, wie die Physik oder die Chemie als Wissenschaften betrachtet werden, die beide den Anspruch haben, verlässliche Aussagen über die Art und Weise der unter bestimmten Umständen eintreffenden Ereignisse »in der Zukunft« voraussagen zu können.
Ein Pendel »gehorcht« den Newton’schen Gesetzen, und es wird, so lehrt uns die Physik, ihnen auch morgen und übermorgen gehorchen. Die Sprache unterstellt die Herrschaft eines Gesetzes, das zu entschlüsseln die Aufgabe einer Wissenschaft ist. Welchem Gesetz unterwirft sich die Geschichtswissenschaft?
Die Angst der Historiker wie Carlo Ginzburg, dass unter dem Ansturm des postmodernen Relativismus der begriffliche Kernbestand ihrer Disziplin pulverisiert werden könnte, war berechtigt. In seinem Kampf um Wahrheit und Wirklichkeit, in seiner Abwehr gegen die Anwendung erzähltheoretischer Konzepte auf die Geschichtswissenschaften, wie Hayden White sie in »Metahistory« vorgeschlagen hat, vergaß Ginzburg, dass sich die Postmoderne auch aus einer Ideologiekritik entwickelte. Die totalitären Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts verstanden sich als große Erzählungen, in denen jeder Akteur seinen bestimmten Platz einzunehmen hatte. Die Trümmer und die Leichenberge, die diese Narrationen hinterlassen haben, die Einsicht, dass der Anspruch auf absolute Wahrheit in einer gesellschaftlichen Ordnung zu Mord und Totschlag führt, und der gleichzeitige Versuch, den Anspruch auf die Durchdringung der Wirklichkeit aufrechtzuerhalten, führte in die Dekonstruktion der überkommenen Formen. Die Postmoderne, ihr Insistieren darauf, dass niemand den Anspruch haben kann, jenseits der Formen zu agieren, ist zum Problem für alle geworden, die erneut nach der Heimat in einer großen Erzählung suchen.