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ОглавлениеWir Zeitgenossen sollten weiter sein. Es gibt keinen Grund für ein Reenactment vergangener Schlachten. Die Literaturwissenschaftlerin Muriel Pic hat in einem langen Essay, der in in der Zeitschrift »Incidence« erschien,[8] einen dritten Weg vorgeschlagen, um jenseits des postmodernen Relativismus und der gefährlichen Sehnsucht nach einer integralen und integrierenden Erzählung eine Empfindung für die Wirklichkeit zu entwickeln. Sie schlägt die Philologie vor, die Deutung und Auslegung der Fragmente, um die Vielzahl der zerbrochenen Wirklichkeiten lesbar zu machen. Gewiss würden diese Methoden der Einsicht entsprechen, dass nach dem zwanzigsten Jahrhundert die Wirklichkeiten nur als Scherben gedeutet werden können. Allerdings könnte es sein, dass dieser Vorschlag zu spät kommt. Im Zuge der neurophysiologischen Forschung und im Windschatten des Triumphes der Evolutionstheorie haben jene, die Geschichte nicht nur lesen, sondern schreiben wollen, längst begriffen, dass die menschliche Vorstellungskraft das Kriterium der Wahrheit nicht braucht, um sich ein Bild von der Wirklichkeit zu machen. Nur die Anschaulichkeit, die Plausibilität, oder, um wieder eines der entlarvend schönen Worte der deutschen Sprache zu benutzen, die »Glaubwürdigkeit« entscheidet letzten Endes über die Wirkungsmacht einer Erzählung, und es ist einerlei, ob es eine literarische, eine politische oder eben eine historische Erzählung ist. Alleine der Status des Erzählers entscheidet, welchen Wert seine Erzählung hat, ob ich sie als wahr betrachte oder nicht. Gerade deshalb hat sich meine Generation dringend zu fragen, wie sie mit dem Verlust der letzten Zeugen der Shoah umgehen will. Und wir erleben gerade, dass allenthalben versucht wird, die Deutungslücke, die sich durch dieses Verschwinden ergibt, ideologisch zu besetzen. Die Rekapitulation der bisherigen Positionen wird die Tradierung nicht sicherstellen, ebenso wenig die verständlichen, aber nutzlosen Abgrenzungsversuche zwischen Fakt und Fiktion, Literatur und Geschichtswissenschaft. Jede Empfindung für Wahrheit und für Wirklichkeit bedarf nicht zuerst des Wissens, sie bedarf des Vertrauens. Um dieses Vertrauen haben wir uns zu bemühen, die eigene Glaubwürdigkeit sollten wir pflegen, als Individuen und als Institutionen, weder die Offenlegung unserer Mittel noch das Eingeständnis ihrer Beschränktheit dürfen wir scheuen, wir müssen uns selbst in aller Rücksichtslosigkeit kritisieren und dabei auf unsere Redlichkeit bestehen, als Schriftsteller, als Historiker, als Menschen.