Читать книгу Die letzten Wolkensegler - Lukas Kellner - Страница 5
Zenit
ОглавлениеChen blätterte durch die Dokumente und Zeitungsartikel, die er damals gesammelt hatte und die schon seit Ewigkeiten unberührt in einem gelben Schuhkarton im Schrank lagen. Damit war es der einzige Gegenstand in seiner Hütte, der keinen rechten Sinn besaß, denn ansonsten war da nicht viel und das konnte es auch gar nicht sein. Schließlich boten ihm die paar Fuß Holz in jede Richtung nicht genug Platz, um sich schnöden Schnick-Schnack zu erlauben. Man konnte die Tür nicht ganz öffnen, denn gleich rechts dahinter stand ein kleines, hüfthohes Regal, in dem Chen einen Wasserkanister, seine Feldflasche, ein Rasiermesser, eine aufgebrauchte Packung Zahnseide, eine Keramikschüssel mit gelbblauen Blümchenmuster und mehrere verblichene Handtücher aufbewahrte. Darauf lehnte sein ‚Spiegel‘. Direkt daneben, unterhalb des einzigen Fensters der Hütte, befand sich eine kleine, alte, hellbraune Schulbank, die Chen als Tisch diente. Hinten bildete der große Schrank die Rückwand der Hütte, worin er seine Kleidung und Vorräte lagerte. Gleich links neben der Tür lag seine Isomatte samt Decke am Boden; seine Schlafstätte der letzten Jahre, und der Platz, den er sich ausgesucht hatte, um in der Vergangenheit zu wühlen.
Er tat das eigentlich nie, mied die Dokumente und Papiere aus alter Zeit, denn sie hatten ihren Sinn verloren und weiter bereiteten sie ihm niemals Freude, im Gegenteil – die Erinnerung schmerzte. Er durchlebte alles von vorn. Er war nicht ganz ein Jahr aus der Uni gewesen, als es begann. Damals träumte er davon, sein Leben dem Journalismus zu widmen, der Investigation, der Wahrheit. Mit der Anstellung bei der Shima Shinbun war er seinem Ziel einen riesigen Schritt nähergekommen. Die unabhängige Zeitschrift erschien einmal pro Woche und sie zeichnete sich durch investigative Formate sowie ausgezeichnete Recherche aus. Er verdiente nicht so viel wie bei einer New York Times, einer Yomiuri Shimbun oder der FAZ, doch konnte er stolz auf seine Arbeit sein und abends ohne Skrupel in den Spiegel blicken. Chen hielt einen alten Notizzettel in Händen. Seine Schrift war kaum zu entziffern. Die Überschrift schrie: „ANOMALIE!!!“, darum drei fette Kreise, um den Lettern die nötige Dramatik und Schwere zu verleihen. Chen musste einer der Ersten gewesen sein, die bemerkt hatten, dass etwas nicht stimmte. Er besaß schon immer ein Gespür für Details, denen andere keinerlei Beachtung schenkten, einen ‚siebten Sinn‘ wie sein Vater immer sagte. In der Schule war er es, der herausfand, dass die Betreiber der Cafeteria einen viel zu großen Teil des Geldes, welches sie von der Schule bekamen, in die eigene Tasche steckten. Deswegen waren die Preise für Schüler immer zu hoch gewesen, die Portionen vergleichsweise mager und die Qualität schlecht. Er hatte recherchiert, hatte sich mit Köchen aus anderen Schulen getroffen, sich erklären lassen, wie man kalkulieren musste, um auf ‚Null‘ zu kommen und die Speisepläne der vorherigen Monate analysiert. Am Ende legte er die Beweise der Schulleitung vor, die ihn mit dem Kommentar ignorierten, er solle sich gefälligst um seine Noten kümmern und nicht um die guten Menschen, die ihn jeden Tag mit Essen versorgten. Ganz gleich, dass seine Mühen damals im Sand verliefen, das Gespür war ihm geblieben.
Als einer der wenigen nutzte er die Tracking App „Coro“ über Jahre hinweg weiter, auch nachdem selbst die Behörden keine Empfehlung mehr dafür aussprachen. Sie war damals entwickelt worden als das COVID-19-Virus für eine globale Pandemie sorgte, beinahe eine Weltwirtschaftskrise auslöste und die Gesellschaften der meisten Länder auf eine harte Probe stellte. Sie kam für Corona viel zu spät auf den Markt, das meiste war durchstanden, als der erste Nutzer sich darauf registrierte. Die App speicherte global gemessene Infektions-, Krankheits- und Todesfälle, außerdem konnte man sich selbst markieren, wenn man der Meinung war, dass man Symptome zeigte.
In seiner zweiten Woche bei der Shima Shinbun sollte es dann geschehen: Chen öffnete aus einer Laune heraus die App und sah sich Daten, Statistiken und Registrierungen an. Dort meinte er sie zu erkennen: Die Anomalie. Die größten Städte waren betroffen, unter anderem New York, Tokio und Moskau. Damals bemerkte er einen Anstieg der Totenzahlen bei gleichbleibender Anzahl der Infizierten und Erkrankten. Bei allen drei Städten stieg die Kurve vier Tage zuvor ganz leicht an und behielt ihren Wachstumsfaktor bei. Von diesem Trend irritiert, eröffnete Chen seine Recherche, indem er versuchte, mit den betroffenen Krankenhäusern zu telefonieren. Man wies ihn überall schroff ab, außer in New York, da bat ihn die Stimme einer jungen Frau darum, in der Leitung zu bleiben. Also gehorchte er, lauschte der Stille – das Krankenhaus besaß keine Musik für Menschen in der Warteschleife – und drehte sich in seinem Bürostuhl mehrere Male um die eigene Achse. Dann meldete sich ein Mann zu Wort. Er klang nicht rau oder gehetzt, sondern eher stoisch, ruhig, ein bisschen so wie am Morgen, wenn man erst noch ein paar Sätze sprechen musste, ehe sich alles wieder so anfühlte und anhörte, wie es normalerweise war. Der Mann fragte, mit wem er da sprach.
„Mein Name ist Chen Hyuga. Ich arbeite für eine unabhängige Zeitung. Mir ist eine Anomalie auf der Tracking App Coro aufgefallen. Demnach sind Sie auch betroffen. Stimmt das?“
Der Mann antwortete in Ruhe und bedacht auf Freundlichkeit. Chen schätzte ihn auf circa 50 Jahre.
„Hallo Mr. Hyuga, spreche ich das richtig aus?“
„Ja, sehr richtig“, log Chen.
„Gut, darf ich fragen, von was für einer Anomalie Sie hier reden?“
„Mir ist aufgefallen, dass Sie seit ungefähr vier Tagen einen Anstieg an Toten zu beklagen haben. Würden Sie sagen, dass das zutreffend ist?“
„Ich darf ihnen keine Daten über unsere Patienten geben. Tut mir leid“, antwortete der Mann, nicht weniger ruhig, dafür doch mit einem Anflug von Sorge in der Stimme. Chen wollte nicht so schnell aufgeben.
„Das verstehe ich natürlich. Ich dachte nur, dass Sie es vielleicht interessiert, dass Sie nicht die Einzigen sind. Es passiert überall. Ich bin Journalist und sehe mich in der Pflicht, Informationen zu überprüfen. Das ist der Grund meines Anrufs. Können Sie mir vielleicht einen Tipp geben, wie sich die Richtigkeit der Informationen bestätigen lässt?“ Der Mann schenkte seiner Frage keinerlei Beachtung.
„Es passiert überall? Was meinen Sie damit?“
„Ich habe das gleiche Muster in Moskau und Tokyo beobachten können.“ Dass er auch dort keine Auskunft von den örtlichen Behörden bekam, verschwieg Chen.
„Okay…“, seufzte der Mann, „Sie sollten vielleicht noch meinen Namen erfahren. Ich bin Dr. Markus Gideon und der Chefvirologe hier. Ich kann Ihnen keine Namen nennen und darf Ihnen auch nichts Genaueres sagen. Was ich Ihnen aber mitteilen darf ist, dass die Information stimmt. Wir haben einen untypischen Anstieg der Totenzahl. Das wird aber Zufall sein und ist kein Grund für weitere Verschwörungstheorien. Bitte seien Sie sich ihrer Verantwortung bewusst. Die Bevölkerung ist sensibel geworden, nach alldem was die letzten Jahrzehnte passiert ist.“
„Deswegen versuche ich, meine Informationen erst gründlich zu recherchieren, bevor ich sie veröffentliche.“
„Das ist gut, Mr. Hyuga, sehr gut. Ich schlage vor, Sie machen weiter, auch wenn Sie damit ins Leere laufen werden. Ich hätte eine Bitte: Bevor Sie doch etwas veröffentlichen, rufen Sie mich an. Meine Nummer ist die 0175 9976360. Sie wissen schon, damit ich Ihnen ins Gewissen reden kann.“ Die letzten Worte hüllte er in übertriebenen Sarkasmus. Obwohl Dr. Gideon gerade ihn selbst und seine Profession angegriffen hatte, hegte Chen keinerlei Groll gegen ihn, im Gegenteil. Die Art und Weise wie der Mann redete, gefiel ihm. Skepsis gegenüber Journalisten war ihm nicht fremd, er selbst war einer der größten Kritiker seiner Gilde und mit Gideon einen neuen Kontakt in der Welt der Medizin zu besitzen, war das Beste, was ihm hätte passieren können. Also galt es, die Kritik nicht persönlich zu nehmen.
„Ja, das werde ich tun, Dr. Gideon. Ich hoffe, Ihnen ist bewusst, dass ich Ihnen ab sofort hin und wieder auf die Nerven gehen werde.“
„Tja, einen Tod muss man sterben“, erwiderte der Doktor. Seine Stimme war von der Besorgnis gänzlich befreit.
„Gut, danke für Ihre Zeit… Ach, eine letzte Sache noch: Woran sind die Patienten gestorben?“.
„Ah, Mr. Hyuga, auch das darf ich Ihnen im Moment nicht sagen.“
„Schade, ich komme darauf zurück. Schönen Tag wünsche ich Ihnen.“
„Ihnen auch.“
Heute wusste Chen, dass Gideons „das darf ich Ihnen nicht sagen“ in Wahrheit ein „das kann ich Ihnen nicht sagen“ war, nur ein Wort Unterschied, nicht viel numerisch gesehen, doch die Bedeutung veränderte sich damit kritisch. Später erzählte ihm Gideon, dass er nach diesem Anruf noch einige Zeit im Büro saß und grübelte; Grübelte so lange, bis es ihm im Kopf ganz schwer geworden war und er sich einen Kaffee holen musste, um auf andere Gedanken zu kommen.
Chen indes stellte die Geschichte noch am selben Abend dem zuständigen Redakteur vor. Sein Vortrag war aggressiv, befeuert von Faszination, Eifer und dem Gedanken, etwas Wichtigem auf der Spur zu sein. So groß sein Enthusiasmus auch war, so groß war der Widerstand, auf den er traf. Es war wie damals in der Schule, sogar die Wortwahl ähnelte einer Kopie der Vergangenheit: Er solle sich zunächst auf die Aufgaben beschränken, die ihm zugewiesen worden waren. Außerdem baue sich seine Story auf waghalsigen Vermutungen und Hirngespinsten auf.
Ernüchtert fand sich Chen am selben Abend in seinem kleinen Appartement wieder, allein mit einer Flasche Sake und einem Mobiltelefon. Nachdem er stundenlang auf diversen Social-Media-Plattformen verbracht hatte, wollte er gerade zu Bett gehen, als die Coro App wieder vor seinen Augen auftauchte. Eigentlich war ihm die Laune nach weiterer Recherche gründlich vergangen, doch die Neugierde peitschte ihn voran. Er öffnete die Applikation und stellte mit Begeisterung fest, dass sich seine Beobachtung mehr und mehr zu einem Trend entwickelte. Nun schienen auch Berlin und Amsterdam betroffen zu sein, die Zahlen waren zwar nur leicht gestiegen, doch fielen sie definitiv aus der Norm. ‚Zum Teufel mit denen!‘, war sein Gedanke, während er versuchte einzuschlafen. Er würde es auf eigene Faust versuchen, wollte weiter daran arbeiten, auch wenn er es neben seinen Pflichten tun musste, denn sicher würde er es bereuen, wenn er diese Sache einfach liegen ließ.
Auf seiner Isomatte liegend legte Chen den Notizzettel weg und blätterte durch die ausgeschnittenen Zeitungsartikel. Keine zwei Tage nach dem Pitch der Story bei der Shima Shinbun erschien die erste Schlagzeile in einer Ausgabe der britischen ‚Sun’.
Globales Massensterben - Mediziner stehen vor Rätsel
Chen wurde noch am selben Tag zu demselben Redakteur gerufen, der ihn vor kurzer Zeit so schroff zur Zurückhaltung ermahnt hatte. Er solle seine Informationen teilen; Chen und ein Team aus vier Journalisten würden an der Sache weiterarbeiten und das unter der Leitung des Chefredakteurs höchstpersönlich. Sie verschanzten sich in einem Raum ohne Fenster und arbeiteten pausenlos, Stunde um Stunde. Als es Abend wurde, hatte Chen weder gegessen noch getrunken, sich aber alle aktuellen Artikel der Sache angesehen, sich durch mehrere spirituelle Blogs gekämpft, die reihenweise das Ende der Welt vorhersagten, und dutzende Telefonate mit Experten geführt. Die Hälfte von denen konnte ihm nichts zum Thema sagen, versuchte aber, ihn im Gespräch gefangen zu halten, um die Aufmerksamkeit zu spüren, die sie sich wünschten. Es war ihm lästig, doch wie so oft verbat es ihm die Höflichkeit, einfach aufzulegen. Eine schlechte Angewohnheit für einen Journalisten, zweifellos, aber es fiel ihm schwer, sie abzuschütteln.
Als er den Zeitungsartikel der ‚Sun’ zurück in die Schachtel legte, spürte Chen die Übelkeit in sich hochsteigen. Er hielt seine Hand in die Waagerechte und sah ihr beim Zittern zu. Der Jutebeutel mit den vielen Kostbarkeiten befand sich immer noch vor dem Krämerladen im Tal, wartete auf ihn, rief nach ihm. Doch dazwischen lag ein erneuter Abstieg hinab in das Dorf – was nach wie vor ein großes Risiko darstellte. Wenn er es wagte, dann müsste er jetzt aufbrechen, oder die Dunkelheit würde ihn einholen – und die Nächte in seinem Wald waren zuweilen ganz besonders unbarmherzig.
„Vielleicht warnt mich Milan ja diesmal wirklich.“ Chen grinste, versuchte sich Mut zu machen, stand auf und hüpfte ein paar Mal auf der Stelle. Es hieß, wenn man nur lang genug grinste, dann käme der Mut und die Freude von allein. Er wusste, dass das nicht stimmte. Man musste nur lange genug allein sein, lange genug einsam sein, dann verlor die Praktik ihre Wirkung. Dann konnte man im Stillen fröhlich vor sich hin grinsen und die Schwärze auf der Seele blieb die Gleiche.
Doch hatte sich seine Situation verändert. Als er vor ein paar Stunden hinab ins Dorf stieg, da war seine größte Furcht, einem von ihnen zu begegnen. Nun war es geschehen. Er hatte es erlebt, viel mehr sogar überlebt. Jetzt, da es ihm nicht mehr gänzlich fremd war, hatte es an Schreckenskraft verloren. Nur das ‚warum’, das stand immer noch im Raum und verlangte nach einer Antwort. Doch wenn er jetzt verhungerte, könnte er eben diese Antwort so oder so nie finden. Also los.
Er ließ den Bogen zurück. Es war pures Glück gewesen, dass er bei der Flucht nicht zu Bruch gegangen war. Lediglich die Pfeile hatte es aus seinem Köcher in die Schlucht geschleudert. Ein weiterer Grund, der ihn hinab in das Tal zwang.
Als er einige Zeit später den Yukon überquerte, fühlte sich sein Leben irgendwie leichter an als sonst. Er musste sich dazu ermahnen, dass es wohl nur Zufall gewesen war, dass er sich nicht darauf verlassen sollte, dass es einem Wunder gleichkam und er, Chen, eine weitere Begegnung sicher nicht überleben würde. Doch aus irgendeinem Grund ließ ihn diese Vorstellung nicht mehr los. Er war unbeschwerter, ein kleines bisschen freier, während er allein den Wald durchquerte und auf die offene Ebene zusteuerte. Spätestens hier kündigte sich an anderen Tagen ein Gefühl der Bedrohung an und die Angst vor dem lauernden Tod begann in ihm aufzusteigen, dass es ihm die Eingeweide zusammenzog. Doch heute blieb sie aus. Oder besser: Sie schien leiser geworden zu sein, wie ein Mensch, der durch einen schweren Vorhang hindurch mit einem sprach.
„Wo warst du bitte vorhin?“, sagte Chen laut zum Himmel, als er den Milan über sich kreisen sah.
„Hast du das wenigstens mitbekommen? Unglaublich, oder?“, Chen lauschte seiner Antwort.
„Ja, ja, du hättest es natürlich besser hinbekommen.“ Er rollte mit den Augen. So sehr er den Vogel auch mochte, konnte er manchmal ein ganz schön eingebildeter Kauz sein. Dennoch war das Gespräch mit ihm erheiternder und angenehmer als mit den Bäumen. Er hatte das eine Weile lang ausprobiert, doch irgendwann fühlte er sich ständig beobachtet und belauscht. Die Bäume waren überall. Milan hingegen war mal da, mal weg. Chen mochte das an ihm.
Die Sache mit der Einsamkeit schien die zu sein, dass sie weder so romantisch noch so grausam ausfiel, wie es gern beschrieben wurde. Erleuchtet hatte sie Chen nicht und auch nicht sein Bewusstsein erweitert, wie es von manchen ausgelobt wurde, doch ebenso wenig hatte sie ihn getötet oder zu einem Monster werden lassen. Der König von Preußen, Friedrich II., hatte einst ein Experiment an zwei Neugeborenen durchführen lassen: Sie wurden den Müttern entrissen und zwei Ammen in Obhut gegeben. Die beiden Frauen sollten sicherstellen, dass es den Kindern an nichts fehlte, doch durften sie nicht mit ihnen reden und ihnen keine unnötigen Berührungen schenken. Beide Kinder starben binnen vier Wochen. Chen erging es nicht so. Er lebte, andererseits, wer wusste schon was noch kommen mochte, immerhin waren es erst vier Jahre.
Während er durch das hohe Gras stapfte, kickte er immer wieder vor sich in die Luft und versuchte dabei, einen der Halmkronen zu erwischen, die an der Spitze der besonders hohen Gräser wuchsen. Wenn er es richtig anstellte, flogen sie nach oben weg, während er sich vorstellte, dass sie Fußbälle waren und er ein Schütze beim Freistoß. Er ging weiter Richtung Schlucht und kam der hinabführenden Treppe immer näher. Da die Klippe eine leichte Biegung machte, würde er die Leiche erst nach circa zwanzig Metern sehen können. Am Rande des Abgrunds angekommen, blickte er noch ein letztes Mal zurück zum Wald, schüttelte dann energisch den Kopf und nahm die oberste Stufe. Wieder Knarzen, wieder Schwindel, wieder griff er instinktiv nach dem Handlauf aus Holz, der neben ihm auf Höhe seines Brustbeins verlief.
Auch wenn der Anblick des Todes damals für alle unweigerlich zur Tagesordnung gehörte, so war es in Chens Fall Jahre her, dass er eine frische – nicht bereits zur braunvertrockneten Mumie gewordene – Leiche gesehen hatte. Vorhin war ihm nicht die Zeit geblieben, sich dieser Bedeutung bewusst zu werden. So tat er jeden Schritt zwar mit Bedacht und Vorsicht, doch gleichsam mit einer sich aufbäumenden, verbotenen Neugierde. Er lief dicht an das Geländer gedrängt und reckte den Hals hoch hinauf, um besser und früher sehen zu können, was sich auf seinem festgelegten Weg befand.
Er war kurz vor der Biegung angelangt, als er noch einmal stehen blieb. Die Zweifel kochten in ihm hoch und begannen ihre Argumente erneut vorzutragen. Vielleicht sollte er doch bis morgen warten, kehrt machen, wie immer im Wald nach Beeren suchen oder auf süßen Wurzeln herumkauen, bis ihm der Bauch nicht mehr so schmerzte. Da gurgelte ihm der Magen und die rechte Wade kündigte ihm einen Krampf an, den er nur abwenden konnte, indem er die Zehen hoch hinauf in Richtung Knie zog. Er brauchte das Essen und dass es hinter dem toten Körper eines Menschen lag, machte die Situation zwar unangenehm, nicht aber gefährlicher. Mit diesem Gedanken bog er entschlossen um die Ecke und sah die Leiche einige Stufen weiter unten liegen. Doch glich der Anblick nicht dem, den er in Erinnerung behalten hatte. Denn über dem Toten kauerte eine Frau. Sie streichelte ihm über die Wange und ihre Augen waren überzogen von verschmutzter, gelber Farbe. Chen blieb stehen. Seine Gedanken, eben noch frei und zuversichtlich, verstummten. Es war, als gieße ihm jemand heißes Quecksilber direkt über die Eingeweide. Während er noch überlegte, ob er sich einfach so leise wie möglich davonstehlen sollte, zuckte der Kopf der Frau nach oben. Ihre Blicke trafen sich. Dann riss sie die Augen weit auf, katapultierte sich hoch und nahm die ersten drei Stufen als eine. Chen wollte sich bewegen, wollte fliehen, konnte es aber nicht, seine Glieder waren in Kraftlosigkeit erstarrt, seine Gedanken träge und zäh. Sie sprintete weiter, kam ihm immer näher. Gleich würden sie beide sterben.